30. September 2012

Zwischenspiel

 

Auflösung der Idee der Kunst – Remy de Gourmont

Kurz vor der vorletzten Jahrhundertwende, im November 1899, macht der in ästhetischen Dingen äußerst sensible Schriftsteller Remy de Gourmont (1858-1915) in dem knapp 30 Seiten langen Aufsatz La dissociation des idées fast beiläufig eine Bemerkung zu dem, was die Kunst für eine sehr begrenzte Zeit einmal nicht gewesen sei, nämlich Handlangerin von Religion und Philosophie oder vereinnahmt von sozialen Ansprüchen. Gegen Ende des Textes heißt es: „Die Idee der Kunst wird vielleicht nur für wenige Jahre und für eine kleine Anzahl von Geistern aufgelöst [dissociée] worden sein.“ Um was für eine Art von „Dissoziation“ handelt es sich in dieser Formulierung und welche seltsame Folgenlosigkeit in Sachen Kunst ist gemeint?

 

Gourmonts Aufsatz ist offensichtlich geprägt von Friedrich Nietzsches genealogischem Projekt der Moralkritik (ohne dass der Name Nietzsches selbst fallen würde. Gourmonts dissociation ließe sich aber auch methodisch verknüpfen mit einem Konzept, das Gourmont noch unbekannt war, dem der Dekonstruktion.) Gourmonts Begriff der dissociation (zu deutsch: Verfall, Auflösung, Zersetzung) ist bar aller medizinisch-pathologischen Semantik; das sollte gerade deshalb betont werden, weil die Rede vom Persönlichkeitszerfall (Hermann Bahr: „Das Ich ist unrettbar“) um 1900 europaweit en vogue war. Gourmont vergleicht die begriffliche Dissoziation vielmehr mit der chemischen Analyse von Stoffen: „Die chemische Analyse bestreitet weder die Existenz noch die Qualitäten des Körpers, den sie in verschiedene Elemente auflöst, die oft ihrerseits auflösbar sind; sie beschränkt sich darauf, diese Elemente zu befreien und sie für die Synthese bereitzustellen, die, indem sie die Proportionen variiert, indem sie sich auf neue Elemente stützt, so ihr das gefällt, ganz unterschiedliche Körper erhalten wird.“

 

In großen Teilen ist La dissociation des idées ein erhellender Traktat über das, was die Franzosen, jedenfalls die Schriftsteller unter ihnen wie Gustave Flaubert oder Léon Bloy, genüsslich sezieren oder vehement attackieren unter dem Begriff des Gemeinplatzes (lieu commun), der, so Gourmont, auf einen alten Begriff der Rhetorik (loci communes sermonis) zurückgehe und erst mit der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert eine pejorative Wendung erfahren habe. Mittlerweile sei das geheime Ziel des Gemeinplatzes, eine Wahrheit auszudrücken, die aber, dissoziiert, nicht über den Status eines Vorurteils hinauskomme.  Ein Gemeinplatz setze sich normalerweise aus zwei Faktoren zusammen: einer Tatsache und einer Abstraktion. Die Behauptung: Jeder Mensch ist sterblich ist insofern ein Gemeinplatz, als die Tatsache der Sterblichkeit nicht nur auf einen Menschen bezogen wird, sondern, vom Einzelnen abstrahierend, auf alle. Diese Wahrheit ist allerdings so kränkend, dass sie meist verdrängt wird. Es ist das Gefühl (sentiment), das den Rang eines Gemeinplatzes (einer Wahrheit) bestimmt, nicht die Vernunft (raison).

 

Die Idee der Kunst, so Gourmont, sei immer abhängig gewesen von der Idee der Schönheit. Diese wiederum sei nichts anderes als die Idee der Harmonie, und die Idee der Harmonie ließe sich zurückführen auf die Idee der Logik. Genau wie in der Logik alles an seinem Platz ist, findet sich beim Schönen alles geordnet, womit das Gefühl der Lust verbunden sei. Gourmont geht noch einen Schritt weiter: Wenn von Schönheit (in) der Kunst gesprochen werde, meine man dabei immer die weibliche Schönheit. Die Abstraktion, die sich dieser Fokussierung verdankt, springt in die Augen, denn erstens sei nicht ausgemacht, dass Frauen schöner seien als Männer (wie würde sich beispielsweise ein Marsbewohner entscheiden?, fragt der Autor), zweitens könne anatomisch leicht gezeigt werden, dass die Körperproportionen der Frau gerade nicht ideal verliefen (als Beispiel führt Gourmont die nackten Frauen des Malers Cranach an). Wie aber kommt es, dass trotz der täglichen Erfahrung mit der nicht ausgemachten Schönheit der Frauen deren Bild die Idee der Kunst fundiere?

