Schatzkiste
Hier heißt es zum Beispiel einfach nur: „Leiden des jungen Werthers.“ Das ist alles. An einer anderen Stelle liest man: „Oertlin von Oertel – die Heidegger“. Darauf folgend die Bemerkung: „Berlinischer Karakt. tadelt Astrologie in Schiller.“ Man könnte so fortfahren, dieses „Buch“ Jean Pauls vorzustellen. Jede Zeile bietet einen neuen Ansatz, mal kryptisch, mal pointiert, es sind Einfälle des Autors, Exzerpte, Merkzettel für später.
Das Konvolut, das hier erstmals publiziert wird, ist Teil der historisch-kritischen Ausgabe der Werke Jean Pauls, die 1927 von Eduard Berend begründet wurde und 1938 durch die Verfolgung Berends durch die Nationalsozialisten stagnierte. Die I. Abteilung enthält in 18 Bänden die von Berend erarbeitete Textkonstitution der zu Lebzeiten Jean Pauls erschienenen Werke (ohne die Apparatbände). Die II. Abteilung widmet sich dem Nachlass des Autors; zwischen 1928 und 1935 waren bereits 5 Bände erschienen. Seit 1996 wird dieses Projekt weitergeführt und demnächst mit den Bänden neun und zehn abgeschlossen. Band neun mit dem sammlungsübergreifenden Titel Einfälle, Bausteine, Erfindungen erscheint in drei Teilbänden, dessen zweiter nun als erster vorliegt: Bausteine – Erfindungen. Das grüne Buch – Thorheiten.
Wer hier blättert – es ist unmöglich, sich dabei thematisch festzulesen – bekommt einen sehr guten Eindruck davon, dass Jean Paul sicher auch erfunden hat, dass er aber zugleich ein stupender Leser war, der alles zur Kenntnis genommen hat, was in seiner Zeit publiziert wurde, einschließlich und vor allem die Welt des Nicht-Literarischen. Was für den Autor das Gedächtnis erleichterte (eine andere Frage ist: Wie er auf seine Notate zugriff, welche Methoden der eigenen Erschließung dieses Schnipsel-Archivs er entwickelte, zum Beispiel: sich wiederlesen), ist für den ja zunächst gar nicht mit eingeplanten Leser auf weite Strecken zumindest fremd. Jean Paul dekontextualisiert radikal, erster Schritt seiner berühmt-berüchtigten Technik des Aufpfropfverfahrens. Schnipsel, Exzerpte, Bausteine eingesetzt als Digressionsgeneratoren. Oder als Anweisungen, wie ein Roman zu konstruieren ist. Oder als Beispielsammlungen für eine zu schreibende Ästhetik. Unter den Vorsätzen des Autors finden sich solche wie diese: „Denke dich in allerlei Lagen, um für alle Muth u. Kentnis zu haben.“ (Die Ausgabe folgt konsequent den Schreibeigentümlichkeiten Jean Pauls, Buchstabenauslassungen werden zum Beispiel kursiv ergänzt.) Oder: „Denk im Bette nach“. Oder: „Sperre an schönen Tagen die Bücher ein, da du ohnehin mehr das Gedächtnis als den Verstand dad. besäest.“
Was Jean Paul so modern sein lässt, aber auch so schwierig zu lesen macht, ist seine totale Bereitschaft zur Verknüpfung und Vernetzung. Alles kann Anlass von allem werden. Man wird hier keine thematischen Hierarchien finden. Kein Wunder, dass der Leser semiotisch mehr mit Dreiheiten als mit Zweiheiten zu tun hat: „Metapher der Metapher“. Auf welchen witzigen Ebenen sich Jean Paul deshalb auch gerne aufhält, vermag folgende Bemerkung zu illustrieren: „Versenken des Menschen und Schifs; lass. vorh. eine Allegorie gehen, um das Versenken zu heben“. Wird man eine solche Subtilität als Leser überhaupt bemerken? Dieser Nachlassband stellt ein ausgezeichnetes Mittel bereit, sich der teils fantastischen Assoziationslogik Jean Pauls anzunähern. Der Band mag extrem winterlich und karg wirken. In Wahrheit geht so überhaupt erst die vertrackte Evolutionstheorie des Autors los. Willkommen am Beginn absoluter Kunstwelten.
Dieter Wenk (12-12)
Jean Paul, Historisch-kritische Ausgabe. Zweite Abteilung. Neunter Band, Teil 2, Bausteine/ Erfindungen. Das grüne Buch/Thorheiten. Text mit Apparat, hrsg. von Petra Zaus, unter Berücksichtigung von Vorarbeiten von Thomas Wirtz und Eduard Berend, Weimar 2012 (Verlag Hermann Böhlaus Nachfolger)