19. August 2012

DER VERGESSENE?

 

Um vergessen zu werden, muss man zuvor erinnert worden sein – das ist eine einfache Gleichung, die sich auf Georges Bataille jedoch nicht ohne Weiteres übertragen lässt. Am 9. Juli 2012 jährte sich sein Todestag zum 50. Mal. Ohne große Nachrufe, Retrospektiven oder Ähnliches wurde dieses Ereignis übergangen – Bataille wurde schlicht vergessen. Doch schon 1961 war es bemerkenswert still um den Bibliothekar, Philosophen und Schriftsteller Bataille: Sein Tod erregte wenig Aufsehen, wie Madeleine Chapsal in dem vorliegenden Interviewbändchen ernüchtert bemerkt. Bataille ist kein normaler Vergessener, er ist nicht einfach aus der Mode gekommen oder aus der Erinnerung gelöscht worden – es ist ihm gewissermaßen nie wirklich gelungen, sich im Kulturgedächtnis einzuschreiben, und bereits zu Lebzeiten ist er stets unter dem Radar geflogen. Hinter Camus, Malraux oder Sartre ist sein Platz, wenn überhaupt, in der zweiten Reihe.

Umso erfreulicher, dass der Berliner Verlag Matthes & Seitz Bataille ihn nun pünktlich mit einem kleinen Interview-Band würdigt und mit „Die Aufgaben des Geistes. Gespräche und Interviews 1948–1961“ neben dem schreibenden jetzt auch dem sprechenden Bataille ein Gesicht gibt. Die Sammlung basiert auf der 2000 bei Farrago (Paris) erschienen Edition „Georges Bataille, Une liberté souveraine. Textes et entretiens“ und liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor. Als Herausgeberin, für die Übertragung sowie für einen einleitenden Kommentar konnte die renommierte Bataille-Kennerin Rita Bischof gewonnen werden.

 

Wer Bataille kennt, wird in den zehn kurzen Gesprächen, die zwischen 1948 und 1961 aufgezeichnet wurden, eine Gestalt erspähen, die in seinen Büchern und Essays verborgen geblieben ist. Sicher, Bataille spricht auch hier über seine großen Themen: die Souveränität, die Überschreitung, Friedrich Nietzsche, das Böse und die Literatur, allerdings wendet er seinen scharfen Verstand auch gegen sich selbst. Erstmals tritt er als Autor in den Vordergrund. Er beschreibt, wie schwer es ihm falle, beim Schreiben einen Weg festzulegen und einzuhalten, aber auch seinen Drang durch diese „Unordnung des Denkens“ (S. 57) die Grenzen von Philosophie und Poesie zu sprengen. Er nennt das „Gymnastik des Geistes“ (S. 66) – eine Tätigkeit, die jenseits jeden Zwecks steht, in sich selbst ruht und damit von jeder Form von Arbeit grundsätzlich zu unterscheiden ist. Das Schreiben wird hierbei von den nützlichen Tätigkeiten abgetrennt, mit dem Bösen assoziiert (Kafka und Baudelaire werden dabei als Zeugen geladen), zur Quelle einer Angst-Lust und schließlich zum Martyrium überhöht. Es ist in diesem Kontext nicht verwunderlich, dass Bataille – fast manisch – immer wieder auf die christlichen Märtyrer verweist, die ihm trotz seines behaupteten Atheismus als Fixsterne der eigenen Lebensführung dienen.

 

Neben dieser Selbststilisierung erzählen die kurzen Interviews auch vom Scheitern. Bataille spricht als gealterter Zyniker. Er wurde von der Politik enttäuscht, für die er sich in den 1930er Jahren noch als Revolutionär engagierte. So seufzt er lethargisch, er „setzte keinerlei Hoffnung in diese Welt“. Die literarische Kritik seiner Zeit, der er mit seiner bis heute bestehenden Literatur-Zeitschrift „Critique“ ein Gegengewicht setzte, lehnt er in ihrer professoralen Form ab. „Brutalität ist das Ideal; eine gute Kritik müsste wie eine Guillotine funktionieren, und es müsste aus ihr eher Blut als Tinte fließen.“ (S. 48) – so sein kämpferischer Verzweiflungsschlag. Hier spricht einer, der sich von der Welt betrogen fühlt, der nach aussichtsreichem Beginn in der Pariser Bibliothèque nationale auf dem beruflichen Abstellgleis in Olréans gelandet ist und von den Hauptstadt-Intellektuellen geschmäht wird. Auf fast jeder Seite des Buchs scheint dieser fundamentale Dissens durch, der Bataille mit den Intellektuellen, der Wissenschaft, der Welt und vielleicht auch mit sich selbst überwirft. Es ist abermals Madeleine Chapsal, die diese Zerrissenheit in einem Satz verdichtet: „Er verkörpert selbst, was das Ziel seiner Forschung gewesen war: extreme Positionen“ (S. 115). Im ständigen Selbstwiderspruch antizipiert Bataille damit den Kern seines Denkens: das Unmögliche. Als Bibliothekar mit betont bürgerlichem Lebensstil, Verfasser von erotisch-pornografischen Romanen und Begründer einer der radikalsten Philosophien des 20. Jahrhunderts machte er sich selbst zur unmöglichen Person. In einem der Gespräche bemerkt Bataille, dass er mit seiner Philosophie „mehr an die Sinnlichkeit als an den Verstand appelliere“ (S. 83) – gerade seine eigene Lebensführung verleiht dieser These am Besten Ausdruck.

 

Vergessen? Übersehen? Verdrängt? Bataille ist eines der widerspenstigsten Gespenster der französischen Intellektuellengeschichte und gibt sich auch in den hier vorliegenden Interviews nur schemenhaft zu erkennen. Die Texte, die eher als Beiträge zum Psychogramm dieses düsteren Denkers beitragen, als verständlicher Kommentar seiner Theorie sind, verdienen dennoch gelesen zu werden. Selten äußert sich ein Intellektueller so verletzlich und so offen. Die Gespräche liefern eine Innenansicht eines der radikalsten, riskantesten, aber eben auch fragmentarischsten Denkers des 20. Jahrhunderts. Stellvertretend hierfür steht eine Frage Batailles nach einem langen und verworrenen Gedankengang an seine Interviewerin Chapsal: „Ist mein Satz abgeschlossen?“ (S. 136)

 

Patrick Kilian

 

Georges Bataille: Die Aufgaben des Geistes. Gespräche und Interviews 1948–1961, hg. v. Rita Bischof, Berlin 2012 (Matthes & Seitz).

165 Seiten

Klappenbroschur

isbn.codobuch.de

 

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