Pressestimmen
Kultur & Gespenster Nr. 8: HOCHSTAPLER
LITERATUR
Hamburger Zeitschrift "Kultur und Gespenster"
Kulturjournal - Anna Soucek
In die Zeitung von heute wird morgen der Fisch eingewickelt - diese Redewendung beschreibt die Kurzlebigkeit von tagesaktuellen Meldungen, von Zeitungen und Magazinen. Das Gegenteil trifft auf eine Zeitschrift aus Hamburg zu, eine Zeitschrift für Literatur, Theorie, Bildende Kunst und Comic. "Kultur und Gespenster" heißt sie und sie ist - laut ihren Herausgebern "mehr als eine Zeitschrift, aber weniger als ein Buch".
Die Ausgaben sind jeweils einem Thema oder einer Persönlichkeit gewidmet: dem Essayisten und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt etwa oder dem Thema „Interview als Form". Die neueste Ausgabe zum Überbegriff "Hochstapler" wird übermorgen in Hamburg präsentiert.
Link: kulturgespenster.de
Textem - Kultur & Gespenster
ORF, Di, 16.06.2009, Länge: 4:28 min
Mit Liebe erpresst
In seiner Jugend liebte er zwei Dinge, Literatur und die Klassenkameradin Helga Dahmel. Eine eigene Karriere als Schriftsteller will jedoch nicht gelingen, und die Angebetete verlässt plötzlich das Heimatdorf, ohne dass die Zuneigung erwidert würde. Aber auch Helga schreibt, und so kann er aus der Entfernung wenigstens ihre Texte lieben. Der Kontakt zu Helga reißt allerdings ab, bis sie Jahre später unter dem Pseudenym "Bettine Vondenloh" berühmt wird. Für Journalisten bleit der Literaturstar aber ebenso unerreichbar wie für den ehemaligen Schulkameraden. Dieser ergreift jedoch die Chance, sich ihr nun wenigstens in der Literatur zu nähern, indem er sich in Bettines fiktionalen Lebenslauf einschreibt. Er würtz die Biographie der Vondenloh mit einer gemeinsamen Vergangenheit und lässt diese an die Presse durchsickern. Ein Happy End kann es für ihn aber nicht ohne ein Treffen mit der Angebeteten geben. Was liegt also näher als eine gut gemeinte Erpressung, um sie ein letztes Mal wiederzusehen? Verquirlt sind Helga, ihre Literatur und der namenlose Protagonist mit allerlei Merkwürdigem. Die Überreste eines toten Wals, eine Wachsstatue Himmlers, ein Flugzeugabsturz, ein Familienmord und ein abgestürztes Propellerflugzeug sind Teil der Geschichte Helga Dahmels. Der Autor Frank Witzel reiht die bizarren Motive am Ende so selbstverständlich aneinander, dass selbst absurdeste Zusammenhänge plausibel erscheinen. In Kombination mit seinem fiktionalen Anhang ist "Vondenloh" zugleich ein unterhaltsamer Roman, eine Persiflage auf den Literaturbetrieb und eine Vorführung der Konstruiertheit realistischer Erzählungen.
Frank Witzel: "Vondenloh". Textem Verlag, Hamburg 2008, 220 S. geb., 18 €
scht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Juni 2009
In zwei Stunden durch Jahrhunderte Deutsche Literaturgeschichte
Geschwind und frech: Klabund
(…)
Eine Ausnahmeerscheinung sei hier noch angezeigt: Klabunds „Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde“, neu aufgelegt nach der 1921 in Leipzig erschienenen Edition (Vorwort: Volker Weidermann; Nachwort: Dieter Wenk). Nun, man braucht eher 120 als 60 Minuten, um „Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart“ (Untertitel) zu gelangen.
Klabund, eigentlich Alfred Henschke (1890 –1928), schert sich nicht um Kanon und übliche Entwicklungsgänge, er zieht seine ureigenen Schubladen und aus ihnen viele heute unbekannte Namen, malt szenisch aus, scheut nicht zurück vor Superlativen und vor Typisierungen der deutschen Seele, die er in Faust, Eulenspiegel und Parzival verkörpert sieht.
„Lest Bücher, Deutsche“
Das ist von umwerfender Frische und frecher Gewichtung, getragen vor allem von der Liebe zum deutschen lyrischen Lied und zum Märchen, gestützt auf viele originelle Formulierungen. Über Lessing: „Er ist nicht so langweilig wie die, die sich bei ihm langweilen.“ Über den großen Jean Paul: „Freilich, es ist nicht leicht, zu ihm zu gelangen. Er hat sein Schloss mit Dornenhecken, Fallgruben und Selbstschüssen umgeben.“
Klabund macht Lust. Sein Ruf möge nicht ungehört verhallen:
„Lest Bücher, Deutsche, lest die Bücher eurer Dichter, und ihr werdet glücklicher und manchmal glücklich werden.“
Klabund: „Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde“; Textem, 126 S., 11,90 Euro www.textem-verlag.de/Klabund.html
VON GÜNTER OTT
Augsburger Allgemeine, MITTWOCH, 3. JUNI 2009
Kreatives Beben
Nackte Amerikaner und Bordelle in der Provinz: Die Leistungsschau der deutschen Print- und Werbeszene wird auch dieses Jahr Maßstäbe setzen. Sie veranschaulicht, was kommt und was bleibt.
Nach einer Krise bei den Printmedien sieht es in den Deichtorhallen nicht aus. Am Wochenende Warteschlangen vor der Kasse, täglich jede Menge Besucher bei der Ausstellung der "Visual Leaders 2009", der Schau über das "kreative Leistungspotential der deutschen Zeitschriften- und Werbebranche". Hier wird "Das Beste aus deutschen Zeitschriften" gezeigt.
Und das Allerbeste wird am 1. April mit Gold-, Silber- und Bronzepreisen in den vier großen Kategorien Zeitschriften, Fotografie, Anzeigen und Online prämiert, die wiederum in 18 Bereiche aufgeteilt sind.
Bei Zeitschriften zum Beispiel gibt es Preise für das Cover des Jahres, für den Beitrag, das Feature, die Illustration, den Newcomer, den VisualLeader und das LeadMagazin des Jahres. Dafür sind in diesem Jahr "Brand Eins", "Stern", und "Zeit Magazin" nominiert. Der Preis für den Beitrag des Jahres wird an den "Stern", an "Vanity Fair" oder an den SPIEGEL gehen, für die Titelgeschichte "Der Bankraub / Die Chronik der Ereignisse, die zur Finanzkrise führten".
Alle Nominierungen sind ausgestellt, manche mit den Originalseiten, andere groß abgezogen.
Die Entscheidungen über die Preise treffen 120 Juroren, eine Jury hat beim Durchforsten von 350 Zeitschriften und 200 Websites die jetzt nominierten Beiträge herausgefiltert. Darauf ist Markus Peichl stolz, denn dies sei "der einzige Medienpreis, bei dem es keine Einreichungen gibt", sagt der Vorsitzende der "Lead Academy für Mediendesign und Medienmarketing e.V.", die den Preis organisiert und zum achten Mal vergibt.
Zwei Neuerungen gibt es allerdings: Die Ausstellung ist schon vor der Preisverleihung zu sehen, und die Besucher können online über einen Publikumspreis abstimmen. Bestenfalls erst dann, wenn sie die gesamte Schau angesehen haben.
Nominiert sind Giorgia Fiorio mit Fotos zu Ritualen verschiedener Religionen, Michael Schirner, der aus Nachrichtenfotos Bildelemente herausretuschiert hat und Ryan McGinley. Dessen sechs Farbfotos mit nackten und übermütigen jungen Amerikanern aus dem "Zeit Magazin" könnten auch in einer Galerie hängen, nicht nur weil sie entsprechend groß präsentiert werden, sondern weil McGinley eigentlich als Künstler gehandelt wird. Der überhitzte Kunstmarkt der vergangenen Jahre feierte ihn und seine aus der Werbe-und Modefotografie kommende Ästhetik als große Entdeckung.
Vor den Online-Nominierungen drängen sich die Besucher an vier Computern, jeder will sich durch die Sparten klicken: Nominiert bei den Magazinen sind Bild.de, Baunetz und Byte FM. Außerdem werden WebTV, Weblogs und eine Webcommunity prämiert.
Im selben Raum hängen die Vorschläge für den Preis in der Kategorie "Architektur- und Still-Life-Fotografie". Zweimal ist das "Zeit Magazin" nominiert: mit fotografierten Vogelschwärmen und mit allen 52 Fotos von Peter Langer, mit denen er wöchentlich die "Stilfragen" illustriert hat.
Aus "032c", dem Lead Magazin 2008, könnten die vier wunderbaren Fotos der Künstlerin Collier Schorr preisgekrönt werden. Und vielleicht bekommt die Serie "Bordelle in der Provinz" von Herbert Perl eine Auszeichnung. Überraschend, dass die Fotos hier hängen, denn sie sind aus "Kultur und Gespenster", einem im Kunstkontext erscheinenden Hamburger Magazin in kleiner Auflage - die Jury hat gründlich geguckt.
In der Abteilung "Mood- und Mode-Fotografie" hängen die wilden Musterbilder von Steven Meisel, ebenfalls nominiert sind die bunten Fotos von Nan Goldin und die verblüffenden, auf den Kopf gestellten Fotos von Anuschka Blommers und Niels Schumm. Dreht man sie um, haben die Modelle deformierte Gesichter.
Um das "Foto des Jahres" konkurrieren "Das Duell /McCain und Obama" ("Stern"), das bereits ausgezeichnete, erschütternde Bild "Georgienkrieg/Zwei Brüder" (SPIEGEL) und "Beinaheabsturz /Landung in Hamburg-Fuhlsbüttel" ("Stern").
Wer das alles gesehen hat - von vielem war gar nicht die Rede - ist erstmal erledigt. Aber nicht vergessen, vor dem Heimweg noch schnell per Computer über den Publikumspreis abzustimmen: Welches von 56 Fotos ist das Beste? Bis zum 20.3. hatten schon 6000 Besucher 206.000 Mal geklickt (bis zum 30.3. möglich unter www.abendblatt.de/daten/2009/03/12/1083108.html ).
Nach dem 1. April sollte man noch einmal in die Ausstellung gehen: Dann sind die Trends und die Trendmacher benannt, das "kreative Beben, das noch nie Dagewesene, Richtungsweisende", wie Peichl sagt.
Und es wird sich streiten und kommentieren lassen: Wie oft SPIEGEL und "Stern"? Was hat "032c", was "Dummy" nicht hat? Und warum wurde "Vanity Fair" eingestellt, wenn es so gute Geschichten hatte? Sind die Großverlage einfallslos? Hat Kreativität mit Selbstausbeutung zu tun? Und was ist schnell noch mal "Kultur und Gespenster"?
"Lead Awards 2009. Visual Leader 2009. Das Beste aus Deutschen Zeitschriften". Hamburg. Deichtorhallen. Bis 26.4., Tel. 040/32 10 30.
Ingeborg Wiensowski, DER SPIEGEL, 24. 3. 2009
Carsten Klooks Wortspielereien um eine Elb-Wasserleiche
Lauenburg (ud) – Für Carsten Klook bot Lauenburg ein halbes Jahr lang im Künstlerhaus ein inspirierendes Arbeitsfeld. Der 48-Jährige war Stipendiat der vergangenen Generation. Jetzt stellte er das Manuskript seines Buches in einer Lesung im Künstlerhaus vor. Sein Roman handelt von dem Drehbuchautor Marc, der für einen Krimi recherchiert, sich in die Künstlerin Jill verliebt und dessen Figuren plötzlich selbstständig handeln. Marc geht mit der engen Kleinstadt Lauenburg, in der mehr Wert auf Historie als auf Gegenwart gelegt wird, auf Tuchfühlung. Er empfindet die Unterstadt als einen Ort, der nicht wirklich lebt, so Klook. In schier endlos langen Sätzen bedient sich der Autor einer Schreibweise, die von der Fiktion in der Fiktion getragen wird. Durch die Aneinanderreihung von Wiederholungen bekommen seine Dialoge einen beschwörenden, fast hypnotischen Anstrich. Damit erreicht Klook, dass der Leser dem Ende seiner Sätze entgegenfiebert. Immer wieder wird der Einfluss der Lauenburger Zeit und die Begegnungen mit Menschen in der Elbstadt im Werk des Autors deutlich. Das Buch wird entweder unter dem Titel »Stadt unter« oder »Gespenster in der Unterstadt« erscheinen.
Ödnis und Überdruss
Der Hamburger Carsten Klook und Andreas Stichmann aus Leipzig lesen beim Literaturzentrum
Es ist nicht schwer, sich vom fundamentalen Elend des Daseins zu überzeugen. Eine runde Summe Schlafentzug und schon wird jeder Ton stumpf, jede Farbe blass, jeder Gedanke leer. Angenehmer ist es, zu solchem Zweck Carsten Klook zu lesen, genauer: seine im Band "TV-Lounge" versammelten Geschichten. Die führen den Leser mitten hinein in die Ödnis des Unverbundenen, in die Wälder des Überdrusses - zumal, wenn man den Schummel der Literatur willens ist zu schlucken: Denn vom Überdruss zu lesen macht bei Klook durchaus Lust auf mehr.
So groß die Vereinzelung, so kalt erscheint die Gesellschaft bei Klook. Von dem Protagonisten der ersten Geschichte "Senna!" heißt es sezierend, Beziehungen zu Frauen hätten bei ihm nie länger gehalten "als 1.200 Betriebsstunden". In einer anderen Geschichte erzählt ein Redakteur für Fernsehzeitschriften, er habe im letzten Jahr mehr als 500 Geschlechtsakte auf der Mattscheibe flimmern gesehen. Die Zahl der erlebten Berührungen bleibt weit dahinter zurück. 20 Mal hätte man ihm die Hand gegeben, zur Begrüßung oder zum Abschied.
Klook schreibt knapp, lakonisch - wie sollte es bei der Thematik anders sein. Ferien in Italien schildert er so: "Eine Wespe lässt sich auf einem Arm nieder. Und hebt wieder ab. Holzschalen liegen zum Trocknen auf dem Steinmosaik der Terrasse. In der Ferne röhrt ein weiteres Mofa einen Berg hinauf. Jemand guckt unter den Tisch. Jemand ist im Auto." Manchmal schrumpfen die Sätze auch auf das Stakkato von Signalwörtern zusammen: "Die Sonne. Der Atem. Die Haare. Das Salz." Zwar hat schon Benn so geschrieben. Aber lesen tut es sich noch immer gut. MAP, tageszeitung
17. 3. 2009, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38
Carsten Klook
Der Hamburger Autor Carsten Klook macht seit einigen Jahren mit experimenteller Poesie von sich reden. Heute liest er aus seinem neuen Erzählband "TV-Lounge" im Literaturhaus.
In den fünf Erzählungen schildert er allerlei befremdliche Begebenheiten im Kaurismäki-Stil und den Versuch der Figuren, ihnen zu entkommen. Klook hat bereits zweimal den Literaturförderpreis der Hansestadt Hamburg erhalten. Ergänzend trägt der Leipziger Autor Andreas Stichmann aus seinem gelobten Debüt "Jackie in Silber" vor. In einer präzise verknappten Sprache scheitern seine Protagonisten darin am ganz alltäglichen Wahnsinn.
