15. Oktober 2012

Entzauberung des Kanons

 

Im abschließenden Kapitel dieses vermeintlichen Initiationswerks heißt es auf Seite 183 lakonisch: „Wir müssen also den Schluss ziehen, dass dieses Buch weniger eine Einführung als vielmehr ein Nachruf ist, und dass wir den Gegenstand, den wir ausgraben wollten, schließlich beerdigt haben.“ Wir schreiben das Jahr 1982, und die Tatsache, dass diese Einführung mittlerweile in der fünften Auflage erscheint, mag dazu führen, in Terry Eagleton einen modernen Bossuet zu sehen. Denn die Agonie hält an; anders gesagt, ein bestimmtes Verständnis von Literatur (humanistisch-elitär) scheint auf kurz oder lang nicht wiederbelebbar zu sein.

 

Nach dem Tod des Autors ist also auch der Tod der Literatur insgesamt zu verzeichnen, und welche Konsequenzen sich daraus akademisch ergeben oder bereits ergeben haben, davon berichtet dieses Buch von Terry Eagleton. Den größten Spaß bereitet diese Totenrede vermutlich denen, die das alles (also Literaturstudium mitsamt den auch in diesem Buch vorgestellten theoretischen Positionen wie Hermeneutik, Rezeptionstheorie, Strukturalismus und Poststrukturalismus sowie Psychoanalyse) schon hinter sich haben und es genießen, einen Totentanz als Puppentheater souverän und brillant vorgetragen zu bekommen. Die Schlachten sind geschlagen, Theoriekämpfe finden nicht mehr statt, omnipräsente Kultur ist an die Stelle anspruchsvoller Literatur getreten, und so schaut man mit Eagleton erstaunt zurück, mit welch scharfen Klingen früher mal gefochten wurde, als es darum ging, einen literarischen Text zu verstehen. Vermutlich wird heute mehr gelesen als früher, aber wahrscheinlich auch ein wenig anders.

 

Für Eagleton wichtiger ist aber die Tatsache, dass in großen Teilen der Welt gar nicht so viel gelesen wird, und dass das Phänomen Literatur doch eine Spezialität Alteuropas war, die jetzt auch dort selbst ein wenig abgestanden wirkt. Wer heute nicht gehörig historisiert, macht sich schnell lächerlich; man läuft heute einfach nicht mehr mit seinen 144 Bänden Goethe die Straßen auf und ab. Terry Eagleton ist ein marxistischer Kritiker, und wenn man das Buch zuschlägt, wird man sich vermutlich fragen, warum er sich überhaupt mit Literatur  auseinandersetzt und sich gar in den Elfenbeinturm ihrer Theorie begibt. Gibt es für einen Marxisten nicht attraktivere Tätigkeitsfelder als schnöde Literatur? Literaturanfängern gerät dieses Buch wohl als Purgativ. Hier spricht kein Literaturbegeisterter (der Autor ist also ein Verfechter der aus Krieg und Frieden berühmt-berüchtigten Äquivalenzrelation: Shakespeare=ein paar Schuhe; etwa zur gleichen Zeit behauptete Charles Frédéric Worth, Begründer der Haute Couture: „Une toilette vaut un tableau.“), die Einstellung Eagletons lässt sich kurz so fassen: Bevor es auf der Welt politisch und ökonomisch nicht gerecht zugeht, sollte man sich genau mit diesem Projekt beschäftigen; sollte es irgendwann mal gerecht zugehen auf der Welt, wird wohl niemand mehr Literatur brauchen.

 

Bis dahin ist noch ein bisschen Zeit. Nach den bissigen Zeiten des Konkurrenzkampfes über Literaturdeutung scheint es heute wie noch nie möglich zu sein, sich ganz hedonistisch den belles-lettres zu widmen. Es spricht nichts dagegen, darin ein radikales Programm zu sehen.

 

Dieter Wenk (10-12)

 

Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie. 5. durchgesehene Auflage, aus dem Englischen von Elfi Bettinger und Elke Hentschel, Stuttgart/Weimar 2012 (J.B. Metzler)

 

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