3. März 2013

Jedes Gedicht nur 50 Cent

 

von Marc Mrosk

 

Manchmal fragte ich mich, was sich der liebe Gott gedacht hat, als er Tener Spuckrogg Vilster erschuf. Was wollte er der Welt mit diesem Menschen beweisen? Wahrscheinlich nur, dass man auch verrückt sein kann, ohne dabei seine Mitmenschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Tener machte niemandem Angst. Er machte nur viele nachdenklich, mich eingeschlossen. Tener dachte als Jugendlicher, im Alter von sechszehn, ernsthaft darüber nach, auf einer Wolke zu leben. Tener und ich diskutierten diese Idee manchmal, und ich wusste immer nicht so recht, ob ich es ihm ausreden oder ihn darin bestärken sollte. Tener war ein besonderer Mensch. Gott wollte uns wahrscheinlich durch ihn zeigen, dass der Mut zum Wahnsinn gar nicht mal etwas sündhaftes sein muss. Verrückt sein ist gut, Freunde. Schaut euch mal den Tener an!

Es war an einem Freitag im Sommer letzten Jahres. Tener kam über die Straße gelaufen und blieb vor mir völlig außer Atem stehen.

»Mensch, Tener, wo kommst du denn her?«

Er stützte sich auf seine Knie ab, während ihm die Schweißperlen von der Stirn tropften. Ich saß auf der Bank, genoss meinen Feierabend mit einem kühlen Bier und grübelte hier und da über eine unterhaltsame Geschichte nach, an der ich später arbeiten könnte. 

»Willst du ein Gedicht kaufen?«, fragte mich Tener und richtete sich wieder auf. Er trug ein weißes Hemd und eine rote Krawatte, weiße Slipper und eine kurze Bermuda-Shorts. 

»Du verkaufst Gedichte?«

»Ja, 50 Cent pro Stück.«

Ich nahm einen Schluck aus der Flasche und fing an, über sein Angebot nachzudenken.

»Was für Gedichte verkaufst du?«

»Alles, was du willst: Liebesgedichte, Gedichte über das Leben, hoffnungsvolle Gedichte, traurige Gedichte, Gedichte über den Abschied oder von mir aus auch über dein Haustier.«

»Okay, Tener. Ich nehme eins.«

Auch wenn man nur selten verstand, was in seinem Kopf vorging, hatte er sich bei den meisten Leuten in der Nachbarschaft durch seine charmante Psychose so beliebt gemacht, dass er nur selten wirklich bösartigem Spott ausgesetzt war. Manchmal, so wie in diesem Fall, verdiente er sich sogar durch seine, zum Teil unorthodoxen Geschäftsideen, den ein oder anderen Cent oder Euro dazu. Vor ein paar Jahren hatte er mal die Idee, mit einer Kuh von Haus zu Haus zu gehen und den Leuten frisch gezapfte Milch anzubieten. Er hatte sogar schon mit einigen Bauern aus dem Umkreis gesprochen, aber daraus wurde dann doch nichts. Schade, Tener. Ich hätte dir ein paar Liter abgekauft. 

Ich gab ihm einen Euro und ließ mir ein »Gedicht über das Leben« geben und eins, das in die Kategorie »hoffnungsvoll« fiel. 

Hier das Gedicht über das Leben:

Das Leben ist stets ein kleiner Weg

nur unsere Füße sind manchmal so groß

Das alles in sich zusammenfällt

deshalb bleib jetzt einfach zu Hause

leg die Beine hoch und schau Fernsehen

bist du alt und grau bist und nur

noch Staub im Oberstübchen hast

von Tener Spuckrogg Vilster

Und noch das Gedicht über die Hoffnung:

Keine Angst, mein Freund, keine Angst.

Morgen wird der schönste Tag in

deinem Leben und falls nicht,

ist da ja immer noch gestern.

von Tener Spuckrogg Vilster

»Gefällt mir gut, Tener. Echt klasse. Hast dir den Euro wirklich verdient.«

»Habe auch welche versucht vorm Arbeitsamt zu verkaufen, doch das lief gar nicht gut. Die haben alle kein Geld. Wirtschaftskrise und so.«

»Ich weiß. Die Zeiten sind hart.«

»Na ja, ich komm morgen mal wieder vorbei, dann kannst du dir ja noch mal ein paar Gedichte über die Hoffnung kaufen.«

»Ja, klar. Das kann man immer gebrauchen. Gerade heutzutage.«

Tener nickte und lächelte wie ein kleines Kind, dem man gerade einen Wunsch erfüllt hat. Tener war glücklich, arbeitslos und neuerdings Verkäufer eigenhändig geschriebener Lyrik. Punkt.