Lesung: Carsten Klook und Andreas Stichmann heute, 20.00, Literaturhaus (Metrobus 6), Schwanenwik 38, Eintritt 7,-; ermäßigt 4,-
17. März 2009, Hamburger Abendblatt
Der Krieg im Nebensatz
Wie sieht's aus in Belgrad? In "Keine weiße Stadt" erschaffen Luise Donschen und Felix-Sören Meyer ein beeindruckendes Bild der Bewohner und ihrer Geschichten
Belgrad: Die Stadt aus dem toten Winkel. Eine Galerie
Ein paar Bilder sind schon da. Grün leuchtet der Nachtsichtgeräthimmel. Nato-Kampfflugzeuge fliegen ihre Angriffe auf Belgrad. Bomben flimmern herunter auf Schatten, als seien sie nur Licht oder Feuerwerk. So sah Krieg im Fernsehen aus, 1999 auf der ganzen Welt. Dazu kommen die neuen Bilder, einige Jahre später. Leseprobe, Lonely Planet Best of Belgrad: "Eine Stadt mit einer unwiderstehlichen Energie." Profan wie eine Postwurfsendung klingt die Reiseführersprache: hinfahren, harten Euro ausgeben, tanzen in Ruinen, Partys wie in New York.
So, und jetzt: Was wissen wir eigentlich über diese Stadt? Da ist unsere Erinnerung, da sind die Reiseberichte, die Kriegsschrecken und die Touristenattraktionen. Sie bilden den Rahmen. In ihm liegt ein schwarzes Loch und darin wohnen die Menschen, die Belgrader. Die Autorin Luise Donschen und der Fotograf Felix-Sören Meyer haben hineingeschaut, anderthalb Jahre lang. Keine weiße Stadt heißt ihr Reportageband – Reportage sowohl in Bild als auch Text. Seitenzahl: 395, zweisprachig, Deutsch und Serbokroatisch.
Dort treffen wir Künstler, einen Priester, eine Bäckerin, ein junges Mädchen. Zehn Menschen unterschiedlichen Alters haben die Autoren besucht. Unter ihnen ist auch Rambo Amadeus, der Erfinder des "Turbo-Folk", und wir steigen mit ihm auf die Dächer der Stadt. Sein Name collagiert Serbiens Geschichte, die alte – und auch die jüngste. Von dieser kann er erzählen. Während er die Bühnen im Land bereiste, wurden "Tuzla und Dubrovnik bombardiert".
Wenige Seiten später sagt er: "Milošević war nicht der Grund des Übels", es sei die Balkanmentalität. Die Autorin lässt es stehen, lässt solche Sätze hallen. Sie kommentiert nicht, sie zeigt vielmehr, leitet den Leser durchs Gewirr der Straßen und Stimmen, kenntnisreich und detailliert. Manchmal bloß, da ist sich Donschen selbst im Weg, verbaut ihr "Ich" die Weiterreise und die Sätze holpern über Belgrads Straßen.
Nicht lange, dann hört man plötzlich mehr Belgrad, als man sieht. Zweitakter husten, Gebrumm, Gedröhn, hier trifft sich "was Räder und Beine hat", die Hochhäuser schieben sich heran. Eine alte Frau sieht auf die Stadt und erzählt vom Zweiten Weltkrieg, vom Bombenhagel: "Wenn es eine kurze Pause gab, kamen die Menschen aus ihren Verstecken, jemand spielte Akkordeon und es wurde Kolo getanzt – und was für einer!"
Belgrad, wie es riecht. Belgrad, was es sich zu sagen hat. Kurze Anekdoten. Krieg im Nebensatz, Menschen im Nebensatz des Kriegs. Ein wohl komponierter, zehnstimmiger Kanon erzählt von seiner Stadt. Manchmal sind es nur flinke Kritzeleien im Geschichtsbuch, Randnotizen: wie Zootiger an einen Mafia-Boss vermietet wurden, oder wie der Wind durch das Plattenbaulabyrinth Neu-Belgrads pfeift. Von Theater im Pornokino, vom Sonnenuntergang aus dem Autofenster eines alten Yugos. Dann entfaltet sich die Stärke des Buchs.
Donschen und Meyer kommen dicht heran an ihre Protagonisten, dicht an die Silhouetten der Vergangenheit, die die Wohnzimmer der Stadt durchziehen, als seien sie lästige Gespenster. Die Menschen versuchen sie zu erklären, sie zu vergessen, wie die Statuen damaliger Helden, die nun im kniehohen Unkraut rosten.
Nicht nur in den erzählten Geschichten, auch auf den Fotos blickt man in die Seele der Stadt, auf ihre Märkte, die gottverlassenen Straßenecken und den Hochhausgrusel. Oft stehen kleine Einschübe neben den Bildern. Sie erklären uns historische Begriffe, führen uns ein in die Architektur und Märchen der Menschen. Unsere vormals unscharfen Vorstellungen gewinnen an Kontur.
Keine weiße Stadt leuchtet in Belgrads Winkel. Und oft sind es jene toten Winkel, in denen kurz das Herz stolpert und in die kein Reiseführer uns je führte. Zu den wahren einsamen Planeten.
Die Autoren präsentieren ihr Buch am 30. Januar um 20 Uhr in der Galerie Trottoir in Hamburg.
VON DAVID HUGENDICK | © ZEIT ONLINE 30.1.2009 - 17:22 Uhr
Luise Donschen, Felix-Søren Meyer: "Belgrad - Keine weiße Stadt", Paperback, 400 Seiten, 17 x 23 cm, vierfarbig, Materialverlag / Textem Verlag 2009, 40 €
Belgrad im Buch
Autorin Luise Donschen und Fotograf Felix-Sören Meyer stellen ihr Buch über Belgrad vor
taz: Frau Donschen, wie kommt man nach Belgrad?
Luise Donschen: Ich habe mich für Ex-Jugoslawien interessiert. Und dass man in Deutschland als Serbienreisende harsch angegangen wird, machte die Sache umso spannender.
Was hat man so gesagt?
Teilweise heißt es tatsächlich: Was, du gehst zu den Schlächtern? Da ist die Boulevard-Sprache erschreckend präsent in den Köpfen mancher Menschen.
Wie hat man Sie in Belgrad aufgenommen?
Mit viel Neugierde. Aber auch mit einer Portion Skepsis. Einer der Protagonisten unseres Buches fragte: Seid ihr Kommunisten oder habt ihr ein Problem mit Sex? Unser Vorhaben, ein Buch über Belgrad zu schreiben, schien ihm irgendwie pervers.
Wieso das?
Es gibt natürlich schönere Länder und Städte als Belgrad, um seine Zeit zu verbringen. Und die meisten Leute in meinem Alter wollen ja raus aus der Stadt.
Warum das?
Das Leben in Belgrad ist beschwerlich. Die Infrastruktur funktioniert nicht, die Stimmung ist fatalistisch, die letzten 15 Jahre gab's nur was drauf.
Gibt's auch was Schönes?
Die Spontaneität der Belgrader ist beeindruckend. Wenn der Bus nicht kommt, tja, dann geht's halt anders. Und die Stadt selbst: manche Ecken sehen aus wie Berlin, nur nicht so aufgeputzt. Mitten hindurch fließen zwei Flüsse. Die vielen schrägen Restaurants und Hausbootkneipen an den Ufern, die hätten wir gerne an die Elbe importiert.
INTERVIEW: Maximilian Probst, tageszeitung 30. Januar 2009
Luise Donschen, Felix-Søren Meyer: "Belgrad - Keine weiße Stadt", Paperback, 400 Seiten, 17 x 23 cm, vierfarbig, Materialverlag / Textem Verlag 2009, 40 €
Vondenloh
Das skurrilste, durchgeknallteste, ironischste Buch dieses Herbstes heißt „Vondenloh“ und stammt von dem in Offenbach am Main lebenden Autor Frank Witzel. In überraschenden Volten wird darin die Geschichte von Helga Dahmel erzählt, die als Bettine Vondenloh über Nacht die literarische Welt erobert, aus ihrer Vergangenheit aber ganz divenhaft ein Geheimnis macht. Man ahnt bald: Hinter ihrer Eitelkeit dräut eine dunkle Lebensgeschichte. Der Erzähler von Witzels zischen überdrehtem Krimi und Satire changierenden Roman ist ein Jugendfreund von Helga und ein Exeget von Bettines Werk.
Der 1955 geborene Frank Witzel, der bereits zwei wunderbare und verwunderlicherweise wenig beachtete Romane veröffentlicht hat, schraubt die Absurditäten mit geradezu heiterer Gelassenheit in die Höhe bis hin zu einem pseudowissenschaftlichen Anhang: In manieriertem Tonfall ist das erzählt, und wir kommen Bettine immer weiter auf die Spur und können zugleich die Usancen des Literatubetriebs immer weniger ernst nehmen.
Ulrich Rüdenauer, meier, Das Magazin für das Rhein-Neckar-Delta, Januar 2009
Frank Witzel: Vondenloh. Textem Verlag 2008, 220 Seiten, 18 €
Keine weiße Stadt
„Ihr wollt also ein Buch über Belgrad schreiben. Seid ihr Kommunisten, glaubt ihr an Gleichheit oder habt ihr ein Problem mit Sex?“, fragt der Musiker Rambo Amadeus die Autoren Luise Donschen (Text) und Felix-Søren Meyer (Fotos). Mit ihrem Porträt der „Weißen Stadt“, die zwar so heißt, aber keine weiße Stadt ist, haben die Filmemacherin und Autorin und der Sänger und Fotograf bewiesen, dass es viele Gründe dafür gibt – und ganz andere. Den jungen Künstlern ist ein wunderschönes, seltsames und doch geschichtsbewusstes Porträt einer Stadt gelungen, die keine weiße Stadt ist, obwohl sie auf Serbisch so heißt: Beograd. Die Präsentation im Trottoir markiert zugleich den Auftakt einer Zusammenarbeit mit dem Materialverlag der Hochschule für bildende Künste (HfbK), der damit aus seinem Schlummer erweckt wird.
Julia Mummenhoff, Szene Hamburg, Januar 2009
Am 30. 01. 2009 um 20 Uhr werden die Autoren ihr Buch in Form einer Fotoausstellung präsentieren. Parallel dazu laufen Videos von einer Lesung mit den Protagonisten des Buchs, die im Dezember 2008 in Belgrad stattfand.
Trottoir, Hamburger Hochstraße 24, St. Pauli, 20359 Hamburg
Das liest man!
Diese zwei müssen es sein. Frank Witzels Vondenloh und Eliot Weinbergers Das Wesentliche. Witzel: schwungvoll, ein bisschen verrückt, ein herrlich komischer Betriebsnudelroman zum Ausklang des Jahres. Und Satzungetüme kann Witzel wie der Tellkamp. Dann Weinberger. Seine 34 Essays wühlen sich durch 4000 Jahre Menschheitsgeschichte. Wie hinreißend klar ist seine Sprache! Wie belesen der Autor! Kein wissenschaftlicher Schwurbel, kein Fußnotensalat, sondern literarische Miniaturen zu chinesischen Mythen, Mohammeds Liebeleien, Iglus und Nashörnern. Weinberger zeigt uns auf manchmal nur drei Seiten die Welt, wie wir sie noch nie gesehen haben.
Frank Witzel: Vondenloh. Textem Verlag 2008, 220 Seiten, 18 €; Eliot Weinberger: Das Wesentliche. Berenberg Verlag 2008, 213 Seiten, 24 €
David Hugendick, ZEIT ONLINE 22. 12. 2008
DeBug
DeBug, Januar 2009
Thomas Baldischwyler: T.B.S.T.A.V.
23x16,5 cm, 36 Seiten, durchg. Farbabb., Textbeiträge von Thomas Jeppe, Interview mit Rancid Shit Wank, Passager of Shit und einer 4.5 inch Vinyl mit Swift Treweeke und Alex Vivian live in Melbourne, 2008, 10 € Textem Verlag
Drums and Impressions
La vidéo Book of the Film: Drums and Impressions, 08/05/08 11:25 PM est un produit dérivé du livre Drums and Impressions, publié par Kaspar chez Materialverlag Textem. Il s’agit d’une suite d’images : un ami de l’artiste visualise le contenu du livre (photographies et courts textes) sur l’ordinateur, tandis qu’un caméraman filme l’écran le 8 mai 2005 à 23h25. A mi-parcours du film, arrivé à l’image 25, c’est déjà la fin et les images se montrent à rebours pour conclure le diaporama par son début. Il faut voir le film ou tourner les pages du livre pour bien comprendre. Mais, outre son goût pour la dispersion de matériel, la notion de style ( le grain du super 8 comme a great moment of affect), on peut déjà ajouter deux choses au film de Tobias Kaspar :
1. une réflexion sur le médium film : une mise en abyme technique du médium filmique : le film, qui est fait d’images en mouvement, montre lui-même un défilement d’images ;
2. et la volonté de déjouer le cycle du temps aussi : un jeu d’avant-arrière du contenu qui devient infini / loop / ruban de Möbius / Ouroboros, le serpent grec qui se mord la queue.
/ Léa Fluck
Tobias Kaspar (1984) a étudié à la Hochschule für bildende Künste de Hambourg et poursuit son cursus à la Städelschule de Francfort (DE).
En 2006 il fonde showroom à la fois espace d’exposition coopératif et projet artistique. www.showroom.st
Der Film wird zurzeit im Buchladen vom Centre Culturel Suisse gezeigt. www.ccsparis.com/
Anschließend in Centre Pompidou Video Lounge. Bureau des Vidéos (www.bureaudesvideos.com) at the Georges, situated on the top of Pompidou Center. Curated by Léa Fluck
Klappschatten
Tillmann Terbuyken: "Schatten und Statuen", mit Texten von Ursula Panhans-Bühler und Holger Birkholz. Inlet 32 Seiten plus Umschlag 14,5 x 18,5 cm, in aufwendiger Pappbroschur, 14 Seiten mit farbigen Abb., 22,00 €, Textem Verlag 2008
In sehr ungewohntem, experimentellem Format präsentiert sich „Schatten und Statuen“. Es ist einerseits ein Buch zu einer Ausstellung, übernimmt aber andererseits – mehrfach aufklapp- und faltbar – selbst die Form eines Ausstellungsobjektes. Man hält einen sogenannten „Klappschatten“, besser „Buchschatten“ in Händen. Ein Klappschatten ist jenes Phänomen, was man gelegentlich erlebt wenn „man bei Licht über eine Treppe läuft und der eigene, sonst flache Schatten eine mutwillige Eskapade in die dritte Dimension übernimmt“. Im Band wird inhaltlich zweisprachig (dt./engl.) die Ausstellung von Tillmann Terbuyken auf intellektuellem Niveau reflektiert. Terbuyken präsentierte im März 2008, in den Räumen des Kunstvereins Harburger Bahnhof e. V., eine begehbare Sklupturenlandschaft, die durch Bilder und „Paravents“ komplementiert wurde. Zwischen den Skulpturen wirkt manches wie nachlässig hingestellt, vielleicht bewusst unperfekt. Es ist schwierig, etwas außer eine Dynamisierung des Raums in diese Ausstellung hineinzulesen. So bleiben denn auch die beiden AutorInnen in ihrer Beschreibung meist auf einer sehr abstrakten Ebene. Ein Ausstellungsband, der qualitativ sehr hochwertig gemacht, jedoch für nicht Dagewesene etwas schwer greifbar ist. Für Kunstinteressierte und Sammler.
