13. Januar 2013

Realitätsschichten

Fiat iustitia, et pereat mundus, © Mark Alker

 

Die Absolventen von 2012 der Ostkreuzschule zeigten in einem ehemaligen leer stehenden Kreuzberger Kaufhaus ihre Abschlussarbeiten

 

Viele Ausstellungen, die im Rahmen des Europäischen Monats der Fotografie (19.10. – 25.11.2012) gezeigt wurden, hinterlassen keinen bleibenden Eindruck. „Echos“, die Ausstellung der Absolventen des 6. Jahrgangs der Ostkreuzschule aber überzeugt durchweg und der Ausstellungsort ist ebenso gut gewählt. Ein Jahr lang haben sich die Studenten unter der Leitung von Ute Mahler, Svenja Fendt und Thomas Sandberg der Entstehung ihrer Fotoserien gewidmet. Auf vier Etagen setzen sich die 20 Absolventen der Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung mit ganz unterschiedlichen Themen der Realität wie Armut, der eigenen Biografie, gesellschaftlicher Ausgrenzung oder städtebaulichen Prozessen auseinander.

 

Herausragend ist die Serie „Manhattan – Straße der Jugend“ von Stephanie Steinkopf, die sich der sozialkritischen Fotografie widmet und die Orte ihrer Kindheit und Jugend wieder aufgesucht hat. Weder liegt dieses Manhattan in New York, noch weist die „Straße der Jugend“ auf eine optimistische Zukunft hin, sondern geradewegs in eine vom Zerfall bedrohte Plattenbausiedlung und deren Bewohner im Oderbruch. In der ehemaligen DDR war diese Siedlung ein Prestigeprojekt und ihr Name Manhattan, was so viel wie „Himmlische Erde“ bedeutet, ist aus heutiger Sicht reinster Zynismus, denn es gibt sie natürlich massenhaft in diesem Land: Armut und soziale Isolation mangels Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Auch die bunte, fast grelle und kontrastierende Farbgebung täuscht den Betrachter nicht darüber hinweg. Man denkt an den US-amerikanischen Film „Winter’s Bone“, aber auch an die Fotografien von Tobias Zielony über Neapel oder die kalifornische Stadt Trona und erschreckt über die Folgen sozialer Kahlschlagpoltik der letzten 20 Jahre. Steinkopf wird Ende Januar einer der in Deutschland höchstdotierten Fotopreise verliehen.

 

Referenzen an die Arbeiten Zielonys erkennt man auch bei Kevin Mertens, der sich in sein persönliches „Hurtland“ aufgemacht hat. Mertens, gebürtiger Augsburger, besuchte Burlington, den Geburtsort seines Vaters in Iowa und dokumentierte dort das Leben von Jugendlichen. Auffällig ist, dass das Leben in Burlington genauso perspektivlos ist wie das der Bewohner Manhattans. Eine Gebrauchsanweisung für das Überleben dort, „The Laws of Power“, liefert Mertens gleich mit. An die erste Regel „Look at what is, not with emotions“ sollte man sich als Bewohner wahrscheinlich sehr genau halten, andernfalls befindet man sich sehr schnell im „Hurtland“. Der Zerfall von Öffentlichkeit und sozialem Abstieg zieht, wie so oft, den Wunsch nach eindeutigen und autoritären Regeln nach sich und kann als hilflose und verzweifelte Reaktion auf den fortschreitenden Ausschluss vieler Jugendlicher vom „normalen“ Leben interpretiert werden: Der amerikanische Traum, der wahrscheinlich schon immer eine Lüge gewesen ist, wird sich für diese Menschen niemals erfüllen; also schafft sich der Mensch eigene Regeln. Die „Gesetze“ wurden von einem der Väter der Jugendlichen in seiner Haft aufgeschrieben und sind inspiriert von dem Buch  „The 48 Laws of Power“ von Robert Greene.

 

Aseptisch schön hingegen muten die Gerichtssäle von Mark Alker an. Wenngleich viele der dokumentierten Räume das ungerechte und unmenschliche Antlitz der Justiz nur zögerlich preisgeben; die bürokratische Strenge täuscht hingegen nicht über den treffenden Titel Fiat iustitia, et pereat mundus (Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde.) hinweg. Isabell Kiesewetters Reihe „Konversion“ zeigt in differenzierten Momentaufnahmen den Wandlungsprozess von Orten: verlassene ehemalige Flughäfen und militärische Übungsgelände oder ländliche Gebiete, die als Golfgelände umfunktioniert wurden. Als Konversionsfläche bezeichnet man in erster Linie ehemals militärisch genutzte Flächen, die heute für zivile Zwecke verwendet werden. Doch dieser Wandel hinterlässt seine Spuren an den Orten und Kiesewetter gelingt es, diese Störungen hinter einer statischen Fassade sichtbar zu machen und auf die blinden Flecken einer utilitaristischen Stadt- und Landschaftsplanung aufmerksam zu machen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass ihre Bilder nur irgendeinen völlig belanglosen Ort zeigen; doch irgendetwas stimmt nicht und irritiert. Man ist gezwungen, genauer hinzuschauen und Fragen zu stellen:

Was ist auf dem blinden Fleck der Netzhaut und in unserer Wahrnehmung tatsächlich zu sehen, oder was sollte gesehen werden? Man kann es nicht besser als Yvi Philipp formulieren, die den bezeichnenden Titel „Zwischen Realitäten gibt es diese Schicht“ für ihre Serie wählte.

 

Elke Stefanie Inders