»Wie viele hast du davon schon verkauft, Tener?«

»Du bist der erste Käufer.«

»Das freut mich.«

Er grinste noch einmal zum Abschied und ließ mich dann auf meiner Bank zurück. Ich trank aus, verstaute die beiden Blätter in meiner Tasche und begab mich auf den Nachhauseweg.

Am nächsten Tag stand er an der stark befahrenen Kreuzung, dort wo unser Wohnblock abschloss, und hatte sich ein großes weißes Schild gebastelt mit der Aufschrift: Jedes Gedicht nur 50 Cent. Ich war gerade auf dem Weg zum Bäcker und machte dann aber kurz bei Tener halt, um ihm einen guten Morgen zu wünschen. Er lächelte mich an, wie immer in seiner aufgeregten, kindlichen Art und deutete sofort auf sein Schild.

»Ja, Tener. Ich hab’s schon gesehen. Und, hilft es?«

»Die meisten Leute zeigen nur mit dem Finger auf mich und lachen sich tot. Einer hat vorhin das Fenster runtergekurbelt und mich angeschrieen, ich solle doch nach Hause gehen und mir ins Müsli wichsen.«

»Na, mach dir mal keine Sorgen, das wird schon.«

Ich verabschiedete mich, setzte meinen Gang zum Bäcker fort und kaufte mir meine Brötchen und die Tageszeitung. Zu Hause angekommen, schlug ich gleich mal die Stellenanzeigen auf und wie immer war die Auswahl an einigermaßen verheißungsvollen Jobs eher Mangelware. Vielleicht sollte ich es so wie Tener machen. Ich drucke meine kurzen Prosastücke aus und renne damit durch die Innenstadt und verhökere jede Kurzgeschichte für einen Euro. Wenn Tener schon 50 Cent für ein Gedicht nimmt, dann werde ich ja wohl das Doppelte für eine Kurzgeschichte nehmen dürfen. Aber wahrscheinlich würde mir keiner mein Zeug abkaufen. Ich hatte keinen Namen und auch nichts vorzuweisen. Tener war wenigstens noch verrückt. Ich war nicht mal das. Alles eine verdammte Scheiße. 

Am nächsten Tag, nach meinem Bewerbungsgespräch bei einer Zeitarbeitsfirma, traf ich Tener in unserer Nachbarschaft wieder. Er saß auf der Bank beim Spielplatz, hatte ein paar Zettel in der Hand und blickte mit hängendem Kopf trübselig zu Boden. Ich ging rüber zu ihm und erkundigte mich, ob irgendetwas Schlimmes passiert sei und Tener erzählte mir, dass er mittlerweile immer noch kein weiteres Gedicht losgeworden sei. 

»Keiner interessiert sich für meine Gedichte«, sagte er und warf seine Zettel von sich. »Ist doch alles Mist«, fuhr er fort. »Ich sollte einfach etwas anderes versuchen.«

Ich riet ihm dazu, sich zu gedulden und sich erst mal einen Job zu suchen, der ihm ein bisschen Geld einbringt, aber davon wollte er nichts hören.

»Die Arbeit hat meine Eltern umgebracht«, sagte er. »Und wahrscheinlich war sie auch schon für das Ableben meiner Großeltern verantwortlich«, fügte er hinzu. 

Er überlegte kurz und legte dann nach: »Nein, nein, das ist es nicht, was mich glücklich machen würde. Du arbeitest dein ganzes Leben und eines Morgens wachst du einfach nicht mehr auf und das soll’s dann gewesen sein? Ach, draufgeschissen.«

Während Tener so dasaß und sich über die Arbeitswelt beklagte, warf ich einen Blick auf seine Zettel, die vor der Bank auf dem sandigen Boden verstreut lagen. Hier und dort konnte ich ein paar Verse rausfischen.

