2. Oktober 2012

Paranoiabefeuernd

 

„Johann Holtrop“ ist eine Art Aufklärungsroman. Rainald Goetz schildert auf 340 Seiten exakt die Situation, in der wir alle uns befinden, entnervt von einer Gereiztheit betreffs der Kapitalzusammenhänge, die uns in dem Maße ankotzt, wie wir nichts davon verstehen.

Goetz hilft uns nicht, er verschafft dem Leser nicht die Genugtuung eines wie auch immer durch den Autor gesicherten Durchblicks, keine Übersicht ist möglich, klandestin bleibt die Situation, in der sich die Protagonisten des Romans bewegen vom Anfang bis zum Ende. Mir kommt das sehr realistisch vor, paranoiabefeuernd verzweifelt wahr. Ein fantastisches Panorama der überall wesenden „Mittmachwelt“, ausweglos präsent, überall aber doch verschleiert.

Dabei ist es ganz egal, ob man sich in einer Villa oder diese observierend davor befindet, in einem hysterisch zu teuren Club oder in einem Büro, die Einkommensverhältnisse ändern nichts daran, dass auch in dem Roman niemand etwas versteht, das Gehalt scheint lediglich die Ausformung der jeweils nötigen Verblendung zu verschieben.

Weder besondere Intelligenz noch umfassende Blödheit können etwas an diesem Verstricktsein ändern. So funktioniert dieses Buch: Ist es einem Protagonisten möglich, das Verhalten seiner selbst, einer anderen Person oder gar einer Personengruppe zu beschreiben und sogar zu erkennen, manövriert derselbe sich, ohne es zu merken, und selbst wenn schon, ohne es verhindern zu können, umso tiefer in den eigenen nicht bewussten Dünkel hinein. Es gibt keine sichere Beobachterposition, auch nicht für den Leser. Wer nach dem Lesen die Wirtschaftsnachrichten anschaltet, glaubt einer Hörspielfassung des Romans zu lauschen, es geht dort einfach weiter im Text.

Es häuft sich ein Typ Mensch: „Der exzessiv von sich eingenommene, innerlich enthemmte Ichidiot, egoman verkrüppelt. Aber allen gefällt das.“ Johann Holtrop ist so ein Ichidiot. Er treibt sich auf immer höher gelegenen Chefetagen herum und verblödet dabei proportional zu seiner unstillbaren Geldgeilheit.

Dieser Roman ist komisch, er macht wach, also latent paranoid und ist deswegen anstrengend, er ragt als ungewohnter Einzelfall aus dem fortgesetzt belanglosen Gequalle der deutschen Gegenwartsliteratur.

 

Nora Sdun

 

Rainald Goetz: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 343 S., br., 19,95 Euro

 

Cohen + Dobernigg

 

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