Christian Eder, NoisyNeighbours, 25 www.noisy-neighbours.com
Kaffeesatzreste mit Wurst
Tobias Kaspar: "Drums and Impressions", gestaltet von Pascal Storz, Hrsg. von Wigger Bierma, gebunden, 118 S., 35,00 €, Textem Verlag / Materialverlag 2008
Das Alltägliche in die Kunst zu integrieren, d. h. zur Kunst zu erheben ist spätestens seit dem Dadaismus kein Novum mehr. Kurt Schwitters z. B. hat es genial verstanden, alltägliche Dinge in künstlerische Perspektiven zu übernehmen und daraus Neues zu kreieren. Tobias Kaspar versucht sich der Idee augenscheinlich anzuschließen, hinterlässt beim Betrachter aber nicht mehr als ein gähnendes Staunen. Stühle, hingeworfene Klamotten, Kaffeesatzreste mit Wurst und Trockennudeln, Essensreste. Nun ja. Kaspar scheitert in seinem Band „Drums and Impressions“ daran, dass er das Alltägliche im Profanen belässt. Er bietet zwar gelegentlich nette Perspektiven, erweitert aber nicht die Räume. So weit das Gähnen. Staunen kann man allerdings über die aufwendige Aufmachung, die großen Respekt verdient. Ein schickes Cover im Reptiliendesign mit silbernen Prägedruck. Dazwischen fadengebunden, verschiedene Formate. Hochglanzdruck marmoriertes Inlay, Büttenpapier u. a. Von der Herangehensweise aus gesehen, ein neues, frei-gestalterisches Konzept für ein Kunstbuch umzusetzen, ist dieser Band sehr gelungen. Inhaltlich leidet es jedoch an einer profanen Überinterpretation der Beuysschen Maxime: „Jedermann ist eine Künstler“.
Christan Eder, NoisyNeighbours, 25 www.noisy-neighbours.com
Der Ekel vor den eigenen Bedürfnissen
Blick in deutsche Zeitschriften
"Kultur & Gespenster" erkundet postmoderne Triebstauungen
Den Verächtern der visuellen Kultur wird momentan das Leben schwer gemacht. Denn auch von akademischer Seite springt man ihr längst bei. Am verblüffendsten vielleicht der Aachener Philologe Ludwig Jäger im Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte „Nach Feierabend“. Unter Rückgriff auf evolutionsbiologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse rollt er die Frage nach Herkunft und Natur der Sprache auf. Allgemein anerkannt ist längst die These, dass die Aufrichtung des Gangs ein entscheidender Moment für die Entwicklung der menschlichen Spezies war.
Überraschender ist die Einsicht, dass das Freiwerden der Hand nicht nur die technische Entfaltung des Menschen möglich machte, sondern auch die Entwicklung einer vielschichtigen Gebärdensprache. Erst nach vermutlich vielen hunderttausend Jahren „fand dann offenbar mit der Auslagerung der Sprache aus dem gestisch-visuellen in das vokal-auditive System eine zweite Befreiung der Hand statt: Sprachliche Instruktion und technisches Handeln konnten nun in ein neues komplexes Verhältnis treten, das offensichtlich zu einem revolutionären kulturellen Schub führte.“
Wort gegen Bild, ein hegelianisches Erbe
Für die Gestensprache, zu der man Ansätze schon bei Primaten findet, macht Jäger die Spiegelneuronen verantwortlich, jene Hirnzellen, die nicht nur bei Tätigkeiten ihres Besitzers aktiv werden, sondern auch, wenn er Handlungen seiner Artgenossen beobachtet. Hier liegen die Wurzeln für eine „gemeinsame Kodierung von Rezeption und Aktion“ und damit für eine symbolische Darstellung von Handlungszusammenhängen.
Genau dieses Vermögen zur Nachahmung führte zur Gebärdensprache, die als Inszenierung im Ausdrucksbereich der Hand nicht weniger begrifflich und abstrakt war, als die heutige Wortsprache seit jeher an impliziten Bildern reich ist. Jäger erinnert daran, dass das medienkritische Ressentiment gegenüber der „Aufdringlichkeit des Piktoralen“ auf Hegel und den deutschen Idealismus zurückgeht, der das Wort im Namen der befreienden Abstraktion gegen das Bild in Stellung brachte.
Mitfühlen aus der Distanz des Theaters
Auf ganz anderem Wege kommt der Bonner Germanist Helmut J. Schneider zu einem vergleichbaren Ergebnis. In der „Deutschen Vierteljahrschrift“ widmet er sich dem Neuentwurf von Öffentlichkeit, der in der Guckkastenbühne des achtzehnten Jahrhunderts zum Ausdruck kam. Anders als im höfischen Theater, wo die Grenzen zwischen Zuschauern und Spielern verflossen, löscht man nun das Licht und macht das Publikum zu stummen Voyeuren von Darstellern, die wiederum so tun, als gäbe es eine vierte Wand zum Publikum. Die vor allem von Lessing und Diderot dazu entwickelte Theorie sieht vor, dass das Auditorium von den aufgeführten Dramen gerührt, ja in ein synchrones Beben der Sympathie mit den Leiden der Figuren versetzt werde.
"Nach Feierabend" bringt Wort und Bild gegeneinander in Stellung
Die körperliche Ferne bei gleichzeitiger emotionaler Nähe zu den Charakteren sollte das menschliche Geschick geistig erfahrbar machen und die Gesellschaft als Ganze in einem allgemeinen moralischen Gefühl verbünden. Was im wirklichen Leben an Leidenschaften grell, egoistisch und anstößig erscheinen mochte, wurde im Theater auf annehmbare Weise temperiert und – man möchte sagen: durch die Aktivität der Spiegelneuronen – als symbolischer Wert des menschlichen Daseins konsumierbar gemacht. Bei der Uraufführung von Lessings „Miss Sara Sampson“ soll das Publikum dreieinhalb Stunden leise vor sich hin geweint haben: vereint im Gefühl der geteilten Humanität.
Die geopferte Fleischeslust
Im Guckkastentheater erkennt Schneider den Archetypus für „die abstrakten Kollektive der Moderne“, für Solidaritäten, die sich von persönlicher Bekanntschaft emanzipieren. Er weist darauf hin, dass den heute selbstverständlichen Meinungs- und Sympathiekartellen ein abstrahierender Schnitt und eine kategoriale Trennung zwischen Fühlendem und dem, mit dem er sympathisiert, vorausging. Im Rückgriff auf Jochen Schulte-Sasse spricht Schneider sogar von der „Opferstruktur der Moderne“.
Die "Vierteljahreschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte" schaut in den Guckkasten
Was geopfert wird, um sich eins mit dem Rest der Welt fühlen zu können, ist das „fleischliche Begehren“. Vom Zuschauer der Sara Sampson, der heulend im Dunkeln sitzt, führt ein direkter Weg zu der Empathie des einsamen PC-Benutzers. Was er für ihm elektronisch zugestellte Wirklichkeit halten mag, ist ein seit Jahrhunderten präformiertes symbolisches Ereignis, das seinen Trieb zur unmittelbaren Kontaktaufnahme diszipliniert.
Der Ekel des postmodernen Individuums vor der Lust
Auch der Linzer Kulturwissenschaftler Robert Pfaller („Kultur & Gespenster“) traut den sinnlichen Verheißungen der Gegenwart nicht. Als Grund des Übels sieht er die „endlose Affäre, die postmoderne Individuen mit sich selbst unterhalten“, verurteilt dazu, „ihre ganz persönliche Identität“ ständig neu zu „sampeln“. Bei den Vorlieben, Eigenarten und Leidenschaften, zu denen sie sich bekennen, gehen sie immer schon davon aus, dass der nächste sie nicht teilt. So kommen sie nicht länger in den Genuss jener kollektiven Dimension, die einst Aberglaube und kulturelle Riten garantierten.
Im Gegensatz zu den erzindividualistischen Möchtegernhedonisten von heute ist Pfaller aber der Ansicht, dass nur eine verbindliche Kultur den Einzelnen zur periodischen Überschreitung seiner Genusshemmung bewegen kann. Es ist noch nicht lange her, da verlangte der öffentliche Raum geradezu, dass man beim Eintritt in ihn aus sich herausging. Zum Rauchen spazierte man ins Café, zum Trinken in die Bar, zum Singen in die Kirche, und wer zum Tanzen zog, hatte gefälligst ein Mädchen aufzufordern. Heute beherrscht die Öffentlichkeit der Ekel vor diesen Bedürfnissen, und sie werden hinter die vierte Wand der heimischen Stube verbannt.
Doch weil auch der Einzelne sich ohne kulturelle Stütze vor seinen Bedürfnissen zu ekeln beginnt, leben wir in einer „extrem lustfeindlichen, asketischen Kultur“, die „Scharen von Spielverderbern und Nasenbohrern auf allen Ebenen erzeugt“. Nur rituelle Entgrenzungsfeste und -zonen, über die frühere Kulturen verfügten, haben es dem Einzelnen erlaubt und ihn geradezu dazu gezwungen, seine persönliche Hemmschwelle zu überwinden. „Sublimation“ nennt Pfaller diese kollektive Lust pikanterweise.
FAZ, Ingeborg Harms, 07. November 2008
Höhenflieger und Bruchpiloten
Kultur & Gespenster aus Hamburg ist keine literarische Zeitschrift, sondern ein cross over-Projekt, das die Künste mit deren Reflexion auf unterschiedliche Weise kurzschließt und das Spielfeld des Bedenkenswerten in Bild und Text mit lässig anmutender dabei staunenswert überlegen geführter Hand erweitert. In der sechsten Ausgabe bedenkt Kai van Eikels anhand der musikalischen Formation „Broken Social Science“ die Möglichkeiten, als Künstler in einem Schwarm exzellenter Talente nicht unterzugehen, sondern strahlend zur Entfaltung zu kommen, sein Potential in einer Art Genie-Pool in beflügelndem Wettbewerb zu steigern und stets bereit zu sein, in wechselnden Formationen Neues zu probieren. So schön und plausibel sich das anhört: Auch hier gilt gewiss das alte Kir Royal-Motto „Wer reinkommt, ist drin.“
Und wie weit es vom Schwarm bis zur Qualifizierung als „die üblichen Verdächtigen“ durch die wie üblich unverdächtig außen vor Gebliebenen ist, wird auch nicht thematisiert.
Der erfrischende Polemiker Enno Stahl macht sich in dem Text „Bolz, Hörisch, Kittler und Winkels tanzen im Ratinger Hof“ über die apokalyptischen Anwandlungen besagter Geisteswissenschaftler und Großkritiker lustig, denen der Pogo der achtziger Jahre nun als ordinarienartiger Diskurs-Pogo in die Glieder gefahren sein soll, weswegen sie immerfort das Ende der Buchkultur verkünden – in Büchern, wie sich versteht.
Ole Frahm untersucht „Antisemitische Stereotype in Hergés ‚Tim und Struppi’“ und fördert Überraschendes zutage. Nathalie Grenzhaeusers Schwarzweißfotografien aus Spitzbergen zeigen eine unwirtliche, durch die Eingriffe des Menschen versehrte Landschaft, in der nicht zu sein man sofort froh ist, um sich dann freilich – von Angstlust und einem Hang zur schönen Leere angezogen – den Bildern immer wieder zuzuwenden.
In einem Comic von Alessandro Tota genügt es einem Partyschnorrer nicht, sich zu betrinken und Mädchen mit plumpen Sprüchen anzumachen, sondern er klaut auch noch ein T-Shirt und die Uhr des Gastgebers, bekommt dafür aber ordentlich was aufs Maul: ein schönes Seitenstück zu Blake Edwards’ „Partyschreck“. Und Roman Schramms „Living as an Art“ versammelt so elegante wie schwule Fotografien – herrlich der mit weit ausgefahrener Zunge vor Fliesenhintergrund Eis schleckende Beau mit Einstecktuch –, deren Überdeutlichkeit in leichtfüßige Ironie umschlägt.
Andreas Heckmann, Am Erker, Zeitschrift für Literatur, 31. Jahrgang 2008. Nr. 56
Hülle des Menschen
Ein Buch, das man buchstäblich begreifen muss. Das Cover strahlend weiß. Kein visueller Aufmacher. Schlichte Typografie, ein Understatement in Buchstaben. Erst der Kontakt mit dem Schutzumschlag erschließt das Besondere: Das neutrale Paper fühlt sich an wie Haut: Besser: eine leicht gecremte menschliche Hülle, etwas kühl vielleicht. Haut, das ist unsere Grenze zur Welt, unser größtes Organ, eine „semipermeable Membran“, wie die Dermatologen sagen. „Die Haut reguliert die Körpertemperatur, nimmt an der Vitaminsynthese teil, beherbergt die Sinnesorgane und ist einflussreicher Spieler im soziokulturellen Gefüge.“ (Volker Steinkraus)
Letzteres lässt sich sogar fotografieren. Was ist das Porträt, was ist Aktfotografie anderes als Hautfotografie? Klingt allerdings nüchterner und weniger sophisticated.
Haut im Bild
Zunächst ist unser Buch das Ergebnis einer geglückten Zusammenarbeit. Sprechen könnte man von einer Symbiose zwischen Wissenschaft, Kunst und Kulturbetrieb. Seit Jahren fördert das Dermatologicum Hamburg die zeitgenössische Fotografie in Gestalt eines Fotowettbewerbs, dessen Ergebnisse jeweils auf der Triennale der Photographie präsentiert werden. So zeigte bis 6. Juli 2008 das Kunsthaus Hamburg rund zwei Dutzend künstlerische Positionen, verbunden allein durch die gestellte Aufgabe und die Tatsache, dass es sich um Nachwuchsfotografinnen und –fotografen handelt. Das Spannende am Thema: Es lässt eine sowohl emotionale wie rationale Herangehensweise zu, gestattet Frösteln ebenso wie Staunen und Rätseln wie im Falle von Sebastian Glombik, dessen nächtliche Architekturen einen Satz von Herzog/de Meuron aufzugreifen scheinen: „Die Hülle thematisiert den Kern.“
Joy Eva Kröger thematisiert Schönheit wie Verletzlichkeit der Hände. Nele Glück dokumentiert Interieurs, deren mitunter bizarre Möblierung in einem wie auch immer gearteten Zusammenhang mit unserem Wohlbefinden stehen. Lia Darjas nähert sich dem Porträt, wobei der Begriff „ungeschminkt“ ihre Arbeit zu leiten scheint. Während Mareike Günsche mit ihrem Bild die Grenze zur Performance überschreitet. Ein Text von Dagmar Burkhart führt aus kulturwissenschaftlicher Perspektibe in das Thema ein. Kurzbiografien der Künstler runden ein Buch ab, dessen Ausgangspunkt, Idee und Resultat man nicht weniger als loben kann.
