23. November 2012

„Wiederbeleselebung“

 

Wie reagieren Autoren auf das Ausbleiben des Erfolgs, an den sie vielleicht noch nicht einmal richtig gewöhnt sind? Wem wird der schwarze Peter zugeschoben, wer muss als Sündenbock dienen? Wird auf Selbstbezichtigung geschaltet? (Eher selten.) Hat der Verlag nicht richtig Werbung gemacht? (Kaum einer hat so hässlich gestänkert wie Céline.) Liegt es an den blöden Lesern? Oder ist der Literaturzeitgeist schuld, dass man nicht zum Zuge kommt?

 

In dieser Novelle, die einen außergewöhnlich schönen und gelungenen Titel trägt, heißt es an einer Stelle in einem Gespräch zwischen zwei sonderbaren Gestalten: „Sind Sie zum Lesen vielleicht zu abstrakt, zu spielerisch, zu surrealistisch-phantastisch? Solche Literatur steht bei uns in Deutschland zur Zeit [ca. 1995] nicht besonders hoch im Kurs.“ Und etwas später in derselben Gesprächssituation: „Haben Sie, lieber Wakusch, das Gefühl, daß Ihre zukünftige Lese-Lebensgeschichte auf eine Art verfasst ist, die dem gegenwärtigen, eher realistischen Lesegeschmack, nicht entspricht?“ Irgendetwas also muss schief gelaufen sein. Aber was genau ist passiert? Darüber informiert in einem kurzen, aber ganz hilfreichen Nachwort Jörg Sundermeier vom Verbrecher Verlag. Darin ist zu lesen: „Ab Mitte der neunziger Jahre ließ das verlegerische Interesse an Giwi Margwelaschwili insgesamt nach.“ Es „fand sich ab 1994 für über zehn Jahre kein Verlag mehr, der sich an das aufregende Werk dieses zugleich phantasievollen und sehr wissenschaftlichen Autors heranwagte. In dieser Zeit entstand die Fluchtästhetische Novelle, die hiermit erstmals veröffentlicht wird.“

 

Diese Novelle ist eine Reaktion auf eine sehr spezifische Situation, nämlich über keine Leserschaft mehr zu verfügen, eine sehr unangenehme Lage für einen Autor. Und das Ergebnis ist unglaublich, in jeder Hinsicht. Die Novellenkonstellation ist einigermaßen irreal, und was der Autor aus dieser imaginierten limitrophen Welt dieser Geschichte macht, ist in einem ganz und gar nicht irrealen Sinn unglaublich. Margwelaschwili ist ein gnadenlos logischer Autor auf phantastischem Gelände. Es ist wie bei Hegel: Wenn man erst mal drin ist, kommt man aus der Bewegung nicht mehr heraus. Aber man muss den ersten Sprung wagen. Wer das nicht will und daran keinen Gefallen findet, wird mit diesem Autor herzlich wenig anzufangen wissen, und das ist leider (s.o.) flächendeckend passiert.

 

Wer ist dieser Wakusch. Er ist das alter ego des Autors. In dem autobiografischen Roman Kapitän Wakusch erzählt Giwi Margwelaschwili von seiner Zeit als Jugendlicher im Dritten Reich und von seinem Aufenthalt in verschiedenen sowjetischen Lagern nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach dieser Publikation passierte dem Autor wie gesagt der GAU: keinen Verlag mehr zu finden. Die publizistische Stagnation macht der Autor fruchtbar für diese Novelle. Der junge Wakusch befindet sich auf dem Flughafen Schönefeld. Er soll nach Georgien überführt (entführt) werden. Der junge Wakusch selbst? Nein. Vielmehr trifft der Leser lediglich auf die „bibliobiologische“ Version Wakuschs. Denn die Geschichte kann nicht weitergehen, da die nötige Animation durch den Leser fehlt. Ihr ist schlicht und ergreifend die Luft ausgegangen, und so wartet das Romanpersonal samt Wakusch in Schönefeld, mit einer Douglas abzuheben, vergeblich.

 

Das Gute an der Sache für Wakusch: Ihm bleibt das weitere Schicksal unter den Sowjets erinnerungslebensweltlich erspart. Andererseits droht dem Helden mangels Leserodem die Luft zum Atmen auszugehen. Bleibt nur die Wahl zwischen Gefangenschaft und leselebensgeschichtlichem Tod? Wie kann es weitergehen? Kann es überhaupt weitergehen? Ein „mysteriöser Leser“ nimmt sich des Helden an. Die beiden plaudern ausgiebig über die seltsame Situation Wakuschs, dem dräut, an „Leserschwindsucht“ zugrunde zu gehen. Der mysteriöse Leser empfiehlt absurderweise Wakusch, in sich zu gehen, eine Introspektion vorzunehmen, als ob eine Romanfigur dazu imstande wäre. Wer ist dieser Leser, der Wakusch gesprächsweise am Leben erhält und ihm Mut macht zu seiner Zukunft, auf dass er wieder Spaß daran finde, vor dem Leser überhaupt auf der Flucht zu sein in dem Sinne, dass die Romanfigur dem Leser immer einen Schritt voraus sein muss, die Figur also erst ganz am Ende ausgelesen sein (werden) kann? Es kann niemand anderer sein als die realpersönliche Repräsentanz des Autors dieser Geschichte, der in einer abenteuerlichen textuellen Marge sich einrichtend von einem Verlust spricht, der nicht aufs persönliche Konto geht, sondern einem allgemeineren literatursituationellen Zeitrahmen geschuldet ist, an den, wie diese Novelle zeigt, keine Konzessionen gemacht werden.

 

Diese Flucht mag ihre Längen haben, aber das Beschreiben des Versuchs, aus einer leselebensweltlichen Blockade-Bockigkeit herauszukommen, ist einfach nur grandios.

 

Dieter Wenk (11-12)

 

Giwi Margwelaschwili: Fluchtästhetische Novelle, Verbrecher Verlag 2012

 

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