Eins, zwei, drei

lass mich rein

vier, fünf, sechs

lass mich hier

sieben, acht, neun

begrabe mich

ein kleiner Mann ist schön

wenn er zwischen deinen Beinen steht

Liebe, Liebe, Liebe

besser als 

Hiebe, Hiebe, Hiebe

»Versuch’s einfach weiter, Tener. Mal schauen, was daraus wird.«

Ich ging nach Hause und öffnete eine Flasche Bier. Schließlich gab es etwas zu feiern. Ich hatte endlich wieder Arbeit gefunden. Wie schön es doch mal wieder war, für sechs Euro brutto die Stunde sich den Rücken kaputtzumachen. Wunderbar. Die Zeitarbeit macht so was möglich. Moderner Sklavenhandel mit Büros und all dem Mist. Winzige einfältige Logos auf Plastikkugelschreiberhülsen und auch das dazugehörige Briefpapier und dann dieses schreckliche Grinsen des Menschen hinter dem Schreibtisch. Hinter diesem Grinsen dann auch noch dieses teuflische Logo, allerdings einige Nummern größer, an der Wand. Mein Bier war schnell geleert, und ich überlegte, mir etwas zu kochen. Doch es war nichts da.

Wenn man lange genug in seinen Kühlschrank schaut, bemerkt man nach einer Weile, wie er mit seinen kalten, gierigen Augen zurückblickt, um dich und dein Durchhaltevermögen zu testen. Mein Kühlschrank blickte mir ganz tief in die Augen, durchbohrte meinen Verstand mit hinterhältigem Kalkül, um mich dann den Tränen nahe und mit leerem Magen auf dem Küchenboden liegen zu sehen. Ein Monstrum. Ein Spiegelbild deines Lebens. Seine Augen waren todbringend und sein Korpus vollkommen leer. Alles, was einst noch war, war nun leer. Alles aufgebraucht. Alles konsumiert, weggefressen, runtergeschluckt und zerstört. Ach, zur Hölle mit diesem ganzen Fraß. 

Es klingelte an der Tür. Ich stellte die leere Flasche zu den anderen beiden Pfandflaschen (insgesamt vierundzwanzig Cent) und ging zur Wohnungstür. Wer das wohl sein konnte?

»Ich glaube, ich hab jetzt wieder den Dreh raus«, sagte Tener und setzte ein breites Lächeln auf. »Tut mir leid, dass ich dich so einfach überfalle, aber das musst du dir anhören.«

Ich ließ ihn eintreten, in der Hand hielt er wieder ein Pappschild, auf dem etwas mit schwarzer Farbe geschrieben stand. Wir machten es uns im Wohnzimmer bequem und er lehnte das Pappschild so an mein Sofa, dass ich den Text lesen konnte: Hier kriegt ihr alles, was ihr wollt!

»Ich würde dir ja gerne was zu trinken anbieten, aber ich habe nichts mehr. Unglaublich, aber wahr. Ich bin völlig matt. Salz habe ich noch. Das könnten wir uns ja auf die Handflächen streuen und drüberlecken.« 

»Nein, vielen Dank. Hör dir das an und dann hör dir an, was ich dir zu erzählen habe.«

Er war ganz aus dem Häuschen, zog einen Zettel aus der Gesäßtasche und legte los:

»Im Teich habe ich gebadet

mit einem Tintenfisch an meinen Hoden getanzt

und dann durch den Druck im Darm

einen Taifun an Land gesetzt

und nun schaut euch dieses Chaos an

die Handtücher am Ufer sind alle nass geworden

und meine Wichse im Müsli lebt noch«

Tener grinste mich an und wedelte mit dem Fetzen Papier in der Hand umher. Er sprang wieder auf und zog hektisch ein paar Runden um den Tisch. Er murmelte etwas dabei, was ich aber nicht verstehen konnte. Dann schaute er zu mir rüber und seine Worte wurden wieder verständlicher: »Habe gerade drei davon verkauft und habe sogar noch zwei Anfragen wegen Gedichten, die ich noch nicht mal geschrieben habe. Ich werde mittlerweile schon gebucht!«

Er ließ sich wieder auf den Sessel fallen und schaute mit Stolz erfüllten Augen auf seine Zeilen, die mit schlecht gespitztem Bleistift auf dem Zettel geschrieben standen. So unleserlich, dass ich nicht einmal ein Wort daraus lesen konnte. 

