12. Dezember 2003

Avantgarde im Selbst-Sack

 

Es ist ein bisschen unfair, einen Autor mit den eigenen Lesehemmungen diesem Autor gegenüber zu konfrontieren, aber wird diese Lesehemmung exzessiv, so mag das nicht nur an des Lesers Freudlosigkeit liegen oder an seiner Lesepausebedürftigkeit, zumal der Leser sich während des Lesens dieses Romans hundertmal an den natürlich immer noch treffenden Aphorismus Lichtenbergs erinnert hat, wo es um die Inkongruenz zwischen Buch und Leser geht, und der Leser sich erst mal selbst fragen sollte, ob nicht er selbst es ist, der hohl klingt oder ist.

Aber es geht nicht um Hohlheit. Das Buch jedenfalls ist bis zum Rand gefüllt. Es steckt sogar so viel drin, dass nichts anderes mehr hineinpasst, und sei es die Nase des Lesers. Dieser Roman ist ein Buch-Objekt. Man kann ihn nicht lesen, man gleitet. Das Blättern der Seiten wird wichtig, fällt ins Bewusstsein. Man fängt schnell an, ein bisschen die Machart zu verfolgen, die Rückblenden zu zählen und die Strichliste der Beschreibungen zu füllen. Man liest, als ob man lesen würde, aber man liest nicht richtig. Der Leser friert ein. Und er schafft es vielleicht gerade noch, in seinem Bewusstsein, das in Ketten liegt, eine Verbindung herzustellen zu einem Zustand, den er aus einem anderen Medium kennt, dem Fernsehen, und der den Betreffenden, also den Zuschauer, davon entbindet, selber bei etwas aktiv teilzunehmen, was hörbar schon andere besorgen und was sich zum Beispiel durch Lachen und Klatschen bemerkbar macht. Der Zuschauer kann also getrost in die Küche gehen, das nächste Bier holen und trotzdem teilnehmen an dem, was geschieht, denn die Reaktionen des Publikums, zu dem er sich zählt, sind auch die seinen. Der Verbrauch ist gemessen, er ist angemessen, und was statistisch korrekt ist, kann eigentlich nicht falsch sein. Der Zuschauer kann sich immer öfter immer weiter entfernen, er bleibt dran am Geschehen, was immer er auch anstellt. Das ist ganz wunderbar.

Und so etwas stellt sich auch beim Lesen dieses Buchs ein, was es zu einem wegweisenden Exemplar seiner Gattung macht. Die absolute Modernität dieses Romans liegt also darin beschlossen, dass man ihn nicht mehr lesen muss. Niemand muss ihn lesen, die Sache ist nicht die, dass andere dies einem abnehmen, um einem zu sagen, was drin steht, ob er gut oder schlecht ist, langweilig oder spannend, sondern der Leser blättert und blättert und merkt verstärkt, dass das Buch sich selbst liest und kein Rest übrig bleibt, über den sich etwas sagen ließe. Das An-Sich des Buchs ist erreicht. Ganz ohne apriorische Finessen. Geschlossene Vorstellung. Demosthenes spricht nur noch in seinem eigenen Zimmer. Schluss mit – und sei es russischer – Postmoderne, Schluss mit Dekonstruktion, Schluss mit Wurzellosigkeit von Immigranten und wurzeligen Konstruktionen. Sensationell, wie das Buch mit all dem aufräumt, ohne das groß zu thematisieren. Aber der Einsatz, wie gesagt, ist hoch. Noch nicht mal „for the happy few“. Das ist Konzeptkunst only for the sake of the concept.

„Es war angenehm, ein Langweiler zu sein, die Ästhetik der Langweiligkeit gefiel Erik immer besser: gleichgültiger Tonfall, endlose Tautologien, farbloses Auftreten, sparsame Emotionen. Langweiligkeit erschien ihm als die beste Kommunikationspolitik, und er beschloss, sie in Zukunft so oft wie möglich anzuwenden.“

 

Dieter Wenk

 

Sergej Bolmat, In der Luft. Roman, München 2003 (C.H. Beck)