3. November 2012

Einlegearbeit

 

Es ist eben doch nicht wahr, dass man, ist man erst einmal bekannt, was auch immer publizieren kann, ohne mit Abweisungen oder Zurückweisungen rechnen zu müssen. Das musste auch der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans erfahren, der 1884 mit À rebours (Gegen den Strich) ein Buch veröffentlicht hatte, das schnell zur „Bibel der Dekadenz“ avancierte und einen Bruch im bislang naturalistischen Schreiben des Autors bedeutete. Vier Jahre später schickt ein gewisser Harry Quilter, ambitionierter Begründer eines Literaturmagazins, dem Franzosen eine Erzählung zurück, da sie „für englische Leser (…) wenig Aussage- und Anziehungskraft“ besäße.

 

Was hatte Huysmans falsch gemacht? Er hatte nicht, so die Kritik, an die Leser gedacht. Genauer: an die Leserin. Ein Junggeselle, der mit 50 Jahren in Pension geschickt wird und kurze Zeit darauf verstirbt – so die Kurzfassung dieser Erzählung –, so etwas konnte man beim besten Willen nicht bringen. Huysmans hat diese Geschichte keinem weiteren Verleger angeboten, sie erschien erst 1964, lange nach dem Tod des Autors. Und doch muss der Leser keine Ausbildung in close reading genossen haben, um auch in dieser Erzählung ein Thema angeschlagen zu finden, das die Substanz der „Bibel“ ausmacht: die größtmögliche Artifizialität. Der 50-jährige Monsieur Bougran wird also in den nicht nur einstweiligen, sondern definitiven Ruhestand versetzt. Warum? In Artikel 30 der Verordnung vom 9. November 1853 betreffs der Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Zivilrentengesetzes vom 9. Juni 1853 ist zu lesen, „daß Staatsbedienstete wegen moralischer Invalidität vorzeitig in den Ruhestand versetzt werden können, ausgenommen Künstler.“

 

Moralische Invalidität? Das klingt weniger nach Krankheit als nach einer bürokratischen Finte, halbwegs legal Bösartigkeit ausüben zu können. Die Vorgesetzten des armen Bougran haben also, ohne einen Arzt konsultieren zu müssen, diese seltsame Defizienz konstatiert, um Platz für jüngere Staatsbedienstete zu schaffen. Vielleicht denkt man bei dieser Form der Invalidität auch an eine „Diagnose“, die zwölf Jahre später ein deutscher Wissenschaftler auf einen erstaunlichen Begriff bringen wird, den  „physiologischen Schwachsinn des Weibes“. Natürlich wird der Pensionär jetzt erst richtig krank. Was soll er den ganzen Tag tun? Bougran hat keine Frau, keine Kinder, keine Hobbies, nur eine Haushälterin, die ihn triezt. Er geht spazieren, im Jardin du Luxembourg, und was ihm dort zum ersten Mal aufzufallen scheint, öffnet ihm die Augen. Vielleicht war es gar nicht so übel, nicht mehr dort zu arbeiten, denn was ist ein französischer Garten anderes als ein treffendes „Sinnbild der Verwaltungsarbeit, wie er sie jahrelang praktiziert hatte“? „Der Park“, so Bougran, „war ein wahrer Pflanzenfolterkeller, in dem Bruchgärtner mit Folterbänken, Spanischen Stiefeln aus Gußeisen oder Stahl, Flechtwerk, Stützkorsetten darauf aus waren, gekrümmte Glieder nicht, wie Bandagisten es bei Menschen tun, geradezurichten, sondern im Gegenteil umzubiegen, auseinanderzureißen oder zu verdrehen, was wohl einem japanischen Monsterideal entsprach!“ (Ein Künstler wie Des Esseintes aus À rebours wäre hier natürlich aus lauter ästhetischer Validität aus dem Häuschen gewesen.)

 

Das Erlebnis im Jardin du Luxembourg ist allerdings alles andere als nachhaltig. Das Gegenteil ist der Fall. Bougran beginnt, eines seiner Zimmer neu auszustatten. Eigentlich keine schlechte Idee für einen Neuanfang. Aber das Zimmer ist die Nachbildung seines Büros im Ministerium. „Ich bin wieder zu Hause!“, ruft er „entzückt“. Was folgt, sind bedenklich stimmende Stadien der Simulation der früheren Arbeitssituation. Bougran schreibt an sich selbst Briefe zur Bearbeitung, später stellt er, zwecks Authentifizierung, einen Gehilfen ein, der das Setting beglaubigen soll. Die Formel des berühmtesten Verwaltungswesensopfers, Bartleby, the Scrivener, lautete bekanntlich: I would prefer not to; die Formel für Bougran könnte lauten: „Es ist alles in Ordnung, und dennoch“; Bougran beginnt eine Schrift aufzusetzen, ganz und gar fiktiv, die genau seinen Fall darstellen soll, und zwar als Klage gegen den Rauswurf, den er ja akzeptiert hatte. Noch einmal soll es ihm gelingen, in der perversen, und doch so unglaublich variantenreichen Verwaltungssprache, die er sich ganz und gar zu eigen gemacht hat und die er als ihr Sklave liebt, eine Eingabe zu beurteilen, seine eigene, und sie… abzulehnen! Diese Aufgabe ist so anspruchsvoll, dass ihm darüber das Gehirn zerbricht und er einen Schlaganfall erleidet, an dem er wenig später stirbt.

 

Ein Happyend im Sinne der Damenwelt sieht in der Tat anders aus: „Auf dem Schreibtisch des nunmehr verwaisten Zimmers prangte das Papier, auf das Monsieur Bougran hastig, sein Ende kommen fühlend, die letzten Zeilen seines Einspruchs gekritzelt hatte:

,Aus diesen Gründen, Monsieur le Président, kann ich die von Monsieur Soundso eingelegte Berufung nur abschlägig bescheiden.‘“ Der Tod kommt immer zweimal.

 

Dieter Wenk (10-12)

 

J.-K. Huysmans: Monsieur Bougran in Pension. Erzählung. Aus dem Französischen  übersetzt von Gernot Krämer. Mit einem Nachwort von Daniel Grojnowski, Berlin 2012 (Friedenauer Presse)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon