21. Dezember 2012

Wenn die Götter toben

  

… Nein, es kam nicht zum „Duell“ Mühsam-Duchamp, letzterer lebte offensichtlich zu zurückgezogen in München, war zu beschäftigt mit seiner Umwälzung in der nicht mehr gebildeten Kunst. Hätte Mühsam den Readymades etwas abgewinnen können? Wohl nicht. Dafür gibt es eine andere Geschichte, die Mühsam lange umtreiben wird, natürlich geht es wieder um eine Frau, sie heißt Jenny Brünn, jüdisch wie er selbst, 14 Jahre jünger, und sie ist aus reichem Haus. Man verlobt sich insgeheim, aber es soll richtig bürgerlich geheiratet werden, mit dem Segen der Eltern, und da fangen die Probleme an, diesmal aber mal nicht von Seiten von Erichs Papa, der sonst immer für Erichs Geldsorgen herhalten muss, sondern von Jennys Seite aus, so unstandesgemäß soll die Tochter nicht hergegeben werden. Erich hat einfach kein Glück mit der bürgerlichen Seite, die Bohème muss leiden. Nach dem wahrscheinlichen Aus zwischen den beiden schreibt Mühsam monatelang kein Tagebuch.

 

Als er es wieder hervorholt, scheint sich zwischen Erich und Jenny nicht viel Neues ereignet zu haben, keine neue Wendung, kein entscheidender Bruch, dafür kommt es im August 1914 zu einem anderen großen Ereignis, der Erste Weltkrieg bricht aus, und das ist die Reaktion Mühsams in der Nacht vom dritten auf den vierten August: „Es ist 1 Uhr nachts. Der Himmel ist klar und voll Sternen, aber über die Akademie ragt der Rand einer weißen, in dicken Schichten gehäuften Wolke, in der es unaufhörlich blitzt. Unheimlich grelle, lang sichtbare, in horizontaler Linie laufende Blitze. Und es ist Krieg. Alles Fürchterliche ist entfesselt. Seit einer Woche ist die Welt verwandelt. Seit 3 Tagen rasen die Götter.“ Auch nach zwei oder vier Wochen ist noch keine Entscheidungsschlacht gefallen. Dieser Krieg wird anders werden. Den Standardspruch „Im Westen nichts Neues“ findet man im Tagebuch beinah täglich. Auf welcher Seite steht der Anarchist? Bereits in der Eintragung, die den Beginn des Krieges festhält, ist das unentschiedene Verhältnis auf den Punkt gebracht, es ist ein Taumeln zwischen Gesinnung und Herkunft:

 

„Und – ich, der Anarchist, der Antimilitarist, der Feind der nationalen Phrase, der Antipatriot und hassende Kritiker der Rüstungsfurie, ich ertappe mich irgendwie ergriffen von dem allgemeinen Taumel, entfacht von zorniger Leidenschaft, wenn auch nicht gegen etwelche ,Feinde‘, aber erfüllt von dem glühend heißen Wunsch, daß ,wir‘ uns vor ihnen retten! Nur: wer sind sie – wer ist ,wir‘? –“

 

Man erwarte als Leser keine politische oder philosophische Diskussion dieser Frage im weiteren Verlauf des Tagebuchs. Sie findet natürlich schon gar nicht öffentlich statt. Im Krieg ist man weit entfernt von idealen Kommunikationssituationen. Das Tagebuch bekommt eine zweite Spur. Neben Mühsams Interpretationen der amtlichen Mitteilungen zum Kriegsgeschehen treten bald wieder die bekannten und erheiternd-traurigen Geschichten mit den Frauen. Am 30. September kann Mühsam sogar vermelden: „Der Sexualbetrieb ist äußerst lebhaft.“ Aber nur wenige Tage später kehrt wie so häufig Ernüchterung ein. Was ist er den Frauen? Mehr als Tröster und Seelsorger? Welche Spiele werden da gespielt? Dann ist er wieder entschieden auf ihrer Seite: „Weiber! Ich bin immer der, der die Frauen gegen die anmaßliche Einschätzung der Männer in Schutz nimmt. Ich bestreite ihren ,psychologischen [sic!] Schwachsinn, ihre Unfähigkeit zur Logik…“ Ein Versehen Mühsams, oder ist in der Folge der Veröffentlichung des berühmt-berüchtigten Buches des Psychiaters Paul Julius Möbius aus der Physiologie eine Psychologie geworden? An der stolz die Kultur tragenden Rolle des Mannes zweifelt auch Mühsam nicht.

 

Die Situation Mühsams wirkt so festgefahren wie noch nie. Anders als er weiß der Leser, dass dieser Krieg noch vier Jahre dauern wird. Wie wird es weitergehen mit Erich? Ein Weiterwursteln? Lässt sich diesem Krieg etwas entgegensetzen? Ist die Arbeit an einem Theaterstück über eine Prostituierte, die zu einer unglücklichen Bürgerlichen wird, die richtige Antwort? Wir warten gespannt auf den vierten Band.

 

Dieter Wenk (12-12)

 

Erich Mühsam: Tagebücher, Band 3, 1912-14, hrsg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Berlin 2012 (Verbrecher Verlag)

 

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