7. März 2013

Der Andere

 

Von Jörn Birkholz

 

»Wollen Sie springen?« 

»Was geht Sie das an?«

»Nichts. Ich frage ja nur.«

»Eine etwas indiskrete Frage, finden Sie nicht?«

»Ich kam hier nur gerade lang und sah Sie dort stehen …«

»Ja und? Darf man hier nicht stehen – Ist doch ne traumhafte Aussicht.«

»Sie wirken nicht wie jemand, der die Aussicht bewundert.«

Der Eine dreht sich kurz um.

»Und Sie wirken nicht wie jemand, der allzu oft fremde Leute anquatscht.«

»Da haben Sie recht. Ich spreche eigentlich überhaupt recht selten.«

»Heute geht’s anscheinend.«

»Warum wollen Sie springen?“

»Wie kommen Sie eigentlich verdammt noch mal darauf, dass ich springen will?«

»Intuition.«

»Intuition!? Schieben Sie sich Ihre Intuition sonst wohin. Selten sprechen, aber Intuition haben wollen.«

»Wenn man die anderen sprechen lässt, versteht man meist auch mehr als die anderen … Aber was hat das mit Intuition zu tun?«

»Was? Nichts natürlich. Hauen Sie endlich ab!«

»Sehr gerne, aber … überlegen Sie sich das gut.«

»Was soll ich mir überlegen?«

»Das eben.«

»Hören Sie, hat Sie irgendjemand engagiert, mir auf die Nerven zu gehen?«

»Wie gesagt, ich kam hier gerade lang und … sah Sie dort stehen … und dieses Bild wirkte ein wenig seltsam auf mich.«

»Ach, es wirkte seltsam auf Sie … das tut mir leid.«

»Braucht es nicht.«

»Sagen Sie mal, sind Sie für Ironie eigentlich völlig unempfänglich?«

»Heutzutage ist fast jeder ironisch. Das langweilt auf Dauer.«

»Apropos Bild; schauen Sie sich diese Aussicht an - das wäre das letzte Bild - ein verlockender Gedanke, finden Sie nicht?«

»Es wäre nicht das Echte.«

»Was?«

»Dinge nur von oben zu betrachten finde ich auch langweilig.«

»Ach, verschwinden Sie endlich, Sie langweilen mich.«

»Was ist Ihnen passiert? Hat Sie ganz klassisch Ihre Frau verlassen, oder haben Sie den Job verloren?«

»Was für ein Hobbypsychologe sind Sie denn? … Ich habe einen überaus lukrativen Job, muss kaum was machen und verdiene nen Schweine Geld. Und Frauen verlassen mich regelmäßig. Derzeit habe ich ne Zwanzigjährige. Ein Traum, jedenfalls, solange nicht zu viel gesprochen wird … Und jetzt gehen Sie!«

»Würde es Sie sehr stören, wenn ich vorher noch eine rauche?«

»Schon, aber ich kann es Ihnen ja schlecht verbieten … und wenn Sie schon dabei sind, dann geben Sie mir wenigstens auch eine …«

»Gern.«

Der Andere gibt dem Einen eine Zigarette und Feuer.

»Hab seit drei Jahren nicht mehr geraucht … Ein Genuss, wie konnte ich das nur aufgeben?«

»Sie machen mir ein schlechtes Gewissen.«

»Wegen der Kippe? Jetzt übertreiben Sie mal nicht.«

»Warum wollen Sie springen?«

»Wegen Ihnen.«

»Irgendwas ist doch mit Ihnen los?«

»Irgendwas ist doch mit jedem los.«

»Ja, aber nicht jeder will springen.«

»Ach, meinen Sie?«

»Ja.«

»Nur aus Feigheit.«

»Feigheit vorm Tod?«

»Ne, vorm Schmerz … schrieb schon Dostojewski.«

»Wovor haben Sie Angst?«

»Dass Sie hier nie abhauen.«

»Keine Sorge, ich werde gehen … Aber erst wenn Sie mir versprechen, dass Sie nicht springen werden.«

»Versprochen.«

»Ich meine es ernst.«

»Ich nicht … Und jetzt hauen Sie endlich ab.«

»Vor zwei Monaten ist meine Frau gestorben.«

»Und was geht mich das an?«

»Nichts, ich erzähle es ja nur.«

»Ich wollte es gar nicht wissen … Falls es Ihnen noch nicht aufgegangen sein sollte - wir kennen uns nicht - also was interessiert mich dann ihre verdammte Frau? In Afrika stirbt alle drei Sekunden ein Kind, das macht etwa hundert tote Kinder, während wir hier in Ruhe eine rauchen.«

Er wirft seine halbaufgerauchte Zigarette in den Abgrund.

»Seit wann sind Sie so verbittert?«

»Verbittert? Wer fing denn hier an von seiner toten Frau zu faseln?«

»Sie haben recht.«

»Woran ist Sie gestorben?«

»Das Übliche.«

»Krebs?«

»Ja, kurz und nicht gerade schmerzlos.«

»Scheiße.«

»Sie sagen es … Ich habe sie wirklich geliebt.«

»Schön für Sie. Trotzdem wäre ich jetzt gerne allein.«

Der Andere tritt an den Abgrund.

»Sie haben recht … es ist eine wirklich schöne Aussicht … ich lasse Sie jetzt allein.«

Noch mit der Zigarette in der Hand springt er. Der Eine steht eine Weile ungläubig da, dann geht er, wie er gekommen ist.

 

Jörn BIRKHOLZ, geboren 1972 in Bremen, Historiker. Veröffentlicht regelmäßig Texte (Prosa) in Literaturzeitschriften (u. a. im sterz, Lichtungen, erostepost) Publikation: „Deplatziert“ 2009, dritte Auflage 2011. Webseite: deplatziert.tumblr.com