Haut – Künstlerische Photographie, 144 Seiten, 28 Euro, Textem Verlag 2008
hmk, Photo International, November/Dezember 2008
Zwerchfellerschütternd
Wer wissen will, wie verrückt die junge deutsche Literaturszene ist, sollte Frank Witzels «Vondenloh» lesen.
Der in Offenbach lebende, 1955 geborene Autor, trotz zweier Lyrikbände und zwei Romanen bislang Geheimtipp, zieht auf faszinierend-überkandidelte Art das Getue um Autoren durch den Kakao. Immer wieder überschreitet er die Grenzen zwischen realistischer und satirischer Darstellung. Er berichtet von den katastrophalen und auch das Zwerchfell immer wieder erschütternden Ereignissen um die gefeierte Schriftstellerin Bettine Vondenloh, deren Schulkamerad der Held Witzels war. Wie er von sanfter Karikatur zur grellen Ironie wandelt, ist beißend und entzückend zugleich. Der Kult um die ins Unermessliche gelobte Romanautorin ist so grotesk wie die Wirklichkeit. Witzel spart nicht mit Anspielungen und feinen intellektuellen Seitenhieben auf den Literaturbetrieb hierzulande. Das alles ist sehr elegant geschrieben, voller Raffinesse und bisweilen so humorvoll wie ein Nestroy unserer Tage. In das Zielfeld des mit üppigem, pseudowissenschaftlichem Anhang wunderbar ausgestatteten Buches geraten etliche Prominente unseres Zeitgeistrummels, deren Bauchnabelphilosophie er sensibel und respektlos parodiert. Kein Wunder, dass ihn Ingo Schulze all jenen zu lesen empfohlen hat, die eine einfache Geschichte auf überdrehte Art genießen wollen. Dabei hat dieser intensive, ausgeklügelte Text durchaus den Anspruch, nach dem doppelten Boden dessen zu fragen, was wir als Realität wahrnehmen.
Frank Witzel: «Vondenloh». Textem-Verlag 2008, 220 S., 18 Euro
Hadayatullah Hübsch, Frankfurter Neue Presse 30. 10. 2008
Highlights auf dem Buchmarkt
"Vondenloh" von Frank Witzel
Was ist das Geheimnis der Erfolgsschriftstellerin Bettine Vondenloh? Wie kommt es, dass sie gleich mit ihrem ersten Roman ein Meisterwerk schuf? Und was haben Peter Handke, ein stinkender Wal und die Wachsfigur Heinrich Himmlers damit zu tun? Eigentlich will der Ich-Erzähler in Frank Witzels neuem Roman nur Kontakt zu seiner Jugendliebe aufnehmen - doch dieser Plan wächst sich aus zu einer Melange aus Krimi, Dorfgroteske und Literaturbetriebsroman. Dabei zieht der rote Faden so weite Kreise, dass man schon fürchtet, er könne reißen. Tut er aber nicht: Am Ende sind alle Fragen beantwortet, und der Leser ist bestens unterhalten. Hinsichtlich Erfindungsgabe, lustvoller Abschweifung und Humor könnte "Vondenloh" ein Pynchon-Fragment sein - wenn dessen Unterhaltungstalent etwas massenkompatibler wäre.
Martin Schaefer, Financial Times Deutschland 28. 10. 2008
Homestories
Homestories kennt man noch aus selig pubertären Bravo-Zeiten. Frank Schäfer ist jedoch höflicherweise fernab dieses Schmuddelgenres, wenngleich er durchaus intime Einblicke in verschiedene Schriftstellerleben bietet. In „Homestories“ versammeln sich zehn Interviews und Geschichten zu deutschen Schriftstellern, die Schäfer in den letzen Jahren geführt und erlebt hat. Getroffen hat er dabei u. a. Harry Rowohlt, Max Goldt, Wolf Wondratschek, Eugen Egner, Helge Schneider (sic!). Er flegelt dabei mit ihnen auf dem Hotelbett, besucht Originalschauplätze von Romanen oder geht einfach auf diverse Biere in die Lieblingskneipe der Autoren. Äußerst kenntnisreich, aber nie arrogant oder gar überheblich nähert sich Frank Schäfer dabei den Autoren. Er geht der Geschichte und den Geschichten nach und fühlt dem historischen Zeitgeist auf den Zahn, will nicht entlarven, sondern verstehen. Selbst für jemanden, der kaum einen der Autoren (es sind durchweg nur Männer) kennt, bietet „Homestories“ genug interessanten und lehrreichen Stoff, da alle Werke zeitgeschichtlich verortet und die persönlich-politische Intention und Antriebsenergie jeweilig aufbereitet werden.
Christian Eder, noisyNeighbours No 23, 2008
Frank Schäfer & Peter Neitzke
Lesung: In "Homestories" (Textem Verlag) erzählt "Rolling Stone" und tip-Autor Frank Schäfer humorvoll, nie anbiedernd und immer auf gleicher Augenhöhe mit seinen Interviewpartnern von seinen Begegnungen mit Schriftstellern wie Max Goldt, Peter Glaser oder Harry Rowohlt. Sein Verlagskollege, der Architekt Peter Neitzke, erzählt in seinem Kriminalroman "Schwarze Wände" von einem Bauherrn, dessen Gebäude durch Sprengstoffanschläge zerstört werden und der darüber seine Philosophie vom Sinn der Architektur zu überdenken scheint.
Tubuk Store 15.5.2008, 20 Uhr, Ackerstraße 173
tip Berlin Mai 2008
Buchtipps
Der letzte Tipp soll für alle Krimifans von großer Bedeutung werden, denn „Schwarze Wände“ (Textem) ist für sie gemacht. Peter Neitzke, Architekt, Autor, Mitherausgeber der Buchreihe „Bauwelt Fundamente“, muss manchmal aus der Welt der geraden Striche ausbrechen und spannende Belletristik schaffen. Im Buch geht es um Architektur, Mord, Bombenanschläge und Helden. Architekt Leo Wildbergers muss mit ansehen, wie seine prominentesten Bauten präzise ausgeführten Sprengstofffanschlägen zum Opfer fallen. Da Täter und Motiv unbekannt sind, schweigt er lieber und taucht ab. Doch dann will Leo doch aussagen. Eine spannende Mörderjagd beginnt ...
Thomas Behlert, Thüringer Landeszeitung 14. Mai 2008
„Mich kann nichts erschüttern“
Der Braunschweiger Autor Frank Schäfer interviewte zehn Schriftsteller
Frank Schäfer, Dr. phil, ist einer der fleißigsten Schriftsteller der Region. Kürzlich erschien der Episoden-Roman »Generation Rock« (Oktober Verlag) und das Autoren-Annäherungs-Buch »Homestories. Zehn Visiten bei Schrifstellern« (Textem Verlag), das seine Treffen mit Harry Rowohlt, Helge Schneider, Wolf Wondratschek u.a. beschreibt.
Die „Homestory gilt als das Schmuddelgenre im Kulturjournalismus“, behauptet der Klappentext. Warum eigentlich?
Na, das hat ja fast immer so was Anbiederndes, wird ja auch gern von gewissen Magazinen zusammen mit einer großformatigen Anzeige vertickt. Und das Menschelnde stört mich auch meist, da hat die Farbe des Einstecktuchs plötzlich genauso viel Gewicht wie das Werk des porträtierten Künstlers – und so wird man dem dann vielleicht doch nicht gerecht.
Moritz von Uslar hat die langweilige Interviewroutine mit seinem „100 Fragen an…“-Konzept ausgehebelt. Was hältst Du von solch einem verbalen Schlagabtausch?
Jetzt willste Kollegenschelte hören, oder? Okay, also ich halte das für journalistisches Fingerfood, auch nur geringfügig komplexere Dinge lassen sich so ja nicht verhandeln. Es macht aber Spaß, das zu lesen.
Was hat Dich gerade am Genre Homestory gereizt?
Mich interessiert in erster Linie der Produktionsprozess. Also wie sehen die Bedingungen aus, unter denen jemand kreativ sein kann. Und da ist es schon ganz interessant zu sehen, wie einer lebt und arbeitet. Außerdem erfordert oder vielmehr ermöglicht die Länge eine solchen Textes natürlich eine ganze andere Vorbereitungszeit. Man kann sich also tatsächlich mal für drei Wochen intensiv mit einem Autor auseinandersetzen, weil das vom Magazin bezahlt wird, also alles von ihm lesen, was gerade greifbar ist. Und man merkt den Gesprächspartnern geradezu an, wie zufrieden die mit der Situation sind, weil hier endlich mal einer vorbereitet ist.
Nach welchen Kriterien hast Du die Autoren ausgewählt, die Du interviewen wolltest?
Ein bisschen Zufall ist dabei, die Texte sind ja in den letzte fünf Jahren entstanden und hatten zunächst einen Anlass: einen 60. Geburtstag wie im Falle Wolf Wondratscheks, einen Bachmann-Preis wie bei Peter Glaser oder einfach nur ein neues gutes Buch, das mich interessiert hat, etwa Eugen Egners Erzählungsband „Gift Gottes“ damals. Obwohl ein neues Buch allein nicht ausgereicht hätte, um mich in dieser Form und auch in dieser Länge mit dem Autor auseinanderzusetzen. Da musste mich schon das Gesamtwerk irgendwie affizieren – so sehr, dass ich dann eben auch die „Rolling Stone“-Redaktion mitreißen konnte, denn hier sind die Texte ja zunächst erschienen. Wofür ich sehr dankbar bin, wo anders kann man denn noch eine acht bis zehnseitige Magazinstrecke unterbringen? Die Auswahl war dann ganz einfach. Ich habe einfach die Texte genommen, die mir am gelungensten erschienen. So ganz stimmt das aber auch nicht, zunächst war noch ein Besuch bei Wilhelm Genazino und bei den Comiczeichnern Mawil und Reinhard Kleist dabei. Da hatte ich dann konzeptionelle Bedenken: es sollte hier um Schriftsteller gehen, die vom bürgerlichen Feuilleton eher marginalisiert oder doch stiefmütterlich behandelt werden. Mawil und Kleist sind in erster Linie Zeichner, Genazino ist ein absoluter Feuilletonliebling. Das passte nicht so richtig.
Mit welchen Erwartungen bist Du an die Interviews herangegangen?
In freudiger Erregung. Die Gespräche sind ja auch das, was Spaß macht. Kärrnerarbeit ist dann die leidige Transkription und sanfte Bearbeitung des Gesprochenen, dann die Auswahl und Strukturierung der enormen Stoffmenge. Warst Du mit den Begegnungen und Ergebnissen zufrieden?
Doch, eigentlich immer. Selbst solche als schwierig verschrienen Leute wie Thomas Kapielski und Harry Rowohlt haben sich sehr umgänglich und kooperativ gezeigt.
Welches Aufeinandertreffen hat Dich am meisten beeindruckt?
Kann ich nicht sagen, das sind alles ganz originäre Künstlertypen, jeder auf seine Weise eine große Nummer. Am abwechslungsreichsten war vielleicht der Besuch bei Frank Schulz, weil wir da die Handlungsorte seiner „Hagener Trilogie“ abgeklappert haben, also das kleine Dorf Hagen bei Stade, wo er aufgewachsen ist, und dann die Hamburger Kneipen, wo sich Bodo Morten, Kolki und die anderen regelmäßig die Kante geben. Wir dann auch.
Wen hättest Du noch gerne interviewt, wenn Du die Wahl gehabt hättest? Unter den Schriftstellern vor allem Peter Rühmkorf. Mit dem habe ich mal in seiner Arbeitswohnung sehr schön gesoffen, weil ich gerade ein kleines Buch über ihn geschrieben hatte und anschließend einen Band seiner Werkausgabe herausgeben sollte. Zu seinem 70ten hätte ich so eine Freundschaftsrunde gern wiederholt und hinterher aufgeschrieben, aber er hat dann kurzfristig abgesagt. Er war von dem ganzen Rummel fix und fertig, das hörte man ihm auch an, er pfiff wirklich aus dem letzten Loch, wahrscheinlich war er damals schon ernstlich krank. Aber ich hätte beispielsweise auch gern mal Lutz Kroth, den 2001-Chef, zu Hause besucht. Wir haben uns mal kurz gesprochen auf einer Preisverleihung, und da wirkte er schon ziemlich zurückhaltend, fast schüchtern, und das war dann auch sein Absage-Argument: So ein Interview würde ihm tagelang den Schlaf rauben ... Benno Käsmayr, vom legendären Underground-Verlag Maro, der Bukowski in Deutschland durchgesetzt hat, aber nicht nur den, auch Kerouac, Burroughs, Brautigan, Abbott sind hier erschienen, und Uli Becker, Andreas Mand und Günter Ohnemus und und und ... Den hätte ich gern ausführlich gesprochen, aber das hat keinen in der Redaktion so richtig interessiert. Den großen Sänger Thomas Quasthoff hätte ich ebenfalls gern porträtiert, aber das passte terminlich nicht, der hatte zwischen der xten Grammy-Verleihung und anschließenden Tour, durch Europa glaube ich, einfach keinen Day-off.
Du bist selbst verrückter Hardrock-Fan. Wie schmal war bei Dir der Gesprächs-Grat zwischen Fan-Verehrung und kritischer Distanz?
Wie gesagt, ich bin dem Werk der Autoren geneigt, aber ich habe deren Unterschrift nicht auf meiner Kutte stehen, wenn ich denn eine hätte. Ich bin viel zu egoman und größenwahnsinnig, als dass ich irgendeinen anderen Schriftsteller neben mir auf den Sockel stellen würde.
Hat sich das medial vermittelte und geprägte Bild Deiner Gesprächspartner mit Deinen persönlichen Eindrücken ergänzt oder war es völlig anders?
Naja, man darf sich da nichts vormachen, die sind in der Regel auch in einem drei bis vierstündigen Interview keine Privatpersonen, sondern meißeln wacker an ihrem Image. Auch wenn Leute wie Wondratschek das Gegenteil behaupten würden. Vielleicht ist es bei einigen Stars auch gar nicht mehr möglich zwischen privatem und öffentlichem Ich zu unterscheiden, weil deren Charakter sich bereits deformiert hat. Es gibt aber auch Autoren, die scheinen gar kein öffentliches Ich zu haben, die sind in einer Weise offenherzig, dass man sie fast vor sich selbst schützen muss.
Haben Dir die Autoren Dinge erzählt, die Du nicht erwartet hättest?
Ja klar, ständig. Wie skrupulös und akribisch der dienstälteste Jerry-Cotton-Autor Horst Friedrichs zum Beispiel seine Heftchen plant, das hätte ich nicht für möglich gehalten. Der ist außerdem völlig unzynisch, der hat vielleicht mehr schriftstellerisches Ethos als mancher vermeintliche „Hochliterat“.
In „Generation Rock“ erklärst Du, dass Du mit Wiederwillen Deine Lieblingsbands bei „Bravo“-Homestories registriert hast. Warst Du ähnlich peinlich berührt bei Deinen eigenen Wohnzimmer-Erkundigungen?
Kann man nicht vergleichen, meine Ernüchterung war die des Metal-Fans in den frühen Achtzigern. Hier treffe ich als professioneller Autor einen anderen Profi. Da kann mich nichts mehr erschüttern.
Welche Eigenschaften sollte ein guter Interviewer haben?
