21. September 2012

Das andere Design

 

Wie viel sie auch trennen mag, moderne und postmoderne Kunst haben etwas gemeinsam, sie sind bestimmte Negationen dessen, was sie nicht mehr sein wollen, zum Beispiel fader Akademismus seitens moderner Kunst, oder Vehikel radikaler Haltung seitens postmoderner Kunst. In beiden Reaktionen drückt sich Freiheit aus, im Sinne von sich befreien von. Das ist bekannt. Was heißt das aber, so fragt sich Boris Groys, für den Betrachter? Ist die Freiheit des Künstlers nicht erkauft mit der Befreiung des Betrachters? Wenn die alten Bewertungen nicht mehr stichhaltig sind, das ästhetische Urteil suspendiert, weil provoziert wird, auf welchem Terrain agiert der Betrachter von Kunst dann? Noch auf dem alten? Oder schon auf einem neuen? Aber wo soll das herkommen? Bringt der moderne Künstler sich nicht in eine seltsame „Falle der Freiheit“?

 

Groys schreibt: „Die Avantgarde hatte die Freiheit des Künstlers gegen alle Urteile des Publikums gerichtet. Jetzt richtet sich die Freiheit des Publikumsurteils gegen alle Begründungen und Erklärungen seitens des Künstlers.“ Was bleibt den Künstlern gegenüber einem vor allem aus Entlastungsgründen ziemlich gut gelaunten Publikum, das seine Scherze mit den Kunstwerken zu treiben weiß? Und – völlig unabhängig von den Disziplinen Avantgarde oder Postmoderne – welche wie auch immer gearteten Resonanzmöglichkeiten sind der Kunst beschieden angesichts der heutigen medialen Welt überbordender Bildproduktion? Ist nicht völlig verblendet, wer von mehr als Schattenexistenz der Kunstwelt sprechen würde? Und es kommt noch etwas hinzu: Man kann es die Omnipräsenz des Designs nennen, das nicht nur auf die Welt der Bilder und Objekte beschränkt ist, sondern erst auf die Künstler selbst, dann aber auch auf die Betrachter von Kunst und schließlich auf die nackte Präsenz des Zeitgenossen als „ästhetischem Phänomen“ übergegriffen hat. „Als Träger eines bestimmten Geschmacks, als Repräsentant eines bestimmten Lebensstils kann der Betrachter ästhetisch beurteilt werden – genau wie ein Künstler. Mit der traditionellen ästhetischen Immunität des Betrachters ist es vorbei. Das Künstlersein ist eine Pest geworden, gegen die man sich nicht mehr vollständig immunisieren kann.“

 

Boris Groys – ein Kunstnostalgiker? Nicht ganz. Wie schwer es auch immer für einen Künstler sei, Kontrolle auszuüben oder sich dem ausgeuferten Designimperativ zu entziehen, es mag immer noch von Zeit zu Zeit vorkommen, dass das einzelne Werk etwas vermag, was andere ästhetische Angebote so nicht im Programm haben: Man hat das früher einmal „Deautomatisierung“ genannt (die russischen Formalisten) oder auch die „poetische Funktion“ von Kunstwerken (Roman Jakobson). Etwas wird frei gestellt, aber im Gegensatz zur digitalen Freistellung bleibt dieses Etwas auch erst einmal so. Die Freistellung hat keine so oder so geratete Ergänzung im Sinne von Perfektionierung zur Folge. Nein. Etwas bleibt in der Schwebe, und das ist es. Man sieht, Kant ist noch nicht wirklich eklatant übertroffen worden. Und sei es mittlerweile auf kleinstem Raum: Kunst distanziert. Sie vereinnahmt nicht. Kunst ist immer noch das etwas andere Design.

 

„Die Kunst des Denkens“ ist jetzt in einer zweiten Auflage erschienen.

 

Dieter Wenk (9-12)

 

Boris Groys, Die Kunst des Denkens, hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Weibel, Hamburg 2012 (2. Auflage, Philo Fine Arts, Fundus 169)

 

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