 

Die Idee der Schönheit sei keine reine Idee, sondern eine „sexuelle Illusion“. Stendhal habe die Schönheit, da sie innig mit der Idee der körperlichen Lust verbunden sei, definiert als „ein Glücksversprechen“ (une promesse de bonheur). Die Identifizierung der Frau mit der Schönheit sei „heutzutage“ so weit gegangen, so Gourmont, dass man von einer „Apotheose“ der Frau sprechen könne: „Die Schönheit ist eine Frau, und die Frau ist die Schönheit.“ Nur ein kleiner Teil der Gesellschaft habe jemals daran gedacht, diese Idee zu dissoziieren; während die Mehrheit sich an die Definition Stendhals hielte, hätten die Ästhetiker die Idee der Schönheit unter die Lupe genommen, um ihr den Absolutheitsstatus zu rauben. Für die Künstler und die Elite sei der Kunstbegriff ziemlich klar. „Die Idee der Kunst ist ganz ungezwungen [dégagée]. Es gibt eine reine Kunst, die sich nur darum kümmert, sich selbst zu verwirklichen. Selbst eine Definition darf nicht von ihr gegeben werden; das gelänge nur, wenn man mit der Idee der Kunst andere Ideen verbinden würde, die ihr fremd sind und die darauf abzielten, sie zu verdunkeln und zu beschmutzen.“

 

Wann ist die „Auflösung“ in Angriff genommen worden? Und von wem? Gourmont gibt sich in dem folgenden kleinen Abriss der Interimsherrschaft der reinen Kunst sehr bedeckt; er nennt keine Namen (für die französische Literatur würden sich etwa Benjamin Constant oder Théophile Gautier anbieten), und auch bei der Zeitangabe ist er nicht sehr präzise, er spricht von „kürzlich“ (récente).  Erstaunlicherweise fällt auch nicht der Begriff, der vermutlich auf Constant zurückgeht: l’art pour l’art, denn nur darum geht es bei dieser dissociation der Idee der Kunst. Vor der erst „kürzlich“ erfolgten Auflösung sei das „Konzept der vergangenen zwei Jahrhunderte“ die Verbindung des Kunstbegriffs mit Ideen gewesen, die diesem „normalerweise fremd“ seien, so die Idee der Moralität, die Idee der Nützlichkeit und die Idee des Unterrichtens. Die Trennung von diesen Ideen wird von Gourmont ausdrücklich als Befreiung gewürdigt. Aber nur eine kurze Zeit scheint diese Phase gedauert zu haben, denn erneut habe „man“ die fremden Ideen in Anschlag gebracht: „Die Idee der Kunst hat sich erneut mit der Idee der Nützlichkeit beschmutzt; die Kunst wird sozial genannt von den modernen Moralpredigern.“

 

Vielleicht hat es seinen guten Grund, warum Gourmont relativ unpräzise bleibt bei seinen Bestimmungen, keine Namen nennt und selbst die verschiedenen Phasen sich überlappen lässt: die letzten zwei Jahrhunderte, das wäre die Zeit von 1700 bis 1900, der Begriff l’art pour l’art taucht aber schon um 1820 in Frankreich auf, Gautiers berühmtes Vorwort zu seinem ersten Roman Mademoiselle de Maupin datiert vom Mai 1834, dort steht der skandalöse, gegen jede Nützlichkeitsanwendung der Kunst gemünzte Satz: „Der nützlichste Ort in einem Haus – das ist der Abort.“ Wenn Gourmont hier so unbestimmt bleibt, dann scheint diese liaison dangereuse mit anderen Ideen (Nützlichkeit etc.) gar nicht so sehr Sache des Kunstwerks zu sein, sondern ein von außen angebrachter Modus der Betrachtung, also eine Vereinnahmung. Das hätte den großen Vorteil, die Idee der Kunst retten zu können, ohne sie definieren zu müssen und alle Synthesen als von außen auferlegt im Grunde lässig ablegen zu können. Von der Gegenwendigkeit der „Diskurse“ sprechen die folgenden Sätze Gourmonts: „Die plastischen Künste haben eine Sprache [langage]; aber sie ist nicht übersetzbar in Wörter und Sätze. Das Kunstwerk hält Reden [discours], die sich an den ästhetischen Sinn richten und an ihn allein; was es überdies an für unsere anderen VermögenWahrnehmbarem  sagen kann, ist nicht der Mühe wert, gehört zu werden.“ Aber genau „dieser Teil“ sei es, der jene „Moralprediger der sozialen Kunst“ interessiere. Und diese seien die Mehrheit, „und da wir vom Gesetz der Mehrheit beherrscht werden, scheint ihr Triumph gewiss.“

 

Direkt im Anschluss an diese Einschätzung folgt der Satz, der am Anfang dieser Betrachtung zitiert wurde und der die Idee der reinen Kunst als, möglicherweise, bloße Episode begreift. Die Interimsherrschaft interpretiert Gourmont als einen Effekt von ungleichen Kräfteverhältnissen.  Aber gerade weil das so ist, so könnte man die Pointe Gourmonts verstehen, ficht das das Kunstwerk selbst in keiner Weise an, da es auch nach der Reinfizierung mit anderen Ideen für die, die Ohren haben zu hören, in und mit dem Diskurs reden wird, der eben der der Kunst ist. Gourmont ist sich völlig im Klaren darüber, in einer Welt unterschiedlichster Diskurse und „Wahrheiten“ (also Gemeinplätzen) zu leben, bei deren Durchsetzung wie schon gesagt meist das Gefühl die Vernunft aus dem Rennen schlägt. Gerade jene ganz undialektisch entstandene und auch wieder zuende gegangene Episode scheint zu bezeugen, dass es in diesen Dingen keinen Fortschritt geben kann. Alchimie schlägt Chemie.

 

Dieter Wenk (9-12)

 

Remy de Gourmont: La culture des idées, Paris 1964 (Mercure de France; 1900, ebd.), der besprochene Aufsatz La dissociation des idées findet sich auf den Seiten 61-91 dieser Essaysammlung.