Der große Rockkritiker Greil Marcus hat mal geschrieben, er habe einen Freund, der stottere und so zerfahren wirke, dass die Gesprächspartner ihn am liebsten tröstend in den Arm nehmen wollten und ihm dann folglich alles erzählten. Das ist laut Marcus der ideale Interviewer. Könnte stimmen.
Was ist Dein Trick, damit sich Dein Gegenüber Dir offenbart?
Ich komme immer zur Kaffeezeit und bringe Teilchen mit.
Was hast Du als Autor von den Begegnungen mit den anderen Autoren mitgenommen?
Am ehesten vielleicht bestimmte Techniken, wie man mit den Anforderungen und Anfechtungen des Betriebs umgeht. Und dann dieses gute Gefühl zu sehen, dass man auch nach 30 Jahren als Schriftsteller noch Spaß an der Sache haben kann.
Was soll das Buch bewirken?
Den Weltfrieden natürlich. Und dann soll es den Kapitalismus endgültig zu Fall bringen. Und schließlich mich zu einem reichen Menschen machen.
Wer interessiert sich in Zeiten von MySpace-Selbstinszenierung und -entblößung, Internet-Overkill und Handy-SMS-Wahn überhaupt noch für Autoren. Wo ist die Zielgruppe für Dein Buch und wie beurteilst Du diese Entwicklungen?
Es gibt ja nicht nur MySpace etc, sondern zugleich auch immer mehr junge Autoren, die schreiben wollen, und auch die Buchverkäufe steigen auch jedes Jahr. Zudem gibt es mittlerweile ja in jeder mittelgroßen Stadt eine relativ florierende junge Leseszene. Ich sehe das nicht ganz so schwarz: Es besteht weiterhin ein großes Interesse an Literatur, und das Buch ist immer noch eine überlegene Technologie: haltbar, robust, komfortabel zu handhaben, billig und gelegentlich sogar ganz hübsch anzusehen.
Warum sind auf dem Cover eine Schreibmaschine und eine glimmende Zigarette abgebildet? Rauchen wird fast überall verboten und Autoren schreiben meist nur noch auf dem PC...
Wondratschek und Harry Rowohlt benutzen eine Schreibmaschine. Unter den älteren Semestern ist das gar nicht so unüblich. Schreiben ist außerdem ein einsames Geschäft, und in den eigenen vier Wänden darf man wohl noch rauchen, wenn ich da nicht etwas verpasst habe. Naja, es war aber so, und so ähnlich ist es eigentlich immer: der Comic-Autor Sascha Hommer hatte zwei Vorschläge gezeichnet, und dieser hier gefiel uns besser. Was das zu bedeuten hat, ist ja erstmal ziemlich sekundär, wenn es optisch knallt.
Im Schlusswort macht sich bei Dir Ernüchterung breit. Wie hart ist für Dich das Leben als Autor?
Macht sich da Ernüchterung breit? Sollte nicht so klingen, der Schriftstellerberuf ist doch ein allzeit sprudelnder Born der Freude und des Glücks. Acht Stunden bei Volkswagen im Rohbau zu arbeiten, das ist vielleicht hart, Autor zu sein ist ein Privileg und sonst erstmal gar nichts.
Christian Göttner
Subway Magazin, Mai 2008
Gespräche unter Männern
Frank Schäfers "Zehn Visiten bei Schriftstellern"
"Die Zugchefin muss sich während ihrer langen, entbehrungsreichen Ausbildung ein paar Mark als Synchronisationsmäuschen für Softpornos dazuverdient haben, so engagiert kiekst und stöhnt sie ihre Mitteilungen ins Bordmikro", beginnen diese aufgezeichneten Gespräche, aber auch: "Max Goldts Texte sind vor allem Stilübungen. Seit über fünfzehn Jahren perfektioniert er nun sein elegantes Plauderparlando, das bei aller auch bisweilen ziemlich handgreiflich-burlesken, grotesken Komik nie ganz diesen vornehmen, fast aristokratischen Tonfall verliert. Das liest sich manchmal so, als wolle er die großen Feuilletonisten vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts beerben: Alfred Polgar, Alfred Kerr, Peter Altenburg, Victor Auburtin und so weiter."
Dieser Kommentator versteht sein Handwerk. Er ist ein Anhänger der beiläufigen Version des Namedroppings, und er weiß seine Gesprächspartner und sich selbst in Szene zu setzen, gerade wenn er so tut, als ob er der Situation ausgeliefert wäre: "Wir gehen in sein Zimmer, er legt sich aufs Bett, zündet sich eine Nil an, bestellt beim Zimmerservice Wasser, Kaffee und Kuchen, und als die junge Hotelfachfrau kurze Zeit später klingelt, komme ich mir vor wie ein Strichjunge - und vielleicht soll ich mir auch so vorkommen." schreibt Frank Schäfer in seinem Text über Wolf Wondratschek.
Da ist also nicht nur ein guter Schreiber, da ist auch erkennbar ein Mann am Werk. Und was die zehn Texte in dem Buch, die zunächst in gekürzter Fassung im "Rolling Stone" erschienen, miteinander verbindet, ist über den eigenen Ton und das durchscheinende Interesse am Menschen und am Werk gleichermaßen hinaus die Männlichkeit, die förmlich aus den Zeilen duftet. Keine Frau könnte auf diese Art Interviews führen, Frauen könnten so auch gar nicht interviewt werden, und erst recht würde keine Frau so darüber schreiben. Da ist eine männliche Klüngelei zu spüren, eine Bruderschaft im Geiste, die an manchen Stellen zu bemüht wirkt, gleichzeitig die Texte jedoch gerade interessant macht. Denn tatsächlich scheint es sich zum Teil um Gespräche unter guten Bekannten in der Kneipe zu handeln, und wenn der Autor in seinem Nachwort schreibt: "Dass ich mit dem einen oder anderen weiterhin - und bisweilen sogar freundschaftlichen - Kontakt pflege, ist mir mehr wert als die Texte selbst und dieses Buch", so nimmt man ihm das, was vor dem Lesen noch einen kleinen Schleier der Anbiederung mit sich trägt, nach der Lektüre sogar ab.
Und es sind interessante Gesprächspartner, die Frank Schäfer da in seinem schmalen Büchlein versammelt hat, Menschen, die nicht nur Kunst produzieren können, sondern darüber hinaus auch etwas zu sagen haben. Die Mischung aus Berühmtheiten in jedem Kreis, Beinahe-Berühmtheiten und Berühmtheiten in einem bestimmten Kreis könnte er sich bei der Interview-Zeitschrift "Galore" abgeguckt haben. Entstanden ist ein schmales Büchlein, das man in die Hand nimmt, um Stunden später festzustellen, dass man es immer noch nicht weggelegt hat, denn zu abwechslungsreich und interessant ist das zu Lesende: Wolf Wondratscheks frühe Gedichte sind da Thema, Eugen Egners Katze, die Entstehung des Titels von Helge Schneiders Buch "Aprikose, Banane, Erdbeer" und das anschließende Eisessen, Ludwig Lugmeiers frühe literarische Sozialisation respektive die Folgen ihres Ausbleibens und auch die Schwierigkeiten, Harry Rowohlt zu einem Interview zu bewegen.
Frank Schäfer ist ein unaufdringlicher, guter Beobachter, dessen Interviews gelingen, weil er sich nicht monatelang durch Vorrecherchen quält, sondern offensichtlich selbst großen Spaß daran hat, sich mit den Interviewten und ihren jeweiligen Produkten auseinanderzusetzen. An einer Stelle zitiert er einen Ausspruch Max Goldts über "junk journalists": "Unter ihrer Elendigkeit, ihrem Wissen, dass sie letztendlich doch nur das Altpapier von übermorgen produzieren, heimlich leidend, zerren sie alles, was vielleicht ein wenig herausragt, auf ihre eigene Durchschnittlichkeit herunter." Da wird ganz deutlich: Frank Schäfer gehört nicht dazu. Er lässt dem Interviewpartner, der hier wirklich Partner ist, Raum und Größe, ohne jedoch sich selbst dafür klein machen zu müssen. Da spricht Mann zu Mann - und wer das gerne liest, dem sei die Sammlung empfohlen.
Nicole Schmidt
Literaturkritik.de Mai 2008
Frank Schäfer: Homestories. Zehn Visiten bei Schriftstellern.
Textem Verlag, Hamburg 2008. 147 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13 9783938801338
Generation Rock
Journalisten haben´s wirklich schwer: „Wo ist der Mensch von den Rolling Stones“, ruft Helge Schneider dem wartenden Reporter zu. Und dann: „Hallo Mick!“ Mit Mick Jagger verwechselt hat der Komiker den „Rolling Stone“- und Tipp-Autor Frank Schäfer. Diese und andere Kuriositäten (Harry Rowohlt: „Sag mal, sitzt du eigentlich in einem Marmeladeneimer?“) und Introspektionen „Was antwortet man darauf?“) erzählt Schäfer in „Homestories. Zehn Visiten bei Schriftstellern“. Begegnungen wie diese, in der sich Journalist und Schriftsteller auf Augenhöhe treffen, vor allem die gemeinsamen Irritationen, machen Schäfers Reportagen zu einer äußerst lustigen Lektüre. Und die Verwechslung mit einem Rockstar ist gar nicht so daneben. Denn wer wissen will, wie sich Schäfer als Gitarrist der niedersächsischen Power-Metal-Band Salem´s Law schlägt, dem sei ein weiteres, aktuelles Buch empfohlen: In den 33 Kapiteln von „Generation Rock“ erzählt Schäfer von seiner Sozialisation, Landfahrten, „so´n Hals, Alter!“ und Silvesterpartys in der Heißen Hexe. Die beigefügte CD enthält zehn Salem´s-Law-Tracks, darunter die Knaller „Motel Crazyfornia“ und „I Hate“.
Frank Schäfer: Homestories. Zehn Visiten bei Schriftstellern
147 Seiten, 18 Euro, Textem Verlag 2008
tip Berlin, Nr. 9, 2008
Eine Wasserleiche und die große Liebe
– Carsten Klooks Roman hat seine Wurzeln in der Lauenburger Altstadt –
Lauenburg (wb). Ein "alter Bekannter" besuchte am Donnerstag die Elbestadt. Carsten Klook, Literaturstipendiat der letzten Künstlerhausgeneration stellte sein fast vollendetes Roman-Manuskript vor. Nachdem der 48-Jährige bereits vergangenen Sommer eine erste Kostprobe seines Werks verlas, konnten sich Literaturfreunde nun im zweiten Teil wiederholt an der Wortgewandtheit des Autors erfreuen.
Klook erzählt in seinem Roman die Geschichte vom Drehbuchautor Marc, der in der Lauenburger Altstadt für seinen neuen Krimi recherchiert. Vor der Kulisse der malerischen Elbestadt verwischt Marcs Leben mit dem seiner Drehbuchfiguren. Der Leser kann sich auf einen Krimi der besonderen Art freuen. Unter anderem wird eine Wasserleiche angeschwemmt und Klooks Hauptfigur verliebt sich in eine Künstlerhausstipendiatin.
Klooks Zeit im Lauenburger Künstlerhaus zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten Roman. Die wochenendlichen Touristenströme, das Kneipenleben und die Mentalität der Altstadtbewohner machen immer wieder ihren Einfluss geltend. Klook: "Natürlich bildet mein Roman nicht das wahre Leben in Lauenburg ab. Er ist Fiktion. Aber das Leben hier hat den Roman schon sehr beeinflusst. Es war ein toller Sommer."
Er habe schon viele Sachen ausprobiert und sich dieses mal bewusst gegen die kurzen Formulierungen und für eine selbstironisierende Schreibweise mit einigen Wortspielereien entschieden, so der Schriftsteller. Durch lange, verwinkelte Sätze gekoppelt an bildreiche Vergleiche, die zumindest passagenweise eher an Poesie als an Prosa erinnerten, ließ er einen Sog entstehen, der den Zuhörer in seinen Bann zog.
Ein knappes Jahr – davon sechs Monate in Lauenburg – hat er an der Kriminalgeschichte um Drehbuchautor Marc gearbeitet.
Die Handlung steht, am Titel wird noch gefeilt: Interessierte werden den Elbkrimi entweder als "Stadt unter" oder "Gespenster in der Unterstadt" in den Buchhandlungen wieder finden.
W. Brütt in der Lauenburgischen Landeszeitung vom 15. März 2008
Schädelspalter
Im Zeitraum von 2003 bis 2006 hat Frank Schäfer immer wieder deutsche Schriftsteller besucht. Die dabei entstandenen Gesprächsprotokolle und Geschichten erschienen in stark gekürzter Fassung im „Rolling Stone“. Für sein Buch „Homestories“ hat der Braunschweiger Schriftsteller, der auch für die „taz“ und die „Titanic“ schreibt, zehn Beiträge noch einmal durchgesehen und ein wenig aufgebürstet. Erstmals erscheinen sie jetzt in ungekürzter Form – und das ist gut so. Denn Schäfers Porträts sind mehr als nur eilige Interviews zum jeweils neuen Buch. Schäfer nähert sich den besuchten Autoren erfolgreich an. Getroffen hat er u. a. Wolf Wondratschek, Harry Rowohlt, Max Goldt und Helge Schneider.
Frank Schäfer, Homestories. Zehn Visiten bei Schriftstellern, 147 Seiten, Textem Verlag 2008
Schädelspalter, April 2008
Schnitzel auf den Tisch
Wie man den »Homestories«-Schreiber Frank Schäfer bei sich zu Hause empfängt
Was aber auch jede Woche für geschriebener Mist hier in Deutschland erscheint. Manches davon kann man sogar lesen. Auf der Suche nach der Ausnahme durchforstete ich einen Stapel zugeschickter Neuerscheinungen und bekam so das Buch von Frank Schäfer in die Hände: »Homestories«.
Solche schrieb Frank Schäfer auf, als er im Namen der Literatur unterwegs war. Er besuchte u.a. Helge Schneider, Max Goldt und Harry Rowohlt, kitzelte aus ihnen jede Menge interessante Dinge und füllte sich dabei mit Kaffee ab. Wer Hintergründe seines Lieblingsautors erfahren möchte, ist bei diesen Haus- und Hofgeschichten genau richtig. Schnell waren die 147 Seiten durchgelesen, es gelüstete mich nach mehr. Wie Verlagsmitarbeiter verrieten, war der in Braunschweig lebende Schriftsteller ziemlich »geil« auf gutes Essen und schlechte Gespräche, eine Einladung von mir folgte auf den Fuße.
Nach wenigen Wochen und mehreren Bettelanrufen stand der blonde Knabe in meiner Tür und verlangte sofort nach einem kühlen Bier. Man hat ja vorgesorgt und sich nach Michael Rudolfs wunderbarem Bierlexikon gerichtet. So stellte ich das wohl beste Bier Deutschlands vor den großen Meister, gebraut und abgefüllt in der Museumsbrauerei Singen. Ohne Ehrfurcht vor Brauer und Einkäufer schüttete der »Wessi«, wie er sich rufen ließ, gleich mehrere Flaschen in seinen bei Heavy-Metal-Konzerten »gestählten« Körper.
