11. Dezember 2003

„This is not your house“

 

Es ist nicht ganz abwegig, sich vorzustellen, was passiert wäre oder passieren würde, wenn all diese kleinen Skizzen sich zu großen Erzählungen und Romanen ausgewachsen hätten und mit der Unwiderstehlichkeit des Unausweichlichen das Land überschwemmt hätten. Eine Art von umgekehrtem Nationalsozialismus. Jeder in seinem Haus und jeder in seine Kafka-Lektüre vertieft, von der keiner sagen könnte, wann sie aufhören würde. Man bräuchte keine Türen mehr zu schließen und zu öffnen, weil niemand mehr raus könnte aus sich selbst. Jeder hätte die Erfahrung gemacht, mit der er so oft in diesen Texten konfrontiert worden ist, nämlich von welcher Handlung auch ausgehend sofort und unwiderruflich in eine nicht wieder zurechtzurückende Situation gebracht worden zu sein, aus der herauszukommen auch andere einem nicht helfen können, weil sie nicht wissen, wo genau dieser Ort und diese Situation sich befinden, von denen man selbst spricht, ja, es ist eher so, dass sich die Menschen gegenseitig ihre Not zuzurufen scheinen, und in dem allgemeinen Klagen ist es unmöglich, auch nur eine, und sei es die lauteste Stimme, herauszuhören. Auf der anderen Seite, da die Leute mit nichts anderem beschäftigt sind, als sich mit dieser Situation auseinander zu setzen, haben sie eine derartige Meisterschaft in der Beschreibung dessen erlangt, was sich überhaupt beschreiben lässt, nämlich genau der Weg zurück bis vor dem point of no return, dass sie sich selbst bisweilen bewundern, dass anderen das nicht zu gelingen scheint, hört man sie doch ständig klagen, was einem selbst in den Momenten, wo man zur Ruhe kommt, auffällt, und in diesen Momenten, wo einem das ganze Debakel nicht so sehr der eigenen Situation als vielmehr die beklagenswerte und groteske Halsstarrigkeit, Dummheit und Unbelehrbarkeit der anderen so krass vorgeführt wird, möchte man am liebsten tatsächlich einmal vor die eigene Tür gehen, wenn das nur möglich wäre, und in einer noch nie geprobten Geste, mitten auf einem Platz stehend, und in einer Sprache, die man selbst noch nicht zu sprechen versteht, einmal doch alle zur Ruhe bitten will, damit doch einmal wenigstens die Möglichkeit besteht, in einem gemeinsamen Akt den Blick zurück zu wenden, an einen scheinbaren Anfang, aber da man natürlich selbst jetzt gar nichts von einem solchen Anfang weiß und auch nichts von ihm erzählen könnte und somit die anderen, hörten sie von einem solchen angemaßten und auch ihnen unterstellten Anfang, einen selbst sofort als Hochstapler entlarven würden, den man am besten gleich auf diesem Platz, den man selbst in der Einbildung eingenommen hat, zu bestrafen, und da man diese verschiedenen Momente der Aktion auf ein in sich selbst verspürtes Unbehagen als ein dann doch nur zusammenfantasiertes Truggebilde durchschaut hat, muss man doch dem nicht enden wollenden Text Recht geben, den man zu lesen vielleicht kurz unterbrochen hat, um einen kleinen Riss zu entdecken, aus dem zu blicken man die Rettung finden könnte, dieses ganze unüberschaubare Unterfangen plötzlich abzubrechen, und man lehnt sich nur zum wievielten Mal schon noch lässiger und entspannter zurück in den Lesestuhl und schüttelt mit einem sehr zuverlässigen und sehr akurat abgestuften Zucken das Gesamtknäuel der Bedenken hinweg und überlässt sich einmal mehr dem stärkenden Bewusstein, dass das Buch immerhin gerade erst angefangen hat und somit eine jetzt schon einsetzende Ängstlichkeit vor den natürlich nicht zu leugnenden Wirrnissen eine Haltung bedeuten würde, die einem als erfahrenen Leser und zu erwartenden Berichterstatter dieses ungeheuren Unternehmens nicht zustehen kann.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Franz Kafka, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass</typohead>