24. März 2013

Kontinuität des Bösen?

 

„Weißt du, warum es seit Ewigkeiten Krieg gibt? Weil er die einfachste Form der Realität ist. Jeder will den Krieg, um klare Fronten zu schaffen.“ (S. 384) In diesen Zeilen verdichtet der Autor Alexis Jenni die ganze Dramatik dessen, was er so lakonisch als „Die französische Kunst des Krieges“ bezeichnet. Er erzählt damit die Geschichte einer Nation, die sich gewissermaßen seit der Revolution von 1789 konstant im Krieg mit sich selbst befindet und die eigene Identität nur durch den Kampf mit dem ‚Anderen‘ zu stiften vermochte. Ganz gleich ob Vietnam (bzw. Indochina), Algerien oder die Migranten in den Banlieues – das ‚Eigene‘, die französische Identität bzw. Gemeinschaft entstand immer in der Abgrenzung gegenüber einem, nicht selten konstruierten, fremden ‚Anderen‘. Was unter den Begriffen „Inklusion“ und „Exklusion“ bereits zum geisteswissenschaftlichen Kanon gehört, wird von Jenni am Beispiel eines Mannes neu erzählt, in dessen Biografie sich diese Konflikte in emblematischer Form widerspiegeln, sich immer wieder in anderer Gestalt anordnen und bis in die Gegenwart verfolgt werden können. Im Zentrum des Romans steht Victorien Salagnon, den Jenni als Zeitzeugen selbst befragte und dessen Geschichte er nun geschrieben hat. Salagnon ist der Prototyp des französischen Kriegs, ein Überlebenskünstler und Perfektionist der Kriegskunst: Er war Mitglied der Résistance, hat sich als Legionär durch den Dschungel von Vietnam gekämpft und als Fallschirmspringer in Algerien gedient.

 

Auf knapp 760 Seiten verfolgt Jenni seinen Protagonisten durch diese schier endlos erscheinende Folge von Kriegen, in denen Frankreich stets „bis zu den Ellenbogen im Blut“ (S. 742) stand, meist jedoch nicht nur gegen seine Feinde, sondern vor allem gegen sich selbst und die eigene Geschichte gekämpft hat. Es ging dabei weniger um das Gewinnen, sondern vielmehr darum, mit jedem weiteren Krieg „die Spuren des vorherigen zu tilgen“ (S. 566) und mit neuen Toten die alten vergessen zu machen. Die französische Identität ist damit eine Identität der Krise und ihre Kriegskunst besteht darin, diese Gemeinschaft immer wieder auf neue zu beschwören bzw. zu retten. In sich abwechselnden Roman- und Kommentarkapiteln berichtet Jenni alternierend aus der Biografie Salagnons und aus der Erzählperspektive seiner eigenen Gegenwart. An vielen Stellen beginnen sich diese Ebenen jedoch ineinander zu verschieben. Jenni schreibt über seine Begegnungen mit dem feinfühligen Legionär, der nicht nur gemordet, sondern auch gemalt hat, aber auch über die Unruhen in den Pariser Vororten, den Krawallen und der brutalen Gewalt gegen die jungen Migranten, die nun mehr zum Prototyp des ‚Anderen’ avanciert sind. Der Autor versucht sich selbst in diesem Chaos zu verorten und seine eigene Identität in Relation zu sich, zu Salagnon und Frankreich zu ergründen.

 

„Die französische Kunst des Krieges“ ändert ihr Gesicht beständig, und während die Armee in Vietnam ihren Feind noch in den Tiefen des asiatischen Dschungels verfolgte, so suchte sie ihn in Algerien „im Dschungel der Körper“ (S. 609), die mittels Folter durchkämmt und bekämpft wurden. Trotz dieser Verschiebungen bleiben die grundlegenden Strukturen der Grenzziehungen und Ausschließungen zwischen dem „wir“ und dem abwertenden „sie“ bestehen, ziehen sich mit einer Blutspur durch das Jahrhundert und über den gesamten Globus. Mit Charles de Gaulle wurde 1958 dann sogar ein Soldat an die Spitze des Staates gestellt, den Jenni dennoch mit voller Bewunderung den „großen Epenschreiber“ (S. 670) nennt, der mit seinen Memoiren auch die Geschichte Frankreichs neu geschrieben habe. De Gaulle schreibt dabei in gleich zweierlei Form Geschichte: mit der Feder und dem Schwert. Nur er kenne das Ende der französischen Erzählung, die bis in unsere Gegenwart weitergeschrieben wird und in den brennenden Autowracks von Paris bedrohlich wiederkehrt.

 

2011 ist „Die französische Kunst des Krieges“ mit dem größten französischen Literaturpreis „Prix Goncourt“ ausgezeichnet worden. Keine Frage, das Buch ist glänzend geschrieben, als Erstling ein Meisterwerk und erinnert mit seinen Kommentarkapiteln stilistisch entfernt an Laurent Binets ebenfalls ausgezeichneten Roman „HHhH“ (Prix Goncourt du premier roman, 2010). Dass Frankreich mit dieser Auszeichnung jedoch seine eigene Erinnerungskultur dekonstruiert, mag dennoch erstaunen – immerhin greift Jenni die Grand Nation in den Grundfesten ihrer Identität an: Ganz gleich ob Résistance gegen Collaboration, 68er gegen die Polizei oder heute die Jugendlichen aus den Banlieues gegen den Ausnahmezustand – Frankreich ist durch ein tiefes Zerwürfnis gezeichnet, existiert nicht als Kollektivsingular, sondern zweifach, als unversöhnliche Deux France. Diesen inneren Krieg hat Frankreich in die Welt hinausgetragen, hat in der Ferne Unordnung gestiftet, um damit die eigene Nation zu befrieden. Ob François Hollandes Engagement in Mali vielleicht auch der Verdrängung dieser häuslichen Konflikte gilt und weniger humanitär ist als verkündet, bleibt spekulativ, zeigt aber, wie aktuell ist Jennis Erzählung ist. „Die französische Kunst des Krieges“ ist ein historischer Roman, aber dennoch kein Buch über die Vergangenheit, sondern zeigt die kolonialen Wurzeln gegenwärtiger Sicherheits- und Außenpolitik. Damit ist dieser Roman im besten Sinne das, was man mit Foucault als eine „Genealogie“ der französischen Gegenwart beschreiben könnte.

 

Patrick Kilian

 

Alexis Jenni: Die französische Kunst des Krieges, München 2012 (Luchterhand Literaturverlag), 766 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag; aus dem Französischen von Uli Wittmann

 

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