»Das ist ja klasse, Tener.«

»Ich weiß. Das hat mich auch auf eine Idee gebracht. Ich meine, weil du doch auch eine anständige Arbeit brauchst und Kohle verdienen willst. Hättest du nicht Lust, mein Agent zu werden? Jeder Schriftsteller hat doch einen Agenten.«

Ich schluckte einfach nur und wollte ihn nicht sofort in seiner Euphorie bremsen. Mit einem Schulterzucken tat ich die Sache ab und verschwand für eine Weile in die Küche, um so zu tun, als würde ich Kaffee kochen. Doch nur wenige Sekunden später stand er auch schon im Türrahmen und sah mich nachdenklich am Küchentisch sitzen. Seltsamerweise fing ich wirklich an, ernsthaft über die Sache nachzudenken. 

»Ist alles okay?«, fragte er, und ich sagte ihm, dass ich mir Gedanken über sein Angebot mache. 

»Mach dir keine Sorgen mehr. Habe in weniger als einer Viertelstunde 1,50 Euro verdient und das nur mit meinen Gedichten. Einfach auf der Straße.«

Er holte wieder sein Pappschild aus dem Wohnzimmer und hielt es hoch. »Mit dem Ding hier. Die Leute springen da total drauf an. Ich biete ihnen einen ganz exklusiven Service an. Sie bekommen, was sie wollen. Die alte Schäfer will auch ein Gedicht von mir. Ich musste ihr nur die ganze Hornhaut von den Füßen kratzen, aber später will sie auf jeden Fall noch einen Text. Das Thema heißt: Schamlos.« Er zwinkerte mir zu und klopfte mir auf die Schulter. 

Ich lächelte und beglückwünschte ihn zu seinem Geschäft, doch sein Angebot, als sein Agent tätig zu werden, musste ich vorerst abschlagen. Er war etwas enttäuscht, aber ließ dadurch sich nicht in seinem Unterfangen beirren. Er liebte und genoss seinen Erfolg in vollen Zügen, und das war auch gut so. Ich beneidete ihn richtig, dass er sich durch so einen winzigen Höhenflug dermaßen Hoffnung machen konnte. Es war wunderbar. 

»Aber Tener …«

»Ja?«

»Lass dich von diesen Heuschrecken da draußen nicht ausnutzen?«

Er setzte einfach nur wieder sein breites Grinsen auf und beugte sich vor, als wolle er mir ein Geheimnis verraten. 

»Die denken alle, die könnten mit mir machen, was sie wollen, aber so ist es nicht. Weißt du was? Ich schreib die meisten Geschichten beim Kacken.«

Er brüllte los vor Lachen und drückte sich sein Gedicht ans Herz. Ich wünschte ihm weiterhin noch viel Glück und dann zog er mit seinem Schild wieder ab. Durchs Küchenfenster sah ich ihm noch eine Weile nach, wie er mit dem Zettel in der einen und dem Pappschild in der anderen die Straße hinunterschlenderte. Wie ein Schuljunge, der vorzeitig durch Hitzefrei den Heimweg antreten durfte und nun seine verfrühte Freiheit feierte. Er zelebrierte jeden seiner Schritte. Ich nahm mir vor, noch mal über die Rolle als sein Agent nachzudenken. Ich machte mir so meine Gedanken. Es würde bestimmt nicht sonderlich laufen, aber was hatte in letzter Zeit schon großartig geklappt? Ich sollte mir wieder ein Herz nehmen und an die Lächerlichkeiten des Lebens glauben.

»O Tener, die Leute geben dir nur diese lächerlichen Almosen, weil sie dich für einen Schwachsinnigen halten.«

Ich lachte und begann mein letztes Kleingeld, das hier und dort noch auf Tischen und Regalen lag, zu zählen. Ich wollte mir zur Feier des Tages ein schönes kühles Bier vom Supermarkt gönnen. Bald hätte ich einen neuen Job und könnte die Zeitarbeit in den Wind schießen. Ich wäre dann Agent. Agent von Tener Spuckrogg Vilster, und der Preis für jedes Gedicht würde stets so gering bleiben, wie er war. Jedes Gedicht kostet nur 50 Cent. Nur 50 Cent, liebe Freunde. 50 Cent. Ihr fragt: »Was für Gedichte?«

Alles, was ihr wollt.