11. Dezember 2003

Politisch inkorrekt ja, aber…

 

Er ist stolz auf seine Erfindung, die drei Punkte, und es macht ihm Spaß, seine Leser damit zu ärgern. Er weiß, was er literarisch wert ist, und er darf sich seit seinem Erstling, der „Reise“, als Opfer sehen, dem nicht gegeben wurde, was ihm zustand. Später geht es natürlich überhaupt nicht mehr um den Prix Goncourt, sondern nur noch darum, den eigenen Kopf zu retten. Sein Schnitzer, der Antisemitismus, die Kollaboration in Vichy, wo er als Stabsarzt arbeitete, seine Flucht nach Hitler-Deutschland im Gefolge von Laval und Pétain. Die gegenseitigen Abrechnungen, Frankreich verstößt einen literarischen Revolutionär, Céline suhlt sich in Selbstgerechtigkeit und verkürzt die Reaktion des Feindes auf eine ziemlich im Dunkeln bleibende Verleumdung, die mit dem Anlass nichts mehr zu tun hat: das schwarze Schaf der Geschichte, der umgekehrte jüdische Sündenbock.

Darauf wird er in jedem seiner Romane zurückkommen, die die Hitler-Zeit behandeln, vor allem in seiner Deutschland-Trilogie, von der „Norden“ der zweite Teil ist, obwohl der erste Teil, „Von einem Schloss zum anderen“, zeitlich an die in „Norden“ beschriebenen Ereignisse oder besser Nicht-Ereignisse anschließt. Norden, das beschriebt eine Zone, aber auch eine Richtung, die von Baden-Baden über Berlin nach Moorsburg und Zorndorf geht, wobei die beiden letzten Namen nachträglich von Céline geändert werden mussten, weil die Gutsbesitzer, auf deren Gut dieser Roman vor allem spielt, gerichtlich eine Umbenennung erzielten. Eine Gegend jedenfalls etwa hundert Kilometer nordöstlich von Berlin und damit eine Entfernung, die es erlaubte, die Bombardierungen Berlins aus der Ferne mitzuverfolgen. Die täglichen Luft-Passagen der „Festungen“, von denen sich Céline, nachdem er Berlin verlassen musste, sich fragt, was sie denn noch bombardieren und vernichten wollen.

Das spezielle Problem Célines, der sich hier wie auch seit „Guignol’s Band“ romanesk mit eigenem Namen nennt, ist aber, wie er erklären soll, was im Jahr 1944 ein Franzose in Deutschland zu suchen hat, der nicht Kriegsgefangener ist. Ein Spion? Schlimmer noch: ein Kollaborateur? Célines Romantitel „Von einem Schloss zum anderen“ ist natürlich auch ironisch, obwohl sogar richtige Schlösser den Ort von Handlungen abgeben wie das in Sigmaringen, aber der Titel ist vor allem ein erbarmungsloses Programm, dem sich Céline, seine Frau Lili und der Kater Bébert zu unterwerfen haben. Der Titel ist Célines Name für seine spezielle Deportation als Antisemit, als der er ja vor allem identifiziert wird. Céline in Deutschland, das ist ein französischer Nationalsozialist, der das bekannte Phänomen bestätigt, wonach der Schüler seinen eigenen Lehrer übertrumpft. In zweiter Linie ist Céline der Arzt, aber nicht der aus Paris, sondern der aus Vichy. Und dann gibt es Céline in Hitler-Deutschland vielleicht noch als Autor, doch davon will niemand etwas wissen. Céline ist derjenige, den man herumreicht, weil man ihn loswerden will. Das eigene System ist am Absterben, und da muss man sich auch noch mit ausländischen Parasiten abmühen, wie der SS-Reichsgesund (sic) Harras, der Céline und seine kleine Mannschaft, weil er ihn in Berlin nicht mehr gebrauchen kann, in die Pampa schickt. Moorsburg, ein tristes Gehöft, aber eine gefährliche Mischung aus Nazis (der SA-Mann Kracht), französischen Kriegsgefangenen und ehemaligen Fifis (also Résistance-Leuten), russischen Gefangenen, die im wörtlichen Sinne tragende Rollen spielen (sie tragen Krüppel, herrschaftliche), und verschiedenen Frauen, deren Bösartigkeit immer mal wieder zur Schau gestellt wird. Ist es da ein Wunder, dass sich Céline vor allem an Kracht hält? Den Beschützer? Célines zweiter Trumpf ist der Schlüssel zum Schrank, in dem sich paradiesische Dinge wie Zigaretten verbergen, den ihm Harras überlassen hat. Aber wirklich helfen tut ihm das nicht. Von einer Stunde zur anderen muss er mit dem Schlimmsten, also mit seinem Tod, rechnen. Niemand will ihn, er ist Ballast, Harras beschriebt ihn korrekt als „Abwarter“, denn er kann nichts tun, er kann nur zusehen, was passiert und was mit ihm passiert, und das kann eigentlich nur das Schlimmste sein, ob er mit Deutschen konfrontiert ist, mit Franzosen oder vielleicht bald mit Russen, die vor Frankfurt an der Oder stehen.

Das Großartige bei Céline: In dieser Situation entsteht Literatur. Die paar Wehleidigkeiten abgerechnet, liest man die Beschreibungen einer ausweglosen Lage im großen und im kleinen, und man denkt weniger an Kafka oder Beckett als an Karnevalesk-Apokalyptisches, das darüber vergessen macht, dass das aktuell Politische dessen Anlass ist. Es ist vielmehr umgekehrt. Auch die Zeit des Nationalsozialismus, wie schon die Zeit des Ersten Weltkriegs, ist nicht viel mehr als eine wenn auch monströse Einkleidung der Resultate menschlichen Aberwitzes, den heilen zu wollen eben jene Ereignisse, denen Céline unterliegt, fundamental widersprechen. Man kommt da nicht raus, egal, auf welcher Seite man steht, und auch die siegreichen Sozialisten werden nur die ärmlichen oder kriminellen Folkloristen der Weltgeschichte sein, deren krasseres, hässlicheres Gesicht zu schreiben Céline unternimmt. Das Wesentlichste, so Céline, hat er beim Schreiben weggelassen, er konnte es nicht aufschreiben, weil es ihm einfach nicht passiert ist. Das ist seine Ehrlichkeit, die Ehrlichkeit der drei Punkte, die alles andere ist als eine bloße Manier.

 

Dieter Wenk

 

Céline, Norden. Roman, Reinbek bei Hamburg 1985 (Rowohlt, Paris 1964)