27. Mai 2012

Eine schöne Zwangsjacke

 

Filme wurden früher ausschließlich im Kino angeschaut, für das sie gemacht waren. Der heutige „Nutzer“ von Filmen geht zwar auch noch manchmal ins Kino, aber er greift verstärkt zurück auf modernere Trägersysteme und Abspielbasen wie Fernseher, DVD und Internet. Dass sich mit dieser Diversifizierung des Zugangs zu Filmen nicht nur die Freiheit des Nutzers erhöht, sondern der Charakter von Filmen grundsätzlich verändert haben, ist die These von Lars Henrik Gass und vielen anderen eingefleischten Cineasten. Während früher im Kino gezeigte Filme zumindest potenziell die Fähigkeit hatten, so Gass, eine andere Wirklichkeit zu zeigen, anzuplausibilisieren oder sogar als notwendig zu behaupten (als anderer), so würde die heutige je eigene Freizügigkeit mit dem Film genau diese Notwendigkeit unmöglich machen, da sich der Zuschauer der Zumutung des Kinos nicht mehr auszuliefern habe. Er kann abschalten, zappen, anderes dazwischenschieben, sich also zerstreuen. Die neue Freiheit ist nichts anderes als eine meist nicht als solche erkannte Immunisierungsstrategie eines sich selbst erhaltenden Systems.

 

Kino dagegen war früher – und das meint Gass ganz positiv – eine Zwangsveranstaltung. Er versteht nämlich Kino (als singulare tantum!) als einen „mentalen Raum, in dem man eine Wirklichkeit nicht mehr betrachtet, reflektiert oder sich vorstellt, sondern in der Zeit verloren zur Wahrnehmung gezwungen ist.

 

So kann man sich Thesen vorstellen, die zur Falsifizierung geradezu einladen. Ich muss gestehen, dass ich nur in den seltensten Fällen meiner ein abgeschlossenes Kapitel darstellenden Geschichte der Kinogeherei tatsächlich den Zwang verspürt habe, dass mir jemand seine Sicht der Dinge aufoktroyieren wollte und ich das mitmachen musste – meistens habe ich dann den Kinossal verlassen. Nein, ich bin, wie wahrscheinlich viele andere auch, gerne ins Kino gegangen und habe in keiner Sekunde den angeblichen Lastcharakter des Wahrnehmungszwangs verspürt. Diese Formulierung sieht mir zu sehr nach Masochismus aus, und für mich ist und war Kino weder eine sadistische noch eine masochistische Veranstaltung. Warum werde ich überhaupt im Kino zu einer „fremden Wahrnehmung gezwungen“? Und was unterscheidet diesen Zwang von Konfrontierungen mit anderen Medien? Im Kino sitze ich mit mehr oder weniger vielen anderen in der Dunkelheit zusammen und bekomme etwas vorgesetzt, das ich (noch) nicht kenne. Was aber hat diese freie Entscheidung, ins Kino zu gehen, zu tun mit dem „durchaus autoritäre(n) Zwang, eine andere Wirklichkeit für eine beschränkte Dauer anders wahrnehmen zu müssen (und sie nicht nur zu betrachten oder sie sich nur vorzustellen)“?

 

Was für ein seltsam verkürztes Wahrnehmungsmodell steht nur hinter einer solchen Formulierung. Sie würde eine gewisse Rechtfertigung gehabt haben in den 60er Jahren des forcierten Behaviourismus. Völlig unverständlich auch, sie auf das Kino tout court zu projizieren. Und bezeichnend, den Zwang gewissermaßen zu nobilitieren. Ein Paragone neueren Datums macht sich bemerkbar, wenn Gass Kino und Kunst versucht, gegeneinander auszuspielen: „Film funktioniert nicht wie eine Ausstellung, durch die man rennt und von der man hinterher beim Milchkaffee behauptet, sie gesehen zu haben.“ Das ist nicht sehr seriös, denn nicht nur ist eine Ausstellung, sondern jedes einzelne Kunstobjekt durchaus Milchkaffe-imkompatibel. Ohne eine gewisse Aufmerksamkeit läuft gar nichts, aber sie hat absolut nichts mit Zwang zu tun. Ich kann alles, aber auch wirklich alles einfach sein lassen, sogar einen Film, den ich mir im Kino ansehe.

 

Der Zwang, von dem Gass spricht, ist ein Phantom. Und Narziss, den Gass vor allem im Fernsehen und den heutigen Medien verortet, hat im Kino immer mitgeschaut. Und wenn Gass versucht, etwas von dieser „anderen Welt“ des Kinos zu sagen, dann auf eine mitunter so holperige und abweisende Art, dass man nicht versteht, warum er es sich mit seinem Kinozwang so schwer macht. Ein Beispiel, ein Abgang: „Das macht Warhols Filme so radikal, weil sie die Grenze von Kino berühren, also die Passivität im Zwang zur Warnehmung, indem sie eine keineswegs nur falsche ,interaktive’ Erfahrung der eigenen, vor allem auch schöpferischen Freiheit erlebbar machen, die aber unmittelbar und notwendigerweise aus der Wahrnehmung jener anderen Welt resultiert, welche allein das Kino vorschlagen kann.“

 

Jedem sein eigenes, durchaus immer verbesserungsfähiges Abbruchunternehmertum.

 

Dieter Wenk (4-12)

 

Lars Henrik Gass: Film und Kunst nach dem Kino, Philo Fine Arts 2012

 

Cohen+Dobernigg

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