Da mich sein Buch »Homestories« doch sehr interessiert hat, affizierte ich vorher das Gesamtwerk. Hier konnte ich den nunmehr nicht mehr durstigen, jetzt allerdings einen mit viel Liebe zubereiteten Schnitzelauflauf in großer Geschwindigkeit verschlingenden, Schäfer nach einigen Details zum Buch »Homestories« fragen: »Warum hast du gerade diese zehn Schriftsteller ausgesucht?«, war eine nicht sehr intelligente, aber irgendwie doch wichtige Frage, die denn auch eine lange Antwort bekam: »Ein bißchen Zufall ist dabei, die Texte sind ja in den letzten fünf Jahren entstanden und hatten zunächst einen Anlaß: einen 60. Geburtstag wie im Falle Wolf Wondratscheks, einen Bachmann-Preis wie bei Peter Glaser oder einfach nur ein neues gutes Buch, das mich interessiert hat, etwa Eugen Egners Erzählband«.
Da die einzelnen Stories sehr flüssig geschrieben sind, man viel Interessantes und Neues findet, besteht der berechtigte Wunsch, weiter nach neuem Material zu fragen. Hier wird der Schäfermann ungehalten und braucht gleich zwei neue Biere zum Runterspülen eines doch zu groß ausgefallenen Bissens: »Zunächst sollte man erst dieses Buch lesen und danach die vielen Vorgänger, die auch nicht von schlechten Eltern sind«.
Recht hat der Vater und liebevolle Ehemann, der niemals seine Frau schlägt und den Sohn in weiter Ferne am Handy in den Schlaf brummelt. Davor gab es die Geschichtensammlung »Kleinstadtblues«, das eher dünn ausgefallene »Was soll der Lärm?« mit allerlei Rockkritiken und das lustige und vergnügliche »Pünschel gibt Stoff«. Hier erzählt Schäfer aus dem Leben eines Rockfans und Taugenichts, der die Welt und seinen Kumpel in Atem hält. Ursprünglich als Kolumne in der jungen Welt erschienen. Der Pünschel-Band strotzt nur so vor herrlichen Sätzen und ungewöhnlichen Wendungen. Ein Beispiel möge reichen: »Eine sündhaft schwarzhaarige Frau mit Beinen bis zum Arsch, den Bund ihrer Hose dort, wo andere ihre Camelia sitzen haben, bescherte uns eine olfaktorisches Erlebnis, von nachgerade douglashaftem Raffinement.«
Da der Lichtenberg-Fan nun die Füße auf den Tisch legte, konnte ich annehmen, daß er sich in meinem » Home« wohl fühlte und also die Frage nach einer Fortsetzung wiederholen. Antwort: »Demnächst kommt ein Konzeptalbum im klassischen Single-Format: Generation Rock. Das ist zweispaltig gesetzt. In der Mitte stehen Rock-Stories, die werden kommentiert von essayistischen Texten auf der schmaleren Randspalte. Und dann gibt es noch eine CD-Beilage mit knallhartem Scheißdreck meiner alten Metal-Band. Das wird unser Durchbruch!« Ein Durchbruch alter Säcke, dachte ich bei mir, sprach aber: »Metal und Scheißdreck, welch ungewöhnliche Verbindung«. Ich hatte genug erfahren, wußte nun, daß Schäfer sich immer die falschen Verlage aussucht. Diese sind zu klein, haben wohl nur das Geld für Buchdeckel und dem Dazwischen, aber nicht für Werbung in einer Länderspielhalbzeitpause oder in relevanten Musikzeitschriften.
Bevor ich dann den Dr. phil. von meiner Frau zum Bahnhof fahren ließ, mußte ich noch nach seinem Nokia-Handy fragen, das zwischen leeren Tellern und noch mehr leeren Flaschen lag: »Herr Schäfer, dieses Handy ist aber nicht gerade politisch korrekt. Was machen Sie zur Unterstützung der Bochumer Arbeitnehmer?« »Ach, ich geh’ einfach nicht mehr ran«, war die Antwort eines Autors, der noch viele Sachen schreiben soll, damit man nicht in Verlegenheit kommt Günter Grass zu lesen.
Thomas Behlert, Junge Welt, 3. April 2008
Frank Schäfer: Homestories. 10 Visiten bei Schriftstellern, Textem Verlag, Hamburg 2008, 147 S., 18 Euro
Was Sie schon immer über die Autoren von heute wissen wollten
Wer schon immer wissen wollte, was zehn zeitgenössische deutsche Schriftsteller über ihr Leben, Schreiben, ihre Leser und Kritiker denken, liest richtig, wenn er Frank Schäfers neues Buch „Homestories. Zehn Visiten bei Schriftstellern“ aufschlägt. Ein geschmackvoll gestalteter, angenehm schmal in der Hand liegender Band von rund 150 Seiten.
Schäfer hat Autoren wie Peter Glaser, Helge Schneider und Thomas Kapielski daheim besucht oder in Hotels getroffen und ihre Sich der Dinge protokolliert. Kontaktscheue Publizisten wie der Ironiker Max Goldt gewährten ihrem Braunschweiger Kollegen immerhin per E-Mail exklusive Einblicke.
Goldt kann mit „dem gemeinen Journalismus in diesem Land weniger als nichts anfangen“, schreibt Schäfer und gibt dessen Kritiker-Lamento wider: „Unter ihrer Elendigkeit, dass sie letztlich doch nur das Altpapier von übermorgen produzieren, heimlich leidend, zerren sie alles auf ihre eigene Durchschnittlichkeit herunter.“ Kommentar Schäfer: „Das leuchtet ein.“
Der 41-Jährige setzt eine andere Herangehensweise dagegen: Er gibt seinen Gesprächspartnern jede Menge Raum und enthält sich weitgehend eigener Bewertungen. Stattdessen würzt er die manchmal interessanten, manchmal weitschweifigen Ausführungen der Literaten gekonnt, aber homöopathisch dosiert mit Reportageelementen.
„Er ist mir entgegengekommen im fünften Stock des riesigen Treppensaales, barfuß, das Hemd aus der Hose und ganz aufgeknüpft, damit ich sehen kann, dass er trotz seiner sechzig Jahre noch voll da ist, schlank gut trainiert, dezent gebräunt“, schreibt Schäfer etwa über das Treffen mit Wolf Wondratschek.
Sein um Objektivität bemühtes literarisches Protokollieren ist konsequent.
Florian Arnold, Braunschweiger Zeitung, 14. März 2008
Frank Schäfer: Homestories. Zehn Visiten bei Schriftstellern, Textem Verlag 2008, 147 Seiten, 18 €
STEINE AUS DEM GLASHAUS
Über die Jahre hat Frank Schäfer für den ROLLING STONE immer wieder deutsche Schriftsteller besucht – aus den Hausbesuchen wurden meistens Porträts, die über Interviews zum jeweils neuen Buch hinausgingen. Schäfers Beiträge über Wolf Wondratschek, Harry Rowohlt, Max Goldt und Helge Schneider sind nun – erweitert und neu durchgesehen – in dem Band „Home-stories“ im Textem Verlag erschienen, den wir unseren Lesern gern zur Lektüre empfehlen.
Frank Schäfer: Homestories, Zehn Visiten bei Schriftstellern, Textem Verlag 2008, 18 Euro textem-verlag.de/Frankhome.html
Rolling Stone, März 2008
Interview
Wie gründet man ein Magazin?
Der Journalist Gustav Mechlenburg (40) sagt über das Magazin Kultur & Gespenster, das er vor zwei Jahren zusammen mit zwei Kollegen gegründet hat: "Wir haben, glaube ich, ein Magazin erfunden, das Texte in einer Länge zulässt, die es sonst nicht gibt." Die Kulturzeitschrift aus Hamburg erscheint in dem ebenfalls selbst gegründeten Textem-Verlag, in dem auch noch Bücher und Büchlein von unter anderem Raul Zelik, Frank Schäfer, Ludwig Tieck und Klabund erscheinen. Drittes Standbein ist die Seite textem.de, in der seit dem Jahr 2000 Buch-, Film und Musikkritiken zu lesen sind. Zum fluter-Interview-Termin kam Gustav mit einer Wrestlingmaske – ein Hinweis auf die Gespenster, mit denen er zu tun hat.
Kultur & Gespenster erscheint vierteljährlich in einer Auflage von 2.000 Stück, kostet 12 € und ist über die Textem-Seite und in guten Buchhandlungen erhältlich.
Fluter, Tal Sterngast | 22.2.2008
www.fluter.de/de/66/lesen/6630/
Kein Abgefeiere
Diskurs-Pogo statt Germanistengelaber: Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Kultur Gespenster
Kennst du den? Den Typus des sich selbst »kulturbegeistert« titulierenden Bildungsbürgers? Im Rentenalter hat sie oder er sich noch einmal immatrikuliert. Und zwar für Germanistik und Geschichte, Germanistik und Philosophie oder etwas ähnliches, was der Vater einst nicht finanzieren wollte. Im Hörsaal belegt der ehemalige Anwalt bzw. die frühere Hals-Nasen-Ohren-Ärztin den besten Platz schon eine Stunde, bevor es losgeht. So wie im Urlaub auf Mallorca der Liegestuhl direkt am Pool auch schon vor dem Frühstück mit einem Handtuch versehen wird. Dieser Typus wird sich, hat er einmal auf dieser Liege Platz genommen, nicht der Lektüre von Kultur & Gespenster widmen.
Für Traditionsgermanisten bietet diese Zeitschrift wenig. Sie meidet konsequent den Abgesang auf das ewig Wahre, Gute und Schöne von Kunst und Literatur. Abgefeiere von Autoren, die einen rentablen Beitrag zum kulturellen Kapital der Nation geliefert haben, braucht man hier nicht zu befürchten. Der Zeitschrift fehlt: das Überflüssige. Zunächst kommt sie etwas sperrig daher: DIN-A4-Format, dick wie ein mittleres Taschenbuch. Das Inhaltsverzeichnis bringt die einzelnen Beiträge in eine Grobstruktur, die jedoch kaum als Orientierungsanleitung gedacht sein kann. Denn was sagt eine Überschrift wie »Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung« schon über die darunter subsumierten Beiträge aus? Nichts. Zumindest ist nicht ersichtlich, weshalb sie nicht austauschbar wären mit den Texten der Rubrik »Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels«. Irgendwie richtig gemein, daß dieses Inhaltsverzeichnis einfach jede Orientierung verweigert! Was tun? Na ja, ist doch eigentlich total peinlich, so lange auf dem Zehn-Meter-Brett zu stehen und ins Wasser zu gaffen. Also springen! In diesem Fall: Lesen.
Die Texte beginnen meist vollkommen unspektakulär. Ihr Ausgangspunkt ist eine alltägliche Situation, ein banaler Gegenstand oder ein Gefühl, das jeder kennt. Doch was daraus entwickelt wird, ist alles andere als belanglos. Ein Beitrag beginnt zum Beispiel mit einer Anekdote: Treffen sich Anfang der 80er Jahre Norbert Bolz (Medien- und Kommunikationstheoretiker), Jochen Hörisch und Friedrich Kittler (beide Literatur- und Medienwissenschaftler) sowie Hubert Winkels (ehemals wissenschaftlich unterwegs, heute Kritiker) bei einer Fachtagung in Düsseldorf. Abends gehen sie gemeinsam in den Ratinger Hof, wo damals die Punks tanzten. Anfangs stehen sie am Rande der Tanzfläche und kommentieren das Geschehen aus wissenschaftlicher Distanz. Irgendwann stürzen sie sich ebenfalls ins headbangende Pogo-Gewühl. Diese Geschichte, verbürgt durch Freunde des Autors Enno Stahl, veranlaßt letzteren zu einer folgenreichen These: »Was damals rein körperlich-sportiv begann, setzte sich später auf einer ganz anderen Ebene, der öffentlichen und wissenschaftlichen Rede, deutschlandweit fort: Diskurs-Pogo.« Nun entfaltet Stahl die Grundgedanken der vier Theoriemogule. Während er Hörisch, Kittler und Winkels durchaus einiges zugute zu halten hat, führt er Bolz gnadenlos als verkappten Rechten«, so eine Art Techno-Skin«, vor. Fascho-Bashing at its best.
Auch anderswo im Heft werden Storys und Theorie gemixt. So beginnt Frank Schäfer seinen Text »Geisterbeschwörung« damit, die Entstehung seiner Begeisterung für die Band »Thin Lizzy« zu schildern, um schließlich in eine Diskussion über die Bedeutung des Kunstwerks im Zeitalter der »digitalen Reproduzierbarkeit« einzusteigen. Oliver Wittchow stellt fest, daß die musikalische Sublimierung von Handy-Tönen den Lärm auch nicht angenehmer macht. Und Ove Suttner stellt in seiner Rezension des »Handbuch 1968 zur Kultur und Mediengeschichte der Studentenbewegung« (hrsg. von Martin Klimke/Joachim Scharloth) klar, was wirklich gar nicht geht: Der unreflektiert-bürgerliche Standpunkt der Autorin Sara Hakemi verkleistert den Blick auf die staatliche Gewalt. Das Bürgertum hat doch schließlich den Souverän in seiner Gewaltausübung an das Recht gebunden, so Hakemi. Diese juridisch-formale Perspektive verstellt ihr den Blick aufs reale Geschehen völlig. Aber ganz ehrlich: Einer ehemaligen Volontärin und Stipendiatin der FAZ traut man Revolu tionsbegeisterung nicht so recht zu.
Erzählungen, Literatur- und Musiktheorie, Kunstbesprechungen, Fotografie und ein Comic – das Heft ist vielseitig, nicht oberflächlich. Sogar der Comic von Alessandro Tota ist klasse. Handlung: Zwei Typen gehen auf eine Party. Der eine klaut dem Gastgeber ein T-Shirt aus dem Schrank, bekommt es schließlich wieder abgenommen und muß halbnackt und kraß verdroschen nach Hause. Das hat so gar keine Pointe, daß es schon wieder cool ist: ein Comic mit Komik.
Die Illustration des Heftes gibt sich postmodern-avangardistisch: Die in die Texte eingefügten Fotos verweigern deren synchrone Bebilderung. Das Bild ist der Schrift nicht bestätigend und unterstreichend untergeordnet, sondern behauptet sich als gleichberechtigtes Werk neben ihr: So zum Beispiel die Kombination der Landschaftsmotive von Nathalie Grenzhaeuser mit dem Text »Smart Mobs« von Kai van Eikels.
»Sinn« und »Bedeutung«, das sind Kategorien, über die man lange nachdenken kann, aber vielleicht gar nicht sollte. Der Untertitel des Heftes (und zudem der einzige Satz auf der ersten Seite in dicken Lettern) lautet: »Ich will nicht Mr. Pink sein.« Das bezieht sich nicht nur auf die Rolle von Steve Buscemi in Tarantinos »Reservoir Dogs« (1997), sondern auf alles Mögliche.
Anja Trebbin, Junge Welt, 18. 2. 2008
* Kultur & Gespenster 6, Ausgabe für den Winter 2008, 240 Seiten, 12 Euro, Textem Verlag 2008
Geistreich
Zu Quentin Tarantino scheint alles, wirklich alles gesagt. Aber wie beeinflusste Disneys "Bambi" das Werk des Regisseurs? und welche Bedeutung hat Madonnas "Like A Vergin" für "Reservoir Dogs"? Diesen Fragen spürt "Kultur & Gespenster" in seiner neuen Ausgabe nach. Das Magazin in Buchformat widmet sich Hochkultur und Trash mit derselben Sorgfalt. Geistreich und trotzdem vergnüglich.
