Über die Kraft der Aneignung
Ein Interview mit Frau Kraushaar anlässlich ihres neuen Albums
Von Liz Weidinger
Frau Kraushaar ist Künstlerin und beschäftigte sich die letzten drei Jahre mit Appropriation. Das Ergebnis ist jedoch kein überquellender und unverständlicher Worthülsentext, sondern eine Platte voller Hits. Wir haben mit Frau Kraushaar über das Konzept hinter dem neuen Album „The Power Of Appropriation“ gesprochen, das auf dem „Die Sterne“-Label Materie erscheint.
Frau Kraushaar, hast du nicht einfach ein Coveralbum aufgenommen?
Grundsätzlich ist das gar nicht so falsch. Trotzdem würde ich sagen, dass es einen Unterschied zwischen Covern und Aneignen gibt. Das Aneignen von Musik, das Umformulieren und Uminterpretieren ist ein Prozess, den ich nicht Covern nennen würde. Da denke ich immer gleich an eine ACDC-Revival-Band, die an sich vielleicht total tolle Sachen macht und während eines Konzerts bestimmt viel Spaß bringt, aber zur Beschreibung meines aktuellen Projekts fehlen mir da ein paar theoretische Aspekte. Aneignungsprozesse sind für mich bewusste Prozesse, die bis ins Politische gehen.
Kannst du erklären, was das Besondere der Aneignung ist?
Mit dem Themenfeld der Aneignung beschäftige ich mich schon sechs oder sieben Jahre, deswegen fällt es mir schwer, das in ein paar Sätzen zu erklären. In Berührung damit kam ich während meines Studiums der bildenden Kunst an der HfbK. Andy Warhol, der seine eigenen Arbeiten reproduziert hat, faszinierte mich. Später habe ich mich mit der Appropriation-Art der 1970er Jahre auseinandergesetzt. Begeistert hat mich der Aspekt, dass in dem Moment, in dem du dir etwas aneignest, in dem du etwas coverst und interpretierst, automatisch etwas Neues passiert. Das heißt, das Alte wird zu etwas Neuem, modifiziert sich und bekommt dadurch einen innovativen Charakter. Und wenn man heutzutage in die Musikmedienlandschaft blickt mit ihren digitalen Aufzeichnungsformen, überrollt einen die Flut an Bildern und Medienangeboten. Dieser Flut mit Aneignung zu antworten finde ich angemessen, anstatt als Künstlerin zu versuchen, etwas noch nicht Dagewesenes zu produzieren.
Das erste Video zur neuen Platte: Frau Kraushaar & Herr Kratzer – Istanbul Konstantinople
Für dein neues Album hast du folkloristische Musik interpretiert. Warum?
Ich habe mich mithilfe von Aneignung nicht mit Folklore beschäftigt, weil das meine Lieblingsmusik ist oder ich während meiner Pubertät total viel Folklore gehört habe. Sie war so etwas wie mein Forschungsgegenstand, den ich untersucht habe.
Was waren deine Ergebnisse?
Ein ganz interessanter Aspekt der Lieder ist, dass sie in ihrer Beliebtheit und Verbreitung einer Entwicklung unterworfen sind und meine Version die Aneignung der Aneignung der Aneignung ist. Für viele Lieder gab es eine kleine Hochphase, dann wurde es 20 Jahre später noch mal entdeckt, von einer anderen Kapelle gespielt und der Ursprung des Liedes vergessen. Zum Beispiel wurde „Perfidia“ vom mexikanischen Komponisten Alberto Dominguez geschrieben, zuerst als Instrumental von Xavier Cugat bekannt, das dann mit englischen Lyrics in den 1950ern für Nat King Cole zu einem Erfolg wurde und heute zum Beispiel bei meinem Lieblingsregisseur Wong Kar-Wai wieder als Filmmusik auftaucht.
Heißt das, du hast dich intensiv mit den unterschiedlichen Versionen und Kontexten der Lieder beschäftigt?
Ja, das war ganz schön viel Arbeit, aber auch eine große Freude, da kann man sich völlig vertiefen. Ich habe zu fast jedem Lied bis zu 30 Versionen zu Hause. Dabei sind viele Lieder dem klassischen, popinteressierten Publikum gar nicht so bekannt, aber wenn man sucht, stellt man fest, dass das Lied richtig verankert ist: Ich habe Videoaufzeichnungen von privater Hausmusik bis zu Kirchenchorinterpretationen gefunden.
Gibt es dann überhaupt noch eine Originalversion?
Irgendwann löst sich der Begriff des Originals tatsächlich auf. Es ist dann eben Volksgut, Folklore, Volksmusik, und das interessiert mich.
Gibt es noch weitere spannende Erkenntnisse?
Ich habe mich auch mit der Frage beschäftigt, wie ein Lied überhaupt funktioniert. Und auch wenn die Songs aus unterschiedlichen Ländern und Zeiten kamen, gab es immer jemanden, der singt und erzählt, und jemand anderen, der dazu Musik macht. Und daraus kann man natürlich nicht nur etwas über klassische Songstrukturen erfahren, sondern eben auch viele andere Informationen herauslesen: die ungefähre soziale Einbettung oder Geschlechterrollen, Gefühle wie Trauer und Freude oder die politischen Geschicke des Landes. Es begeistert mich total, wie viele soziokulturelle und politische Informationen über ein einziges Lied vermittelt werden können.
Kannst du das an einem Beispiel erklären?
Wenn man sich allein die Aufnahme des Stücks „Amara Terra Mia“ von Domenico Modugno anschaut, ist das richtig eindrucksvoll. Modugno mit dem schwierigen Lied in einem großen Fernsehstudio und voll besetztem Publikum, er fängt cantare, also allein mit der Stimme gefühlvoll an zu singen. Es gibt keine große Show, und trotzdem ist das Publikum total still und gebannt, man spürt die emotionale Aufladung. Da habe ich mich gefragt, wie eine solche Situation entstehen kann. Schließlich habe ich herausgefunden, dass es das Lied italienischer Auswanderer war, die ihre Heimat und Familien verlassen mussten und nach Amerika gegangen sind, weil große Armut im Land herrschte. Das zeigt, welche wichtige Rolle Lieder als Erinnerungsträger der Gesellschaft spielen und wie sie Geschichte über Generationen vermitteln.
Domenico Modugno – Amara Terra Mia
Konzerttermine
14.6. Würzburg – Kellerperle
15.6. Nürnberg – Hemdendienst
18.6. Zürich, Schweiz – Boschbar
20.6 Biel, Schweiz – Biotop
27.6. Hamburg – Golden Pudel Klub
Frau Kraushaar – The Power Of Appropriation / Materie Records, Rough Trade / VÖ 25.05.2012