31. März 2012

Alles muss raus

 

Dieter Roth (1930–98): Entladungskünstler, Durchlauferhitzer, Entäußerungsartist, Entblößungsakrobat, Selbstperformer, erfolgreicher Selbstverhinderer, Selbstentgrenzer und Selbstentstilisierer. Er ist Schriftsteller, Filmer, Maler, Macher, Grafiker, Performer. Sein Motto: Alles muss raus. Ein Spruch, der gewöhnlich auf einen Ausverkauf hinweist. Und tatsächlich versucht Dieter Roth den letzten Scheiß an den Mann/die Frau zu bringen. Und das ist wörtlich gemeint. So, wenn er jeweils das letzte benutzte Toilettenpapierblatt, in langen Reihen von Leitz-Ordnern verwahrt, ausstellt. Dieter Roth gewährte uns lange vor Big-Brother-Sendungen Einblicke in die Tiefen seines Privatlebens. Typisch Entblößungskünstler, denkt man. Wohl wissend, dass die Wirklichkeit jedes Klischee schlägt. Doch Roth versucht, jenseits aller Klischees, ganz einfach nur die Wirklichkeit zu schlagen. Er trinkt sich während seiner Lesungen unter den Tisch, als Bestandteil seiner Lesung. Er liest und nimmt die Lesung auf Tonband auf. Und liest anschließend über, und gegen, die eigene Tonbandwiedergabe. Er veröffentlicht die „Zeitschrift für alles“, in der alles Eingeschickte veröffentlicht wird. Dabei bekommt jeder Einsender ein Belegexemplar, sodass die Zeitschrift sich mit zunehmender Leserschaft selbst ruinierte. Er lässt Bücher zweimal hin und zurück übersetzen und veröffentlich das Endprodukt inklusiv der Fehler. In diesem Zuge, vielleicht in ironischer Referenz auf die Bewegung konkrete Poesie, in der er auch gehandelt wurde, muss auch „Murmel“ 1974 als Stück entstanden sein. Ein Packpapierheftchen, in dem nur dieses einzige Wort hundertfach steht.

 

Herbert Fritsch, Jahrgang 1951, Schauspieler und Regisseur, Hallodri und Übertreibungskünstler, Luftikus und Spaßvogel, als der er wohl auch Roths Heftchen entdeckt haben muss und scheinbar einen Geistesverwandten erkannt zu haben glaubt. Er hat die Unmöglichkeit gewagt, dies Stück aufzuführen. Gelungen ist ihm das nicht. Dass er es versucht hat, gerade diesen Text aus der bildenden Kunst zu generieren, ist ihm hoch anzurechnen. Dieter Roth ist ein äußerst ernsthafter und ernst zu nehmender Künstler. Erst dadurch entfaltet er seine eigentliche Größe. Selbst wenn man den kulturkritischen Gestus seiner Lebensperformance streicht, bleibt ein einzigartig kunstvoll fragiles Werk. Herbert Fritsch bringt gerade diese Ernsthaftigkeit nicht auf. Sein Theaterstück wirkt wie kultivierte Workshopstammtischideenregie. Und um das nicht dumm wirken zu lassen, wimmelt es von Zitaten. 50/60-Jahre-Kostüme und Frisuren, Tütü-Späßchen, Verweise auf Eurythmie- und Tanztheater-Gruppendynamiken und einBarnett-Newman-Hard-Edge-Bühnenbild, das „Wer hat Angst vor Rot, Gelb, Blau“ – entstanden zwschen 1966 und 1970 – zitiert. „Dinner for Two“-Stolpergags und Bühnenstürze ins Parkett. Schlau zitiert in ihrer spielerisch distanzierenden Übertreibung, um sie als listig fragendes Ausrufezeichen erscheinen zu lassen. Und genau in dem Moment, da man sich fragt, wie es mit diesem einzigen Wort Murmel, dessen akustische Maske immer wieder gewechselt wird, das 70-minütige Stück weitergehen soll, setzt Musik ein. Musik als Kitt, der den Teller Buntes mit einem süß klebrigen Guss überzieht. Als vertraue man den Worten – pardon dem Wort nicht mehr. Keiner dieser Theatergemeinschaftsgags ist zu billig, als dass man ihn nicht so lange wiederholt, bis er langweilt und nur noch als Zitat seiner selbst funktioniert. Und auch der Effekt des rasend atmenden Bühnenbilds, aus farbig zusammengeschobenen Leinwänden, einen so überraschend einfach wie erfrischendem, wird dann so oft in verschiedenen Variationen wiederholt variiert, bis er schal wird. Als folgte das Ganze der Angst, das 11. Gebot nicht übertreten zu wollen, das da lautet: Du sollst nicht langweilen. Doch gerade (auch) aus dieser Langeweile-Ecke kommt Dieter Roth. So spielt Fluxus gerade mit der Erfahrung der kultivierten Langeweile. Einer Langeweile, in der der Zuschauer, zurückgeworfen auf sich selbst, sich seiner selbst, seiner Ansprüche und Erwartungen bewusst wird. Von Samuel Beckett bis John Cage. Dafür bleibt, bei diesem bunt inszenierten Feuerwerk zwanghaft guter Laune und Unterhaltungssucht keine Zeit. 

 

Christoph Bannat

 

http://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/murmel/

 

31. März 2012