Stern Nr. 5, 24. 1. 2008
Respektlos und erfrischend frech
Heute kommt ein neues Buch von Frank Schäfer heraus: eine Reportagensammlung mit dem Titel „Homestories – Zehn Visiten bei Schriftstellern“. Jochanan Shelliem hat mit Frank Schäfer über sein Buch gesprochen.
Respektlos und erfrischend frech geht Frank Schäfer auf seine Interviewpartner zu. ... Zehn Literaten – wie der Schriftsteller sagt – habe er im Auftrag des deutschen Rolling Stone zwischen 2001 und dem Frühjahr 2007 besucht. Autoren, wie den Pop-Poeten Wolf Wondratschek, den kalauernden Feuilletonisten Max Goldt, Thomas Kapielski, den Neo-Dada-Musiker, der nach drei Monaten bei der Berliner tageszeitung rausgeflogen ist, weil er eine Berliner Diskothek als „gaskammervoll“ beschrieb, mit ihm trinkt Schäfer Grünen Tee und lässt sich von den wilden Achtzigern erzählen, und er besucht Horst Friedrichs in der Provinz. Im Keller eines Reihenhauses sitzt er dann vor dem mit 350 Jerry Cotton Heften, dienst-ältesten ghost writer des Bastei Verlags. ... Bildungsarbeit also per Homestory. Frank Schäfer will dem Resonanzraum seiner Generation zu mehr Beachtung jenseits der etablierten Werke verhelfen. ...
www.podster.de/view/5895/episodes
NDR Kultur, 24. 1. 2008, Rezensent: Jochanan Shelliem
www.textem-verlag.de/Frankhome.html
Die Perlen des Mr Pink
Die Hamburger Zeitschrift "Kultur und Gespenster" speist sich aus dem brachliegenden Potential, das in der Kulturwissenschaftler-Szene zu finden ist. Die Feuilletons jubeln - und nun kommt die neue Ausgabe
Es war im Sommer 2006, es war heiß und in den Feuilleton-Redaktionen konnte man die Wörter "Fußball WM" nicht mehr hören. Man hatte Fußball-Ausstellungen besprochen, Fußball-Theaterstücke rezensiert, Fußball-Bücher vorgestellt. Zuvor hatten ständig PR-Agenturen angerufen in dem Glauben, die Feuilletonisten müssten dem Fußball dankbar sein, dass er ihnen einen Sommer lang vom hohen Ross hilft. Und die Feuilletonisten waren auch dankbar. Und noch dankbarer waren sie, als Anfang Juli diese Zeitschrift in der Post war: "Kultur und Gespenster" hieß sie, war dick wie ein Buch und brachte Texte, die mit allem Möglichen zu tun hatten, aber nicht mit Mainstream.
Es war ein furioser Start. FAZ, DeutschlandRadio, Tagesspiegel, alle schrieben und lobten und sicher war ein Grund dafür, dass "Kultur und Gespenster" von keiner PR-Agentur beworben wurde. Die Zeitschrift aus Hamburg kam leise daher und entwickelte eine Aura, die anzog: Hier gibt es etwas selbst zu entdecken, verstanden die Redakteure. Und es geht nicht ums Geld.
"Kultur und Gespenster" erscheint vierteljährlich und enthält sehr lange Artikel ohne Bezug zu aktuellen Ereignissen. Es gibt jeweils einen Schwerpunkt in den Heften, zum Beispiel das Werk des Hamburger Dichters Hubert Fichte oder das Interview als solches, mal betrachtet als Textsorte und Realitätskonstrukt. Neben den Schwerpunkten gibt es frei florierende Artikel, eine Bildstrecke eines bildenden Künstlers, eine Modestrecke, einen Comic und Rezensionen. Das Lay-Out behält aufgrund der seitenlangen Artikel ganz von selbst die Ruhe, und trotzdem gibt es gestalterische Kniffe: Die Zeitschrift arbeitet beispielsweise mit verschiedenen Papier-Typen oder spielt mit einem kontinuierlich wandernden Blocksatz. Letzteres zeigt sich bei der sechsten Ausgabe namens "Ich will nicht Mr Pink sein", in der es viel um Tarantino geht und die am 24. Januar präsentiert wird.
Gemacht wird die Zeitschrift von den Hamburgern Gustav Mechlenburg, Jan-Frederik Bandel und Nora Sdun, und zwar von zu Hause aus. Man kommuniziert per E-Mail miteinander, und das Netzwerk ist der Motor des Projekts: Es gibt da zum Beispiel die Kontakte zur Kulturwissenschaftler-Szene, die "Themen haben, die sie woanders so nicht unterbringen können", sagt Mechlenburg. Dieses Potential wolle man in den Gebrauch überführen, sagt Sdun, und mitunter kommen dabei Perlen zu Tage, auf die auch kommerzielle, aber weniger gut vernetzte Medien scharf wären: Ein Interview mit dem Schriftsteller Thomas Bernhard zum Beispiel, das 1986 von einem damals jungen und naiv fragenden Literaturwissenschaftler geführt und noch nie in deutscher Sprache veröffentlicht wurde.
Weder die drei Redakteure noch die Autoren und Künstler bekommen ein Honorar, die Zeitschrift will lediglich mit einer schwarzen Null dastehen - was nur durch einen Zuschuss aus dem Deutschen Literaturfonds möglich ist. Die Auflage liegt bei 2.000 Stück pro Ausgabe und wenn die FAZ berichtet, werden auf einen Schlag 50 Hefte bestellt, aber nicht mehr. Für ein größeres Publikum ist das Heft zu speziell - und das soll es auch bleiben: "Das Ziel ist, das so lange zu machen, wie es Spaß macht", sagt Sdun. "Mich wundert, dass so etwas nicht mehr Leute machen."
KLAUS IRLER, tageszeitung, 19. Januar 2008
Kultur & Gespenster Nr. 6 Release-Party inklusive Lesung von Frank Schäfer aus dessen neuem Buch "Homestories": 24. Januar um 20 Uhr im Hafenklang Exil, Hamburg
Kultur & Gespenster-Interview
Die Zeitschrift Kultur und Gespenster erscheint mit der Nummer 6 zu Tarrentino, Schwärmen und einem langen Gespräch mit Ilya Kabakov. Am 24. Januar ist die Release-Party in Hamburg. Zwei der Herausgeber im Interview.
Lorettas Leselampe, Freies Sender Kombinat, 14. Januar 2008
www.freie-radios.net/portal/content.php
Party
Kultur & Gespenster
24. 1. 2008, 20 Uhr, Hafenklang, Hamburg
Das Magazin „Kultur & Gespenster“ trägt nicht nur einen rätselhaften Namen, es liest sich bisweilen auch so: Die Rubrik, in der Comics vorgestellt werden zum Beispiel heißt: „Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung“. Genauso schön vertrackt geht es auch bei der Releaseparty zur sechsten Ausgabe zu. Frank Schäfer liest aus „Homestories – Zehn Visiten bei Schriftstellern“, The Crimes spielen Garagenrock und Jan Jelinek gibt Rätsel auf: Der Berliner lässt es klicken und klacken, seine Alben tragen Namen wie „Kosmischer Pitch“.
Kultur News, Januar 2008
Lust am Schmerz
Zwei Mal Georges-Arthur Goldschmidt
Eine neue Erzählung von Georges-Arthur Goldschmidt ist erschienen, parallel dazu bietet eine Zeitschrift Einblick in die Arbeitsweise des Schriftstellers.
„In dem Internat, in dem ich war, bekam ich den Pop versohlt, noch mit 18. Und das war eine völlig erotische Affäre. In Frankreich heißt das übrigens ‘fessée‘, ein wunderbares Wort, das völlig erotisch besetzt ist. Nicht wie im Deutschen, wo bei Prügeln das Totschlagen mitschwingt, den anderen Eliminieren. In Frankreich ist das ein erotischer Strafspaß, würde ich sagen.“ In einem Gespräch gibt Georges-Arthur Goldschmidt in der neuesten Ausgabe der Zeitschrift „Kultur & Gespenster“ Auskunft über „Lesen und Übersetzen“. Das gesamte, schön illustrierte Heft ist dem 1928 in Reinbek bei Hamburg geborenen Goldschmidt gewidmet – seiner literarischen Arbeit, seinen Eichendorff-, Moliére- und Kafka-Lektüren, seiner Übersetzertätigkeit. Es bietet zudem einen Ausschnitt aus einer entstehenden Erzählung und eine Passage aus seinem Rousseau-Buch, das 1978 in Frankreich erschien.
...
Wie kaum ein anderer Autor, der sich mit dem Holocaust und der eigenen Biografie beschäftigt, gelingt es Goldschmidt die verschiedenen, verstörenden psychischen Gemengelagen des jungen Arthur aus dem Keller seiner Seele ans Licht zu bringen: Es scheint die große Menschheitskatastrophe der Judenvernichtung in der irrationalen und umso vehementeren Scham des Überlebenden auf, der aber eben zugleich ein Pubertierender und damit in einem Zustand noch unerklärter Erregung ist. In einem Leben, das keinen Halt mehr hat, gibt das Internat samt seiner Richten die „Form“ vor, in die er sich einfügen kann.
rüd, Saarbrücker Zeitung, 4. Januar 2008
An der Sprachleine
„Kultur & Gespenster“ widmet sich Georges-Arthur Goldschmidt
Wie lebt es sich zwischen den Sprachen? Der deutsch-französische Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt würde diese Frage zurückweisen; er findet nicht, dass sie jede für sich ganz unterschiedliche Stühle wären, zwischen denen man zu sitzen kommen könnte. Lieber drückt er das Verhältnis von Sprachen in einem Paradox aus: Für ihn sind sie immer anders und doch gleich. Ihre Asymmetrie, schreibt der Kulturwissenschaftler Rainer Guldin in einem Essay des neuen Themenhefts der Zeitschrift „Kultur & Gespenster“, ereigne sich für Goldschmidt „vor dem Hintergrund eines gleich bleibenden unbenennbaren Urgrundes“ – Goldschmidt selbst hat für diese Vorstellung einmal das Bild eines „Stuhls mit zwei Lehnen“ gefunden, auf dem der Mehrsprachler zu sitzen komme. Der Urgrund, von dem aus Goldschmidt denkt und schreibt, ist das Unbewusste. Neben Guldins Essay über die Bilingualität des Goldschmidtschen Werks spukt es als Grundfaszinosum auch durch alle anderen Beiträge der wie immer prächtig gestalteten Zeitschrift, die diesmal von dem Literaturwissenschaftler und Übersetzer Tim Trzaskalik zusammengestellt wurde. Dieser windet seinem Thema selbst den schönsten Kranz, wenn er in einem weitgreifenden Interview Goldschmidt an einer Stelle fragt, ob für ihn nicht der Schriftsteller so etwas wie ein Spürhund an einer „Sprachleine“ sei – und gleich darauf ins Französische wechselt.
Florian Kessler
Süddeutsche Zeitung, 2. 1. 2008, S. 14
Die wichtigsten Termine im Januar
Donnerstag - 24.01.08
Kultur & Gespenster
Lesung und Konzert
An ambitionierten Zeitschriften, die sich durch das Unterholz zwischen Kunst und Literatur kämpfen, herrscht kein Mangel. Eher an solchen, die dieses Feld mit der richtigen Mischung aus theoretischer Schwere und textlicher Leichtigkeit beackern. Das heute seine sechste Ausgabe feiernde Heft "Kultur & Gespenster" gelingt genau das, weshalb hier problemlos eine Abhandlung über Gewalt in den Filmen von Quentin Tarantino neben einem Gespräch zwischen Boris Groys, Ilja Kabakow und Pavel Pepperstejn über die Beziehung zwischen Kunst und Künstler stehen kann. Zur Feier dieses erneut gelungenen Spagats haben die Herausgeber entsprechend unterschiedliche Einladungen ausgesprochen. Erwartet werden sowohl der Berliner Elektroniker Jan Jelinek als auch die Hamburger Punk-&-Roll-Rabauken The Crimes. Und zwischendurch - so viel Kulturkarambolage kommt den Machern gerade recht - liest dann Frank Schäfer noch einen Text über seine Jugend mit Thin Lizzy und signiert anschließend auf freundliche Nachfrage womöglich sogar "Homestories". Das ist sein just im angeschlossenen Textem-Verlag erschienenes Buch über Hausbesuche bei Wolf Wondratschek, Helge Schneider, Max Goldt und anderen Kauzen.
Hafenklang-Exil, Hamburg
20 Uhr, Große Bergstr. 178, Hamburg; www.hafenklang.org
Financial Times Deutschland, 28.12.2007
Tiefere Einsichten
Frauen, Männer und Schießstände
Nach einer monografischen Ausgabe über Georges-Arthur Goldschmidt kommt Deutschlands beliebtestes Dickbrettbohrer-Magazin nun bunt und poppig daher, sein Erscheinen wird auch entsprechend groß gefeiert. Kultur & Gespenster No. 6 widmet sich vor allem der Musik und dem Kino – fast ohne Fußnoten. Die Kunst kommt auch diesmal nicht zu kurz: Peter Piller lieferte die Abbildungen zum Thema Film und Gewalt. Von Roman Schramm stammt eine ausgezeichnete Fotostrecke über Männer als Zielgruppe von Magazinen – eine genaue Studie zur Frage: „Was ist sexy und warum?“ J.M.
Kultur & Gespenster No.6 – Releaseparty mit u.a. Jan Jelinek, The Crimes, Musikgruppe und den Djs Nina Schwabe und Gregor Kessler, Hafenklang Exil, 24.1.2008 ab 20 Uhr, www.kulturgespenster.de, www.romanschramm.com
Szene Hamburg, Januar 2008
Goldschmidt spricht
Die Zeitschrift Kultur & Gespenster zum Fünften
Das ging aber schnell. Erst die fünfte Nummer der Zeitschrift "Kultur & Gespenster" - und schon ein neues Format und Layout: Statt des engbedruckten Ziegelsteins ein üppiges großes flaches Heft; besser lesbar, aber auch mainstreamiger, weniger crazy. Ein bisschen schade ist das.
Trotzdem bleibt's dabei: Diese Zeitschrift, gemacht von drei klugen jungen Leuten in Hamburg, besticht durch ihre Ernsthaftigkeit - konkret: durch die Gratwanderung zwischen akademischer Finesse und poetischem Bekenntnis. Das neue Heft ist dem deutsch-französischen Schriftsteller und Essayisten Georges-Arthur Goldschmidt gewidmet, Tim Trzaskalik betreute den Schwerpunkt. Nach zwei Heften zu Hubert Fichte nun also der 1928 in Reinbek geborene Goldschmidt, der die Nazizeit in einem katholischen Kinderheim der französischen Alpen überlebt; dort rituell von der Heimleiterin geschlagen wird, was er zum dunklen Leitmotiv seines späteren Schreibens erhebt: der Schmerz als Rettung.
Doch bleibt es verwunderlich, und von dem geradezu kindlichen Staunen ist bei Goldschmidt immer die Rede, dass der versteckte deutsche jüdische Junge in Rousseau und in Karl Philipp Moritz die engsten Verbündeten findet - die Literatur ist für ihn keine Historie, sondern greifbarste Wirklichkeit.
