5. Juni 2012

Von Modellen und Einsetzungsinstanzen

 

Jean-Philippe Toussaint: L’urgence et la patience

Der Semiologe Gérard Genette soll die kürzeste Zusammenfassung von Marcel Prousts Romanzyklus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit gegeben haben: „Marcel wird Schriftsteller.“ Man mag diesen kurzen Satz immer wieder wie ein Mantra vor sich hinsprechen – es wird sich kein Madeleine-Effekt einstellen, wenn man Prousts Werk nicht selbst gelesen hat. Jede Zusammenfassung verfehlt eine Sache, die Hauptsache: das Literarische. Und manche Literatur lässt sich erst gar nicht zusammenfassen, so Samuel Becketts Romane.

 

Der Leser von L’urgence et la patience (zu deutsch: Die Dringlichkeit und die Geduld) erhält in einigen der hier versammelten und meist schon andernorts veröffentlichten Texten einen ganz guten Einblick in das, was man die Schreibsituation des Autors Jean-Philippe Toussaint nennen kann. Und doch darf man diese Vorführung nicht mit einem Werkstattbericht verwechseln. Die Positionen – zum Beispiel von Autor und Leser –  sind durchaus nicht selbstverständlich austauschbar. Das Bekanntgeben eines Schreibmaschinenartikels ist keine Garantie für gelingendes Schreiben. Und wenn Toussaint mit der „Dringlichkeit“ und der „Geduld“ zwei für das Schreiben entscheidende mentale Zustände nennt, reicht es nicht aus, diese kennen zu lernen, um ein Autor zu werden.

 

Dabei ist Toussaint kein Vertreter der romantischen Inspirationstheorie. Den Schriftsteller mag zwar tatsächlich etwas überkommen, aber bevor der Geist auftritt, muss das Gelände schon ein wenig präpariert sein. Man hat es also mit mehrstufigen Arbeitsphasen zu tun. Als solche lassen sie sich nicht kopieren. Jedem Schriftsteller sein eigenes Schreibgesetz. Das sehr angenehme an den kleinen Texten Toussaints ist, dass sie ganz schwerelos scheinen, aus dem Ärmel geschüttelt, so beiläufig wie selbstverständlich. Toussaint baut keinen Mythos um den Schriftsteller auf. Er sagt zwar nicht: Jeder Mensch ist ein Schriftsteller. Aber jeder könnte einer werden. Und zwar in dem Maße, in dem er seine eigene Position auf dem Schreibstrahl „Dringlichkeit und Geduld“ für sich findet.

 

Denn diese Position ist, zumindest für Toussaint, nicht von Anfang an gegeben. Und nicht jeder Anstoß von außen wirkt für alle gleichermaßen. Und auch die Formel, die man aus diesen Texten ziehen könnte (Dostojewski + Beckett = Toussaint) ist natürlich albern. Aber sie zeigt immerhin an, dass Literatur auch aus Literatur gemacht ist. Den Anstoß zum Schreiben gab Dostojewski, das einzige Modell, das sich für Toussaint als tragfähig erwies, war Beckett. Beckett oder die Kunst der Verknappung. Kann man diese Kunst lernen? Oder umgekehrt die Kunst der Ausuferung (Proust)? Letztlich können uns die Schriftsteller (und ihre Exegeten) nicht erklären, wie und warum sie ihre Texte so geschrieben haben, wie sie sie geschrieben haben. Aber wir lassen uns gerne erzählen, auf wie vielen Schreibtischen ein Oeuvre entstanden ist oder welchen Weg ein erstes Buch genommen hat (hier: La salle de bain). Und wenn einer der hier versammelten Texte den anspielungsreichen Titel trägt „Wie ich einige meiner Hotels konstruiert habe“, dann ahnt man, wie der schöne Wahnsinn Literatur einer Spielwiese gleicht, deren Einhegung nicht gelingen kann.

 

Dieter Wenk (6-12)

 

Jean-Philippe Toussaint, L’urgence et la patience, Paris 2012 (Les Éditions de Minuit)