27. Oktober 2012

Eigentlich ...

 

Chris Ware ist Gott – zugegeben, auch nur in dem Maße wie jeder Autor, der das Ende der Geschichte seiner Protagonisten kennt. Jetzt ist ein weiß grundierter Karton „Building Stories“ herausgekommen, mit 14 einzelnen Drückerzeugnissen: Magzine, Hefte, Bücher, Booklets. Eine lose Sammlung von über 260 Seiten der in unterschiedlichen Zusammenhängen bereits erschienenen Lebensgeschichten von Nanna, als Kind, Heranwachsende und Mutter sowie Brandford – The best bee in the world. Der ca. 30 x 40 x 5 cm-Spaß kostet knapp 30 Euro und liegt dann in der Wohnung rum wie die Comicutensilien von Rusty Brown. Wares Protagonisten, deren Leben im letzten Jahrzehnt vor unseren Augen als Comicstrips entfaltet wurde. Nun bin ich bekennender Ware-Fan, was meine Frau nicht wissen darf; kauf ich mir doch schon mal ein Heft doppelt, nur weil bei einer Auflage das Rot im Druck kräftiger, das Format oder ein Umschlag unterschiedlich gestaltet ist. So bin ich auch mit der Box glücklich. Auch wenn ich einen Großteil der Geschichten bereits kenne. Doch wer sich an der diagrammartigen Erzählweise Wares, die er wie kein Zweiter beherrscht, nicht sattsehen kann, wird hier gut bedient. Und er spielt hier mit dem Zufall, wenn die losen Hefte durcheinandergepurzelt – es wird einem keine Folgerichtigkeit für die Lesart der Geschichten mitgeliefert – eigene Quer- und Längsverbindungen bilden .

 

Chris Ware ist Gott – zugegeben, auch nur in dem Maße wie jeder Autor, der das Ende der Geschichte seiner Protagonisten kennt. Ware ist der amerikanische Turgenjew, Tschechow, Proust. Übertragen auf die psychosoziale Situation der amerikanischen Mittelklasse-Kleinfamilie. Deren zeitgemäße Einsamkeit, den aus ihr hervorgehenden Einzelgängern und deren Feststecken und Durchkommen in der Gesellschaft. Wie bei den oben genannten Klassikern der Moderne ist bei Ware die Figur in Raum (Tschechow), Zeit (Turgenjew) und erinnerter Zeit (Proust) ein, wenn nicht das Wesensmerkmal seiner Arbeiten. Zeit, dieses große menschliche Abenteuer. Bei Ware oft als kultivierte Langeweile. Jener zu lange dauernden Weile, bis hin zum Seinsverlust, den schwarzen Löchern der Zeit, depressiven Zuständen.

 

Mit dieser Box ist Ware endgültig in der Jetztzeit angekommen. Nach seiner Nullnummer Jimmy Corrigan. Eine Nicht-Zahl, die im Comic eine große Rolle spielt. Peter Parker und Clark Kent waren schizophrene Nullnummern. Sowie Charlie Brown und Tim, betrachtet man allein deren Kopfform, um die sich alle anderen, stärkeren Charaktere gruppieren. Der dramaturgische Erzähltrick, eine antriebsschwache Person in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen, um die Wirkkräfte der Umwelt auf sie stärker zu betonen, ist nicht neu. Wares Nanna ist eine Durchschnittsfrau, was deren soziale und psychologische Prägung betrifft, mit einer Unterschenkelprothese. Eine solche Comicfigur, als Projektionsfläche eines immer noch männlich geprägten Genres war bis jetzt undenkbar. Doch Ware haucht ihr Leben ein. Eine wahrhaft gigantische Aufgabe. Gleichzeitig macht er Nanna zum Phänotyp einer tief verunsicherten Mittelklasse, in der er selbst als Kunstlehrer seinen Auftritt hat. Dafür kann man ihn für den größten lebenden Comickünstler der letzten Jahrzehnte halten.

 

Eigentlich ... will ich hier ja nur über Kunst und Comic schreiben. Auch bei Ware gibt es hierzu viele Verweise, u. a. mit Monet- und Cezanne-Postern in öffentlichen Räumen. Virtuos aber wird es, wenn er gleichzeitig aus der Sicht des Kunststudenten und der des Dozenten erzählt. Dabei steht er entspannt im Feld der bildenden Kunst, wie kaum ein anderer Comickünstler. Gilt doch die einseitige Klage, dass Comickünstler als Autoren die schwierige Balance zwischen Dramaturgiebögen, sich an die Folgerichtigkeit von Erzählsträngen, Text- und Bildfolgen, Druck- und Stilfragen zu halten haben, während ihre Künstlerkollegen leere Leinwände schlitzen und damit zu Ruhm und Ehre kommen können. Zweifellos ist diese Klage berechtigt und Chris Ware gehört auch auf die nächste documenta, ins Fridericianum, in The Brain.  

 

Christoph Bannat

 

Chris Ware: Building Stories, Pantheon 2012

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