16. November 2012

Nominalismus

 

Ach ja, die Moderne. Nicht selten erhebt sie stolz ihren Kopf und wendet sich souverän von dem weg, wo sie herkam. Keine lieblichen Klänge mehr, entweder zu viel oder zu wenig Farbe, Texte, die keiner mehr versteht. Was hat Benns Rönne mit Meyers Richterin zu schaffen? Oder Musils Frauen mit Kleists Männern? Merkt man nicht endlich, dass viele Etiketten gar nichts Reelles bezeichnen? Novellen? 19. Jahrhundert, basta. Im 20. Jahrhundert wird eh alles anders. Alles? Und vorher? Was ist mit Boccaccio, Cervantes, dem 18. Jahrhundert?

 

Hugo Aust lässt sich viel Zeit mit seiner süffisantesten Bemerkung, aber schon früh ist schon alles klar: Es gibt nicht „die“ Novelle. Erst im Abschnitt über „Moderne“ ist folgender Satz zu lesen: „Wie ,beliebig‘ oder ,unangemessen‘ die Kennzeichnung eines Textes als Novelle ist, gehört zum Inhalt der Gattungsgeschichte und nicht etwa zu ihrem Trümmerfeld.“ Die Moderne ist also gar nicht schuld. Wie schön sind doch Entlastungen. Was heißt das aber für die Novellen-Geschichtsschreibung? Alles Makulatur? Immerhin erscheint Austs Novelle jetzt in einer 5., aktualisierten und erweiterten Auflage. Nach wie vor scheint also Erklärungsbedarf darüber zu bestehen, was es mit dem Novellenbegriff auf sich hat. Und dass Merkmalskataloge oder gar Definitionen historisch kontingent sind und keinerlei Zugriffe auf den Gesamtbestand möglicher Texte erlauben.

 

Aber was wäre dieser Gesamtbestand? Wenn die Textlänge, die Dichte, die Überschaubarkeit, die unerhörte Begebenheit, der Symbolgehalt noch nicht einmal notwendige Bedingungen zur Erfüllung des Etiketts Novelle bereitstellen, sollte man, was manche auch getan haben, nicht ganz auf diesen noch nicht einmal schillernden Begriff verzichten? Und was macht Hugo Aust? Er laviert. Die ersten drei Kapitel sind dem Begriff gewidmet, Aust diskutiert Schlüsselwörter des Novellendiskurses und stellt die wichtigsten Novellenbegriffe vor. Das liest sich sehr souverän. In dem Moment aber, in dem Aust die Geschichte der deutschsprachigen Novelle angeht, merkt man, wie der Boden anfängt, brüchig zu werden. Ein Boden jedoch, der aus keiner ganzen Fläche besteht, sondern sich aus mehr oder weniger eng verzahnten Belägen zusammensetzt. Und kein Architekt oder Designer, der fürs Ganze verantwortlich zeichnete. Nur: So ist das eben. Aust lässt sich daraus kein Vorwurf machen. Lavieren ist das Spiel (mit) der Novelle. Entspannt stellen wir fest, dass Kleist den Novellenbegriff gar nicht erst in Anschlag brachte. Wir sind berechtigt, Goethes artifiziellstes Prosastück, Novelle, als ungenießbar abzulehnen. Wir lesen mit der Zeit und schauen, was übrigbleibt.

 

Hugo Aust hält sich mit Werturteilen komplett zurück. Das ist auch richtig so. Die Oberaufsicht übernimmt jetzt komplett der Leser. Nach der Aust-Passage.

 

Dieter Wenk (10-12)

 

Hugo Aust: Novelle, 5., aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar 2012 (J.B.Metzler) 

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