10. Februar 2013

EINE ABGRÜNDIGE STADTFÜHRUNG


„Ein Historiker ist eine Art Detektiv auf der Jagd nach dem Faktum, dem nahen oder dem entfernten, das einer Serie von Ereignissen, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, ihre Verbindung, ihre Rechtfertigung, ihre Logik verleiht.“ (Seite 244)

Mit diesem Satz beschreibt Jacques Yonnet die Arbeit an seinem Buch „Rue des Maléfices“, jener „geheimen Chronik einer Stadt“, die den Leser durch das Paris unter deutscher Besatzung führt. Der Roman ist dabei in vielerlei Hinsicht eine Suche nach einer verborgenen Logik – nach Gründen für die schmachvolle Niederlage, nach alten Legenden und Yonnets eigener Rolle in diesem Gewirr von Straßen, Personen und Geschichten. Der Autor begreift sich dabei eher als Zeugen, denn als Erzähler. Er vermischt Biografisches mit Fiktionalem, Mystisches mit Realem zu einem nicht mehr zu trennenden Amalgam. Die Besatzungszeit von 1940 bis 1944 gehört zu den traumatischsten Ereignissen der französischen Geschichte: Sie wurde verdrängt, verschwiegen und in Form der Résistance zum Nationalmythos verklärt. „Rue des Maléfices“ reflektiert diesen Prozess und ist ein frühes und gleichsam beunruhigendes Dokument der schwierigen Aufarbeitung nach der Befreiung. Erstmals 1954 unter dem Titel „Enchantements sur Paris“ veröffentlicht, erzählt es die Geschichte dessen, was man heute unter der Chiffre „Problemviertel“ fassen würde: Kneipen, verrauchte Bars, Lumpensammler und Prostituierte bilden die Kulisse und das Personal dieser abgründigen Stadtführung. Der Nazi-Terror ist hier oft nur dunkel präsent, steht jedoch als Drohkulisse hinter jeder Zeile.

 

 

Jacques Yonnet schreibt sich in seinen Roman selbst ein. Er verschmilzt mit dem literarischen Ich und führt den Leser durch die engen Gassen und langen Nächte einer Stadt, die nach dem Krieg nicht mehr dieselbe sein sollte. Er selbst wurde 1940 während der Zeit, die später als „seltsame Niederlage“ bekannt wurde, von den Nazis gefangen genommen, konnte jedoch flüchten und schloss sich dem Widerstand an. Er tötete einen Gestapo-Spitzel, wofür er nach dem Krieg das „croix de guerre“ erhielt, verweigert sich aber jeder Heroisierung der eignen Person. Während des Kriegs reist er unbemerkt für einige Zeit nach London, um von dort aus den Widerstand zu koordinieren, stellt aus dieser Distanz aber auch fest, dass „Paris ein bisschen Hure ist“. Gerade in den 1950er Jahren, in denen das Buch erstmals veröffentlicht wurde und der Résistance-Kult – samt der gerade erst überstandenen Épuration – jede Form der Kollaboration und des abwartenden Erduldens vergessen zu machen versuchte, war dies gewiss kein banales Statement. Auch die Befreiung ist für Yonnet mehr Katastrophe als Heldenstück. Trotz allem hat er aber auch viel Bewunderung für seine Stadt und ihre Bewohner. Er berichtet von François Villon – den er verehrt – und zahlreichen, mehr oder weniger glaubhaften Legenden, die er in Gesprächen aufschnappt. Für eine Neuauflage im Jahre 1966 hat er den Roman um ein abschließendes Kapitel ergänzt, mit dem er noch einmal zurückschaut und Bilanz zieht.

 

 

Neben den zahlreichen Personen, die im Buch größere oder kleinere Rollen spielen, ist Paris die eigentliche Protagonistin. Gleich zu Beginn schreibt Yonnet: „Eine Stadt ist ganz Frau“ (S. 6), und personifiziert Paris, deren Straßen nun metaphorisch zu Adern werden, auf denen sich der Autor treiben lassen kann. Das ‚treiben lassen‘ wird dabei zum Topos und bestimmt die Erzählstruktur. Assoziativ streift der Autor durch die Straßen und die Cafés; er lässt sich ablenken, schweift ab, ufert aus. Er vollzieht damit narrativ jene Bewegung nach, die die Situationisten ihrerseits mit dem Begriff „Dérive“ als ziellose und spontane Stadterkundung beschrieben haben. Mit dem Satz „Ebenso wie eine Stadt lebt ein Buch aus sich selbst heraus“ (S. 351) reflektiert und übernimmt Yonnet diese Technik, mit der er den Leser durch das undurchsichtige Netz seiner Geschichte treibt. Inhalt und Form schaukeln sich dabei synergetisch in einen Rauschzustand hinein. Wie im Taumel stolpert der Leser mit Yonnet durch die Seiten – die Besatzung macht wahnsinnig, schreibt er.

 

 

Begleitet wird „Rue des Maléfices“ von zahlreichen Schwarz-weiß-Zeichnungen des Autors, auf denen die Orte und Personen der Geschichte mit mal gröberen, mal feineren Strichen illustriert sind. Sie sind düster, wirken schmutzig und verleihen dem Abstieg in den Keller dieser Stadt eine unheimliche Atmosphäre.

 

Im Anschluss an den Roman folgt das Nachwort von Karin Uttendörfer, die das Werk übersetzt hat. Danach folgen ein beeindruckend gut recherchiertes Anmerkungsverzeichnis, Ortsangaben zu den Zeichnungen sowie ein Glossar. Gerade dieser editorische Apparat ermöglicht auch eine wissenschaftliche Lektüre des Buchs, das Grundlage einer Mentalitäts- bzw. Alltagsgeschichte der Besatzungszeit sein kann und einen Blick von ‚unten‘ auf jene Ereignisse erlaubt, die von ‚oben‘ betrachtet so unvorstellbar erscheinen. Man kann „Rue des Maléfices“ auch als eine abgründige Fortsetzung von Ernest Hemingways „Paris – Ein Fest fürs Leben“ lesen, in dem dieser seine Erlebnisse in den Bars und Kneipen der 1920er Jahren beschrieben hatte. In Yonnets Roman scheinen dieselben Gestalten immer noch auf ihren Plätzen am Tresen zu sitzen und immer noch zu trinken – mittlerweile jedoch eher aus Verzweiflung.

 

Patrick Kilian

 

Jacques Yonnet: Rue des Maléfices. Straße der Verwünschungen, Berlin 2012 (Matthes & Seitz Berlin), 445 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag; Aus dem Französischen, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Karin Uttendörfer

 

 

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