27. August 2012

Anregung zum bohemistischen Lesen

 

Stell dir vor, es ist Krieg und du bist Kind. Von dieser nicht einfach nur moralisch bedrückenden, sondern auch lebensgefährlichen und schrecklichen Situation ausgehend, Bombardierungen der Stadt Köln durch alliierte Streitkräfte, beschreibt Karl Heinz Bohrer in „Granatsplitter“, Untertitel „Erzählung einer Jugend“ in Anlehnung an seine eigene Geschichte, die adoleszente Zeit eines Jungen zwischen 1939 und 1953. In Differenz zu einer denkbaren Autobiografie Karl Heinz Bohrers gibt es in „Granatsplitter“ ein Konzept der erinnerten Zeit, einer scheinbar verloren gegangenen, weit entfernten Zeit, als „Phantasie einer Jugend“. In einem Postscriptum zum eigentlichen Text erläutert der Autor: „Dies ist nicht Teil einer Autobiographie, sondern Phantasie einer Jugend. Der Erzähler sagt nicht das, was er über seinen Helden weiß, sondern das, was sein Held selbst wissen und denken kann – je nach seinen Jahren. Die Neugier des Lesers wird auch nicht durch eine biographische Identifizierung der übrigen Charaktere und Schauplätze befriedigt, sondern ausschließlich durch die Darstellung der Atmosphäre und Gedanken einer vergangenen Zeit.“

 

Dieses von Karl Heinz Bohrer benannte Konzept der „Phantasie einer Jugend“, in Differenz zur Autobiografie kann als Strategie des Autors gelesen werden, sich von gezwungenen Arten gewöhnlicher Selbstdarstellungen in populären Autobiografien - sich sozusagen aufzuspielen, vom Politiker bis zum Schauspieler - zu emanzipieren. Gleichzeitig steht „Phantasie einer Jugend“ als erzählerische Haltung im Unterschied zu Tagebüchern, welche beim Lesen schnell den Effekt des unmittelbar Wirklichen der erzählten Zeit präsentieren können. Am Anfang des Textes, im ersten Kapitel, das wie das Buch den Titel „Granatsplitter“ hat, beschreibt der Erzähler, wie er sich als Junge Granatsplitter vorstellt, wie er sie im Köln der Kriegszeit kennenlernt: „Es gab sie in allen Größen, in allen Farben, keiner war wie der andere. An den Rändern waren sie aufgerissen, gezackt von unterschiedlicher Schärfe. Wenn man sie unvorsichtig anfasste, konnte man sich die Finger aufreißen. In dem Moment merkte man, dass die Steine nicht aus Stein waren, sondern aus Eisen, blitzende Metallstücke. Die größeren Jungen erklärten, um was es sich handelte: Granatsplitter. Das waren aus großer Höhe heruntergefallene Splitter, die von den explodierten Flakgranaten stammten, die nachts den Donner verursacht hatten.“

 

Diese detaillierte, fantasievolle Beschreibung dessen, was bei Karl Heinz Bohrer „Granatsplitter“ heißt, wirkt wie eine etwas träumerische Erinnerung des Autors an seltsame Gegenstände aus dem Krieg, betrachtet mit imaginären Kinderaugen, gleichzeitig steckt in ihr der ästhetische Punkt als eine Art Konzept, wie Bohrer die gegenwärtige Präsentation dieser schwierigen, grausamen, nicht schönen Zeit - Kriegszeit -, der Kindheit dieses Jungen in Köln, aus Perspektive des Schreibenden denkt. Im Unterschied zum beschönigenden Ansatz, den man der mit seinem inzwischen gewachsenen Namen literarischen Ästhetik unterstellen könnte, führt ein „Granatsplitter“ metaphorisch die andauernde Gefahr der eigenen Verletzung vor; nicht nur auf physischer Ebene, man konnte „sich die Finger aufreißen“, sondern selbst in den gewohnten, gesellschaftlich vorgeschriebenen, gewohnten massenmedialen Bewegungen der Erinnerung an eine traumatische und schwierige Zeit, wie eine Kindheit im Krieg.

 

Der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann, 1940 geboren, bereits 1975 gestorben, dessen Texte von Karl Heinz Bohrer, als dieser redaktionell bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung arbeitete, anregend besprochen worden waren, sagt in der für den WDR produzierten Hörspielcollage „Die Wörter sind böse“ aus der Serie „Autorenalltag“: „Sie bemessen die Gegenwart so knapp, dass man sich dauernd immerzu verletzt.“ Dieses „sie“, könnte man jetzt ergänzen, meint bei Brinkmann den Mainstream der Gesellschaft und die mit ihr verknüpften vorgeschriebenen Strukturen der Wahrnehmung von Zeit, Gegenwart. Auch wenn es in „Granatsplitter“ nicht nur um die fantasievolle Erinnerung an eine männlich konnotierte Kindheit in Kriegszeiten geht - „der Junge“ -, weitere Stationen der Adoleszenz des Jungen sind die Schulzeit im Internat Birklehof im Schwarzwald, der Anfang des Studiums an der Uni Köln sowie in London und „auf den Apfelplantagen von Kent und dann in den Kartoffeln von Lincolnshire“, um für eine Weile England kennenzulernen und zu jobben, liefert „Granatsplitter“ das Konzept dieses erzählenden Schreibens, wie Karl Heinz Bohrer es bereits theoretisch in „Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror“ präsentiert. Als materielles Ding aus der Kriegszeit, in der Kindheit des vom Erzähler beschriebenen Jungen, steckt auf sprachlicher Ebene in dem Wort „Granatsplitter“ das Konzept einer gefährdeten Fantasie, die es erst im geduldig fantasievollen, gegen den hegemonialen gesellschaftlichen Diskurs über Fantasie und Erinnerung, schreiben zu lernen, zu verteidigen und darin, ja, vorsichtig zu ertasten gilt, ohne sich dabei unnötig verletzen zu lassen.

 

Im Bezug auf den Existenzialismus der 50er Jahre, der im Kapitel „In existenzialistischen Sandalen“ aufgeführt wird, mit Witz, ohne sich in abfällige Klischees vom historischen Existenzialismus zu stürzen, steckt in „Granatsplitter“ auch eine Kritik nicht nur Geschichte gewordener autoritärer Mechanismen im bundesrepublikanischen Bildungssystem, in dem Karl Heinz Bohrer selbst, unter anderem als Professor für Literaturwissenschaft tätig war, die klassisch die Entfaltung der (Un-)Möglichkeiten des kritischen, theoretischen und künstlerisch-literarischen Schreibens vorstellt - manchmal selbstironisch -, in individueller Differenz zu den Vorschriften der Autoritäten und ihren vermeintlich realen Institutionen, von der Schule und dem Internat bis zur Universität. „Granatsplitter“ so zu lesen, in der hier gedachten Richtung, könnte gegenwärtig heißen, das Buch gegen Images von Karl Heinz Bohrer als inzwischen konservativem Bildungsbürger oder aber als letztem lebenden Bohemien im akademischen Betrieb, dem literaturwissenschaftlichen Universitätsmilieu, bohemistisch wahrzunehmen, zu lesen.

 

Christopher Strunz

           

Karl Heinz Bohrer, Granatsplitter, Erzählung einer Jugend. Hanser Verlag, München 2012