1. Februar 2013

Eine seltsame Freiheit

 

Nicht autarke Gebilde muss man alimentieren, sonst gehen sie zugrunde. Das berühmteste Beispiel eines solchen Falls gab in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Inselstadt Westberlin ab, die in der Zeit von 1961 bis 1989 unter schwerster geografischer Isolation von der Stiefmutter BRD und einigen weiteren Leihmüttern litt. Zwei wichtige Ströme versorgten die seltsame Stadt: monetäre und imaginäre. Der erste musste konstant aufrechterhalten werden; der zweite erfolgte eher in einer Art Impfung. Diese geschah gegen Ende der 70er Jahre. Nachdem es mit dem linken Aufstand nichts geworden war, musste sich die aufgestaute revolutionäre Energie in andere Kanäle ergießen. Da es historisch nicht mehr nach oben weitergehen konnte, blieb nur noch der Weg nach unten. Mit all den sensorischen Begleiterscheinungen, die das Abgrundwort punk bestens bündelt.

 

Während also mit den neuen Außenposten Neue Nationalgalerie und Philharmonie die offizielle Kultur dem Inselbürger das beruhigende Gefühl gab, nicht allein zu sein und mit Bedeutsamkeit versorgt zu werden, fing ein neu sich bildendes, durch den englischen Furor angestoßenes unterkulturelles Milieu an, in verschiedensten Formen Gegenprogramme aufzustellen: Kneipen, Kinos, Dosenbier, ungewohnte Tanzschritte, geografische Forschungsinitiativen im Inselreich, Festivals des Unerwarteten, Dresscodes, Kleinstzooabteilungen, eigene Zugangsregelwerke, Stadtverschönerungskorrekturen, Geistbereicherungspublikationen, Endlosdraperien des Horrors, auditive Zumutungen, eigeninitiative Hausinstandsetzungen, um nur einige Stationen und Richtungen der unterkulturellen Bahn zu nennen.

 

Eine eigene Version dieser Situation Westberlin liefert mit dem vorliegenden Fundus-Band der in Westdeutschland geborene und seit 1979 in Westberlin lebende Wolfgang Müller. Die halbe Stadt war groß genug, sie nicht anderen zu überlassen, aber auch klein genug, um sich nicht in ihr zu verlieren. Müller bereist das letzte Dezennium der geteilten Stadt nicht als unbeteiligter, aber doch irgendwie interessierter Tourist des Absonderlichen, er ist vielmehr mittendrin, er war vielleicht sogar der heimliche Mitorganisator dieser Gegenwelt, ein Weichensteller mit seiner Gruppe Die tödliche Doris, deren quasi-polizeiliche Funktion darin bestehen mochte zu verhindern, dass die Dinge sich zu arg im Kreise drehten. Es ist ja genau diese Meta-Option, die jeden veritablen Künstler oder Anti-Künstler umtreiben muss, will er nicht einfach nur aufgerieben werden im Betrieb der Ober- oder Unterklasse: Sowohl dabei sein als auch die (richtige) Richtung bestimmen. Das ist auf der einen Seite verständlich als Maßgabe, auf der anderen Seite zeigt sich darin eine Unzeitgemäßheit, die es so vielleicht nur in diesem überkünstlichen Gebilde Westberlin geben konnte und möglicherweise – unterstützt durch die übergeordnete Polarisierung im Politischen (Ost-West) – als Magnetnadelambition auftreten wollte. Denn auch im Keller der Kultur kann es ein Fehler sein, das falsche Bier zu trinken.

 

Dieter Wenk (1-13)

 

Wolfgang Müller: Subkultur Westberlin 1979–1989. Freizeit, Hamburg 2013 (Philo Fine Arts, Fundus 203)

 

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