24. Januar 2013

Schwere Kost

 

15 Jahre. So lange benötigte Anders Nilsen, um Große Fragen zu realisieren. Der Autor begann sein gut 600 Seiten starkes Opus Magnum bereits 1996 und vollendete es 2011. Das ist ein langer Zeitraum, in dem viel passiert ist. Die Erde hat weitergedreht und verändert. Die Frage lautet also: Überlebt eine Geschichte eine derart lange Zeit, ohne an Aktualität, Innovation und Esprit einzubüßen? Um die Antwort vorwegzunehmen: Ja. Das gelingt Nilsen, indem er archaische Figuren und zeitlose Themen verwendet.

Nilsen entwirft ein philosophisches, morbides und vielschichtiges Mammutwerk. Zunächst wirkt Große Fragen sehr episodisch und zusammenhangslos. Der Leser taucht in kurzen Strips in die Welt von sprechenden Graufinken ein. In diesem Kosmos philosophieren die Vögel über das Leben und diskutieren über das Futter. Die Finken sehen alle zum Verwechseln ähnlich aus, aber tragen ausgefallene Namen wie Evangelista, Algernon, Philo, Eusippius, aber auch Namen wie Curtis, Betty und Louis.

Nach und nach – das bedeutet nach den ersten 100 Seiten – entpuppt sich ein roter Faden, der die Episoden verbindet. Nilsen erweitert seine Finken-Welt um zwei Menschen, die die Vögel regelmäßig mit Essensresten füttern. Eine alte Frau und ein geistig behinderter Junge. Nilsen lässt jedoch nur die Vögel sprechen, die Menschen werden lediglich in stummen Sequenzen dargestellt. Ein Streitthema der Finken stellt eine abgeworfene Bombe dar, die nicht detoniert ist und die Vögel vor ein Mysterium stellt. Einige halten es für ein Riesenei, das von einem Riesenvogel stammt.

Die anderen Tiere wie Schwan, Schlange, Eule, Krähe und Wolf wirken in Große Fragen mystisch, weil sie sich den ihnen aus der Welt der Mysterien und Fabeln zugesprochenen Attribute entsprechend verhalten. Gleichzeitig überrascht Nilsen aber auch, indem er sie ebenfalls als kaltblütige und instinktiv handelnde Tiere in Szene setzt.

Anfangs ist es vielleicht etwas schwer, einen Zugang zu Nilsens Kosmos zu finden. Aber durch seinen dynamischen Erzählrhythmus und abwechslungsreiche Panelgestaltung fesselt der Autor seine Leser an seine Welt der Finken, die rührig sein kann, wenn ein Finke zum Beispiel aufbricht, um seine Geliebte zu suchen, oder morbid, wenn derselbe dabei in das Totenreich hinabsteigt. Überhaupt sind „Tod“ und „Verfall“ zentrale Themen von Große Fragen.

Grafisch variiert Nilsen seine Zeichnungen. Oft verwendet er einen reduzierten und cartoonesken Stil, den er vor allem bei den pointierten Kurzepisoden einsetzt, wenn sich die Finken beim Essen unterhalten. Reizvoller sind dagegen die längeren Sequenzen, in denen Nilsen einen detaillierten Strich mit bisweilen dichten Texturen einsetzt. Die Zeichnungen selbst sind schwarzweiß und entweder sehr hell oder sehr düster gehalten und passen sehr gut zum ernsten Inhalt, der aber immer wieder mal durch absurden Humor aufgelockert wird.

In Große Fragen werden tatsächlich große Fragen über die Existenz behandelt. Nilsen stellt sein Talent als einfallsreicher Erzähler und abwechslungsreicher Zeichner unter Beweis. Dennoch ist das Werk schwer zugänglich.

Marco Behringer (01/13)

 

Anders Nilsen: Große Fragen. Atrium Verlag, 18.5 x 23.5 cm, Hardcover, schwarzweiß, 600 Seiten. ISBN 978-3-85535-562-4

 

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