1. April 2012

Selbstheilung

 

Thomas Bernhard, 1931–89, österreichischer Musiker und Behauptungskünstler. Meister der Fuge und des Kontrapunkts. Begnadeter Schimpfmotoriker und dilettierender Philosoph. Mit 15 hatte ich Angst vor seinen Büchern. Schulfrei, krank, im Bett liegend, begann ich mit „Frost“ und legte es aus Gründen der Selbstheilung weg. Jahre später las ich „Beton“ und erlebte Bernhards empathische Fähigkeit, jenseits seines (Selbst-)Behauptungszwangs. In diesem Jahr kam ich über Denis Diderots „Rameaus Neffe“ in einer Art assoziativer Kurzschlusshandlung zu „Wittgensteins Neffe“ und anschließend zu „Alte Meister“, beide von Thomas Bernhard.

 

„Alte Meister“ handelt von einer Dreiecksbeziehung zwischen den Herren Atzbacher, einem Schriftsteller der nicht veröffentlicht, Irrsigler, dem Museumswächter im Kunsthistorischem Museum und dem Musikwissenschaftler, Kritiker und Essayisten Reger. Die drei treffen sich seit über 30 Jahren vor Tintorettos „Weißbärtigem Mann“ im Bordone-Saal im Kunsthistorischen Museum Wien. Ulysses-artig zieht das Leben von Irrsigler und Reger in den wenigen Minuten ihrer Begegnung mit Atzbacher an uns vorbei.

In „Alte Meister“ zeigt Bernhard sich, wie Reger, als Essayist. Kontrapunktisch setzt er alltägliche Banalitäten gegen höchste Kunstansprüche. Und verfugt in essayistischer Weise seine Ansichten über Glauben, Kirche, Staat und Staatskunst, Kunst, Liebe, Mythen, Aufklärung und Idealismus miteinander. Schimpft über Heidegger, Stifter, Bruckner und Velasquez. Bewundert Goya und lässt sich von Schopenhauer retten. Und kommt von dort zu Waldsterben, Museumsführungen und Kunstvermittlung. Dabei kristallisieren sich zwei, einander kontrapunktisch gegenüberstehende Lebenshaltungen. Der Durchdringungsfanatiker einerseits, ein Verweis auf Schopenhauer, vielleicht auch auf Atzbacher, ganz deutlich wird dessen Haltung aber nicht, und anderseits die Haltung des philosophierenden Essayisten Reger, mit dem Leitspruch: Was wir genau studieren, verliert in uns an Wert. Dies wiederum scheint auch Berndards Haltung, betrachtet man „Alte Meister“ als ein Sammlung von geschickt verwebten Essays.

Ein komplexes Beziehungsgebilde auf 300 Seiten – unmöglich so etwas als Comic, denkt man.

 

Nicolas Mahler ist dies gelungen. Und Bernhard selbst liefert ihm eine Steilvorlage mit Reger: „Ein großes bedeutendes Bild halten wir nur dann aus, wenn wir es zur Karikatur gemacht haben.“ Und weiter, „Die meisten Menschen sind aber zum Karikieren unfähig, sie betrachten alles bis ans Ende mit fürchterlichem Ernst.“ „Wir halten“, so Reger, „das Ganze und das Vollkommene nicht aus.“  Heißt, erst in der Karikatur, also in der Vereinfachung und der Verzerrung, erkennen wir das große Ganze. Mahler nimmt Karikatur wörtlich. Wörtlich wie Bernhard die Kunst der Fuge beim Schreiben. Mahler fugt Schrift- und Bildpanels ineinander. Close-ups, Totale, Schwenks und feste Einstellungen in verschiedenen Kadrierung. So verschachtelt, rücken Text und Bild einander weiter und schreiben die Geschichte. Das Ganze, also die Auswahl der Textpassagen, die Verkettung von Bild und Schrift sowie Mahlers lockere Strichführung bilden eine unangestrengte Hommage an Bernhards Original. 

 

Mein Lieblingssatz in „Alte Meister“ ist allerdings: „Freilich, ich habe über ein Jahr gebraucht, um überhaupt diesen Gedanken denken zu können, aber jetzt denke ich diesen Gedanken gänzlich ungeniert.“ (Es geht um den Tot seiner geliebten Frau. Diese tiefgründige Wahrheit trieb mir sofort seinen Stachel ins Fleisch. Denn wieso dauert es Jahre, was ja tatsächlich jeder Denkende kennt, um etwas denken zu können. An welchen (inneren) Tabus scheitert ein augenblickliches Denken. Und welchen Weg müssen die gedachten Worte durch den Körper gehen, um überhaupt als gedacht wahrgenommen werden zu können? Und letztendlich heißt der Satz doch auch, dass man vielleicht lebenslang nicht alles denken kann. Eine ergreifende Vorstellung. 

 

Dank Mahler habe ich Frieden mit Bernhard geschlossen. Jetzt wäre es Zeit, wiederholt mit „Frost“ zu beginnen. „Alte Meister“ sollte unbedingt zusammen mit „Wittgensteins Neffe“ gelesen werden.

 

Christoph Bannat

 

"Alte Meister", Thomas Bernhard gezeichnet von Nicolas Mahler, Suhrkamp Verlag, Klappenbroschur, 158 Seiten, 18,95 Euro

 

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