24. April 2012

Sermo interruptus

 

Erich Mühsam: Tagebücher, Band 2, 1911-12

Natürlich taucht auch jetzt wieder die Torggelstube auf. Und das Café Odeon. Und der Bunte Vogel. So schnell ändern sich die Gewohnheiten nicht. Und die Probleme. Das Geld, das Mühsam nicht hat, der Vater, den er immer noch hat und dem er den baldigen Tod wünscht zwecks freieren Lebens. Und natürlich immer wieder die Frauen, die er heftig begehrt und nur selten sexuell vollständig von sich überzeugen kann. Das Gejammer ist groß. Die Sorgen sind natürlich auch ein bisschen selbst gemacht, und Mühsam weiß das. Dass ihn die Frauen ausnutzen (Margot Jung), ihn hinhalten (man nenne sie Phalanx), seine Taktik niemals eingebettet ist in eine stringente Strategie.

Aber vielleicht ist das gelebter Anarchismus. So richtig wehleidig ist er ja nicht. Seine Theorie gegen Eifersucht: Hier wird sie gelebt, mit allen Schikanen. Der Leser, der den Theoretiker Mühsam hier erwartet, wird enttäuscht. Anders gesagt belohnt das Detail die „fehlende“ abstrakte Position, so zum Beispiel, wenn Mühsam erzählt, wie er eine Frühform des später in Graz bekannt gewordenen „Free Schach“ erfindet: „Ich habe mit Morax zusammen ein neues Spiel begründet, das wir jetzt täglich versuchen: Schach, bei dem die Figur, die gezogen werden muss, ausgewürfelt wird. Da wir dabei Strafen und Belohnungen von 1-5 Pf eingeführt haben, ist das Hazardspiel sehr lustig. Eben habe ich 26 Pfennige gewonnen“ schreibt Mühsam stolz zu Beginn des Jahres 2012.

Es wird das Jahr werden, in dem ein sehr bekanntes Schiff untergehen wird, in dem der „Blaue Reiter“ für Gesprächsstoff sorgt und die Kubisten und Futuristen die Geschmäcker aufmischen. Mühsam verteidigt letztere (noch), „da sie mir trotz aller Übertreibungen und mancher Geschmacklosigkeiten im Wollen sehr ernst und im Können sehr beträchtlich zu sein scheinen.“ Doch auch der Anarchist Mühsam ist gar nicht so weit von der bürgerlichen Position entfernt, wenn er angesichts von Marinettis im „Sturm“ von Herwarth Walden publizierten Manifest zum literarischen Futurismus, das während einer Cabaret-Veranstaltung in München vorgelesen wird, auf die Barrikaden geht und vor Neubewertungen warnen zu müssen glaubt: „Ich war“, so Mühsam nachträglich im Tagebuch, „über das Zeug (das brillant stilisiert war) so ungehalten, daß ich das Wort zu einer Polemik erbat, und nun trug sich der merkwürdige Fall zu, daß das Cabaret zur Tribüne wurde. Ich wehrte mich dagegen, daß man das Grammophon höher werten sollte als den Gesang, den Kientopp höher als das Theater. Ich predigte Kultur und Kunst anstatt Zivilisation und Technik und schloß mit dem Wunsch, daß“...

Mitten im Satz hört Mühsam auf. Was kann so wichtig sein, ein Glaubensbekenntnis solchen Ausmaßes zu unterbrechen? Natürlich nur eine Frau: Am Tag darauf, es ist der 14. April 1912, liest man: „Den Schlußsatz mußte ich bis heute unterbrechen, weil Dr. Emma Gellért kam, mit der ich mich sogleich nackt ins Bett legte.“ Und Mühsams Wunsch? Der wird natürlich sogleich nachgereicht, von ihm selbst, „daß die von den literarischen Futuristen glorifizierte Rapidität der Dinge zunächst mal über den literarischen Futurismus hinwegfegen möge.“ Übrigens hielt sich eine nicht ganz unwichtige Figur des künstlerischen Futurismus im Sommer des Jahres 1912 in München auf. Sein Name: Marcel Duchamp. Wird es zu einem Duell Mühsam-Duchamp kommen?

Davon weiß vielleicht der dritte Band der Tagebücher zu berichten, den wir genauso sehnsüchtig erwarten wie den zweiten.

 

Dieter Wenk (4-12)

 

Erich Mühsam, Tagebücher, Band 2, 1911-12, hg. von Chris Hirte und Conrad Piens, Verbrecher Verlag 2012

 

Cohen + Dobernigg

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