13. Januar 2013

Das Ende des Kinos als Utopie?

  

In seiner Streitschrift „Film und Kunst nach dem Kino“ skizziert Lars Henrik Gass, Direktor der Kurzfilmtage Oberhausen, weitgehend pointiert den Niedergang des Kinos als kollektiven und mentalen Raum und die damit einhergehenden veränderten Wahrnehmungsformen.

 

Eines sei vorneweg bemerkt: Das Buch bietet genügend thematische Schnittschnellen für weitergehende notwendige Diskussionen an. Gass benennt zahlreiche relevante und nur scheinbar disparate Diskurse, die aber alle der Thematik „Kinosterben“ inhärent und mitverantwortlich für den sogenannten Niedergang des Kinos sind: Wissenstransformationen, Zerfall der Öffentlichkeit, Subjektverständnis oder Retromania, um nur einige zu nennen.

 

Inhaltlich ist das allerdings nicht immer genügend ausgeschärft, insbesondere wenn es um die thematische Verknüpfung von medialer Öffentlichkeit, Politikverdrossenheit und Marketingstrategien geht. Durchaus ist sich Gass der Komplexität seines Anliegens und den damit verbundenen diskursiven Fallstricken bewusst. Seine Kritik will zum Weiterdenken, Widersprechen und Argumentieren einladen. Angreifbare Positionen sind in diesem Falle also eher förderlich.

Überzeugend und präziser wird Gass dann, wenn er die Auswirkungen des Experimentalfilms und der Videokunst auf das Kino nachzeichnet und die institutionelle Logik und Wertschöpfungskette der Kunstwelt problematisiert, denn diese habe weitestgehend die „Definitionsmacht über den Film“ als Kunstform übernommen. Damit einher geht ebenso die verstärkte Migration von Filmemachern wie Harun Farocki, Chantal Akerman oder Isaac Julien in den Kunstbetrieb, der wiederum seine eigene Wahrnehmungslogik den Künstlern diktiert. Der Loop ist nach Gass Ausdruck eines dem Kunstbetrieb immanenten ästhetischen Verfahrens. Das Werk muss demnach ad hoc zu begreifen sein, denn welcher Museums- oder Galeriebesucher hat schon genügend Zeit, einen Spielfilm zu betrachten? Das ist aus seiner Perspektive sicherlich richtig argumentiert und nachvollziehbar. Allerdings kann man an dieser Stelle seine Schrift durchaus kulturpessimistisch lesen, wenn er davon spricht, dass „Kino zum Atavismus werde“ und lediglich als „Gegenstand nostalgischer Reflexionen“ tauge.

In diese Argumentationskette reiht sich ebenso die Kritik am Primat der ökonomischen Verwertbarkeit und dem Markt an sich ein, der weitgehend entscheidet, was Film sei. Das riecht ein wenig nach verkürzter Kapitalismuskritik, denn der Markt hatte schon immer eine maßgebliche Definitionsmacht über die Kunst und stellt ihren Überbau dar. Richtig ist wohl, dass sich die ökonomischen Bedingungen verschärft haben und sich Filme zunehmend über die ständige Verfügbarkeit filmischen Materials auf DVDs, blue rays usw. amortisieren, was gleichzeitig eine verkürzte Auswertungsdauer eines Films nach sich zieht. Die ständige Verfügbarkeit im privaten home cinema, die eine individuelle Rezeption erlaubt, kommt in erster Linie den Bedürfnissen des flexibilisierten Menschen entgegen, der kaum noch in der Lage ist, einen Film in voller Länge zu ertragen und für den alles in eine verständliche, didaktisierte Form gepresst werden muss, ergo ist das home cinema das Kino für ADHS-gestörte Medienkonsumenten. Das mag einerseits stimmen, andererseits vernachlässigt Gass dabei aber gerade das Publikum, welches durchaus in der Lage ist zu differenzieren und sich dem „autoritären Zwang“ des Kinosaals freiwillig unterwirft. Ebenso übereilt und argumentativ stark verkürzt stellt Gass den Niedergang des Kinos in einen Zusammenhang mit Politikverdrossenheit und dem Web 2.0. Hier generieren sich Wissensformationen nicht mehr länger über prozessoral gewonnene Meinungsbilder und Diskurse, aus denen man nicht einfach aussteigen kann, sondern lediglich abstimmend über das „liken“ und „disliken“ von Haltungen.

 

Kurzum, unser eigener Verblendungs- und Verblödungszusammenhang wird zunehmend durch die technologische und ökonomische Radikalisierung forciert. Liest man dies durch die Brille Walter Benjamins, dann lässt dies schlimmste Prognosen erahnen, dann ist die Utopie gestorben und selbst die „Fiktion im Regime des Konsens eingesperrt“, wie Jacques Rancière konstatiert. Kino kann eben nur weitergehen, wenn die Fiktion nicht aufhört zu widerstehen.

 

Elke Stefanie Inders

 

Lars Henrik Gass: Film und Kunst nach dem Kino, Philo Fine Arts 2012

 

Cohen+Dobernigg

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