Goldschmidt, der in diesem Heft verschiedentlich gedeutet wird, der mit einem unveröffentlichten Text in Erscheinung tritt und in einem großartigen langen Interview zu Wort kommt, spricht über sich selbst ausschließlich im Bewusstsein, dass sein Denken, Fühlen und Handeln dominiert wird vom Unbewussten.
Das Thema der Scham (überlebt zu haben; sexuelle Lust zu verspüren; die tote Mutter zu beweinen...) hat Goldschmidt wie kaum ein anderer seiner Generation bearbeitet, genauer: analysiert. Psychoanalysiert. Das unterscheidet seine Selbstdarstellung so himmelweit von der verzweifelt um Ganzheitlichkeit und Souveränität bemühten Selbstdarstellung eines Günter Grass, um nur das prägnanteste Gegenbeispiel zu nennen.
Ina Hartwig, Frankfurter Rundschau 20. 11. 2007
Den Frechen gehört das Himmelreich
Helden unserer Zeit: Warum sich Krieger wieder für Ruhm und Ehre schlagen sollten
Das aktuelle Doppelheft des "Merkur" ist der Dekadenz gewidmet. Unter diesem Vorzeichen beschäftigt sich der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler mit postheroischen Gesellschaften und der Auswirkung, die das, was Werner Sombart schon 1915 die "Verfettung des Kapitalismus" nannte, auf ihr militärisches Ethos hat.
Weil Helden in der Regel keine Freunde der tagtäglichen Arbeit sind und ihre freie Zeit lieber der sportlichen Fettansatzvorbeugung widmen, waren ihre Gemeinschaften meist in eine Gesellschaft unheroischer Arbeiter eingebettet. Für ihren Lebensunterhalt zahlten sie mit einer Schutzgarantie.
Wichtiger noch als die Ernährung allerdings war dem Helden schon immer die Ehre, die er den Dichtern verdankt. Denn um Anerkennung als Held zu genießen, muss jemand seine Taten bezeugen und loben: Gesellschaften ohne Literatur sind keine heroischen Gesellschaften, sondern allenfalls solche, in denen Gewalttätigkeit an der Tagesordnung ist. Weil postheroische Gesellschaften ihre Krieger aber mehr schlecht als recht in Kauf nehmen und pragmatisch durch Geld alimentieren, geht mit dem Ruhm auch das Bewusstsein der literarisch fixierten Ehrenkodizes verloren. Wenn ihre Anonymität modernen Militärs auch die Lust nimmt, das symbolische Kapital der Ehre durch sinnloses Draufgängertum aufzustocken, so erleichtert sie andererseits den Verstoß gegen internationale Menschenrechtskonventionen. Um die Warlords der neuen Kriege zur Gewaltlimitierung zu bewegen, müsste man sie nach Dafürhalten Münklers statt für Macht und Geld wieder für Ruhm und Ehre interessieren.
Von der französischen Philosophin und Romanautorin Julia Kristeva hat das Kriegshandwerk allerdings keine Aufwertung zu erwarten, auch wenn das Mitglied der einst einflussreichen Tel-quel-Gruppe den militärisch konnotierten Avantgarde-Begriff schätzt. Er betone, so Kristeva in einem Gespräch mit der "Zeitschrift für Ideengeschichte", die Gewalt des ästhetischen Akts, die in seiner schöpferischen Natur begründet ist. Kein Wunder, dass die eigenwillige Denkerin der psychoanalytisch inspirierten Linken radikale Singularität gegen die Heuchelei der egalitären Demokratie setzt. Als militant versteht sie sich dennoch nicht. Auf brutale Ablehnungen sei sie nie zu antworten versucht gewesen. Gegen den männlichen Krieg setzt sie metaphorisch die Geburt: Die wirkliche Bewährungsprobe, die Dramatik liegt im Neuanfang.
Deshalb wertet Kristeva die mit dem Mai 68 anbrechende Epoche als große Zeit, die man jetzt diabolisieren will. In Wahrheit hätten die damaligen Exzesse des Imaginären das alte Frankreich gewaltlos von seiner Starre erlöst.
Auch die unter der Edition Nautilus firmierenden deutschen Situationisten haben ihre anarchistischen Impulse aus Frankreich empfangen. Die damalige Universitätsszene diesseits des Rheins allerdings beschreibt Nautilus-Herausgeber Lutz Schulenburg in "Kultur & Gespenster" als bleierne Zeit der ungenießbaren marxistischen Besserwisserei: Man musste sich ständig rechtfertigen dafür, dass man keine Gefangenenbefreiung gemacht oder diese und jene ganz finstere militante Demo nicht unterstützt hat. Was Schulenburg beeindruckt, sind Einzelgänger, die sich schräg zu etablierten Linien bewegen, Kunst mit sozialer Revolte verbinden und kreative Alternativen zu eingefahrenen Situationen finden. Da Pazifismus nicht zu den Tugenden der Anarchie zählt, fällt bei ihm dabei durchaus auch Bewunderung für die RAF und ihre Bereitschaft ab, das eigene und das fremde Leben einer Überzeugung willen zu opfern.
Dem schöpferischen Moment, auf den Kristeva in der Kunst setzt, entspricht im Leben oft die Frechheit. Der Magdeburger Soziologieprofessor Rainer Paris bescheinigt ihr im "Merkur" eine epidemische Verbreitung. Meist siegt sie, weil ihre Leidtragenden sie als Ausnahme durchgehen lassen oder weil die Regeln, gegen die sie verstößt, keine unbefragte Geltung mehr besitzen, so dass der ihr Entgegentretende selbst leicht ins moralische Zwielicht gerät. Jede Frechheit birgt die Möglichkeit einer Eskalation, die bis zum Umsturz der verletzten Ordnung führen kann. Besteht doch die Gefahr, dass sich die Zuschauer solidarisieren. Denn wie der Held braucht der Freche ein Publikum. Das Ziel der Frechheit ist ja: Aufmerksamkeit ohne Sanktion. Weder dem Herunterschlucken des Ärgers noch dem Aufbegehren gegenüber dem Übeltäter kann Paris eine heroische Note abgewinnen. Aller Glanz kommt in der Abwehr der Frechheit der überraschenden kreativen Wendung zu. Die Lacher sind auf Seiten des Betroffenen, wenn er die Situation als eine Art Spiel zu deuten vermag und den Ball geschickt zurückwirft. Allerdings bedarf es zum gut sitzenden Konter einer bestimmten inneren Freiheit, einer nonchalanten Souveränität gegenüber den Zwängen der Situation, kurz: selbst einer guten Portion Frechheit. Erschwert wird sie durch den Umstand, dass der Freche mit Vorliebe Autoritäten auf die Schippe nimmt, die manches zu verlieren haben, sobald sie sich auf sein Niveau begeben.
In dieser Zwickmühle befand sich der Frankfurter Philosoph Jürgen Habermas, als er Opfer einer Aktion des notorisch aufsässigen Adorno-Promovenden Hans Imhoff wurde. In einem "Kultur & Gespenster"-Beitrag zur historischen Rolle der Coolness zitiert Dirck Linck den Wortwechsel, der sich 1968 ergab, als Imhoff durch die damals den Professoren vorbehaltene Tür in eine Habermas-Vorlesung spazierte. Der vorgewarnte Professor bot dem Eindringling Stuhl und Mikro an. Umsonst: Der Störenfried verharrte in penetranter und hermetischer Präsenz und provozierte Habermas schließlich zu einer entblößenden Drohung.
Für Linck gehört Imhoffs Dreistigkeit zu einem Verfremdungs-Repertoire, das die Achtundsechziger mit zehnjähriger Verspätung von der amerikanischen Beat Generation bezogen. Die Empfehlung der Coolness als subversiver Erkundungspanzer konnten sie auch schon bei Ernst Jünger finden. Der seelisch obdachlosen Jugend der zwanziger Jahre empfahl der national gesinnte Autor den Habitus der Kälte. Er sollte ihre aggressiven Impulse maskieren und es möglich machen, unerkannt "in Bürgerzimmern zu kampieren". Bis heute fasziniert Coolness, weil in ihr etwas von der Camouflage vor drohender Gefahr steckt und das kriegerische Vermögen, existentielle Ängste zu verbergen. Im Verzicht auf intuitive Gegenwehr gleicht Julia Kristeva den Coolen, in der Umleitung ihrer Aggression auf einen kreativen Neuanfang ist sie ihnen voraus und beweist doch, dass künstlerische Avantgarden immer Kinder des Krieges sind.
Ingeborg Harms
Text: F.A.Z., 15.09.2007, Nr. 215 / Seite 36
Lodown Magazine
Korrektor & TV-Lounge: In- und Auslandsverbindungen
by Carsten Klook
Since this one probably won´t be translated (maybe to Plattdeutsch?),
why bother with foreign languages? Klook ist Norddeutscher, das merkt
man sofort, dazu Journalist, das merkt man nicht unbedingt, und schon
mit "Korrektor", seinem um 1990 entstandenen Romandebüt, war
offensichtlich, das seine Verbalakrobatik (á la "Top-Sekrete aus den
oberen Himmelsbereichen", "Unerlöste Klammer-auf-Klammer-zu-
Schicksale", oder "Sonntagsfahrer, an den Kantsteinen die
Schleifspuren der Alltage, sie schaben sich zurecht") direkt an das
assoziative Erbe eines Arno Schmidt andockt und dessen krooked
Penmanship indirekt fortführt. Mit "TV-Lounge", seiner neuen Sammlung
von Shorts, entwirft Klook u.a. den ultimativen Toskana-Trip eines
gelangweilten Jerk-off-Kinds, Momentaufnahmen einer gescheiterten
Blitzreise und andere Psychokonstellationen. Northern Comfort anyone?
Lodown 58 (Oct/Nov 2007)
Blütenleser
Blick in die Literaturzeitschriften:
Kultur & Gespenster - Wirklich wahr II
Eine der spannendsten Kulturzeitschriften der Gegenwart geht in die vierte Runde, fragt, was wirklich wahr ist und schaut sich staatenbildene Insekten im Industriezeitalter an, Wolfgang Koeppens "Treibhaus"-Roman, amerikanische Landschaftsmalerei, verkrampfte Kunst, den Terrorismus von links, ein Ultraschall-Festival...
Blütenleser, September 2007
Vom Sinn
Nur wenige Wochen im Jahr, schrieb der Schriftsteller Robert Musil im "Mann ohne Eigenschaften", habe das industrialisierte Bewusstsein noch die Möglichkeit, sich von den Denkzwängen des Alltags zu befreien. Musil nannte dies Ferialstimmung, die lange Zeit des großen Sommerurlaubs, in der Gedanken herrschsüchtig und raumgreifend werden, die bisher, zwischen Konferenz und Termin, zurückgedrängt blieben und sich nun, zwischen Cocktail und Strandgang, heranschleichen. Die unbedarften Floskeln des Alltags gewinnen plötzlich weitere Dimension, Geschmacksfragen werden zu Grundsatzfragen, auch der Streit zwischen der vielbenutzten, manchmal mit Stocken und Entscheidungsunsicherheit verwandten angloamerikanischen Sprachanleihe und ihrem deutschem Widerpart könnte, wächst die Einsicht, von tieferer Bedeutung sein: "Haben" das Leben und die Dinge einen Sinn, oder "machen" sie einen? Verwirrt schlug der Urlauber des Jahres 2007 die Ferienlektüre auf, er hatte sich die Zeitschrift "Kultur und Gespenster" mitgenommen, nicht die neueste Ausgabe, sondern jene aus dem vergangenen Herbst, in der die Berliner Kulturwissenschaftlerin Anna Echterhölter im Brustton akademischer Überzeugung ungefähr Folgendes schrieb: Es mache keinen Sinn mehr zu sagen, dass etwas Sinn habe. Das sei ein alter Gedanke der kontinentaleuropäischen Geistestradition, gleich dem Begriff Geist selbst zu den Akten der Philosophiegeschichte zu legen. Die Welt von heute bestehe, wo sie sich zeitgemäß begreift, aus unermüdlichen Sinnproduzenten. Dass die Dinge Sinn haben, ließe sich das Argument weiterführen, sei ein alter metaphysischer Gedanke. Es müsse dann ja ganz selbstverständlich einen Gott geben, der den Sinn gestiftet habe, auf den der Mensch immer zurückgreifen könne, wenn er durch den Spiegel der Natur in jenes dunkle Wort gesehen habe, von dem Luther einst sprach. Als nachmetaphysische Alternative empfiehlt sich seit geraumer Zeit die angloamerikanische, pragmatische Variante: der Abschied von einer anthropomorphen, dem Menschen dienstbaren Welt und der Einstieg in die kopernikanische Welt der Arbeit, des hektischen, unabschließbaren Wirklichkeitserwerbs. Wo kein unbewegter Weltbeweger im Hintergrund mehr angenommen wird, da ist auch der Sinn erst zu erarbeiten. Eine Aufgabe, die dem Urlauber das Vergnügen verderben konnte. Hatte er doch die Unterscheidung von "Sinn machen" und "Sinn haben" bislang für eine Sache von Sprachpedanterie, einen lässigen Streit von Antiquaristen und Aktualisten, gehalten und musste nun erkennen, dass es eine von großen geistigen (oder soll man sagen: kulturellen?) Verschiebungen war, eine Kontinentaldrift des Denkens, der er sich an unsicherem, heimatfernem Ort ausgesetzt sah. Auch wo sich das Denken vom postindustriellem Fleiß beurlaubt und den Sinnfragen zuwendet, landet es heute meistens, so muss es penibel erfahren: im Betrieb. thom
Text: F.A.Z., 25.08.2007, Nr. 197 / Seite 33
Beunruhigend
Nervöse Erzählungen von Carsten Klook
Wer nur „Arnd“ heißt, hat schon Glück gehabt. In „TV-Lounge“, dem neuen Erzählungsband von Carsten Klook, werden die Hauptfiguren (von „Helden“ möchte hier niemand sprechen) schon durch ihren Namen stigmatisiert und an den Rand einer Gemeinschaft gedrängt, die sich vor allem durch ihren plärrenden Leerlauf auszeichnet. Widerstand ist zwecklos, und so nähern sich Zenner, Seidel und vor allem Spollt dem Nullpunkt an, ohne freilich dort ankommen zu können. Zenner, für den eine Beziehung nie länger als „1200 Betriebsstunden“ hält, verebbt als Mensch in jenem Urlaub, der ihn eigentlich wieder auf die Beine bringen sollte, und Spollt muss feststellen, dass ihn sein Job in einem monströsen Verlag für Fernsehfachzeitschriften ausschließlich mit kaltgelackten Medienzombies zusammenbringt. Klook (Jg. 1959) hat seinen Charakteren jene nervös spielende Sprache verpasst, die genauso brüchig ist wie die Realität, durch die sich die Figuren bewegen. Beunruhigende Momentaufnahmen aus der Reaktorkammer der Gegenwart.
Carsten Klook: TV-Lounge. Textem Verlag 2007, 181 Seiten, 14 €
15. August 2007 Kieler Nachrichten (kuj)
Kultur & Gespenster
„Das Bedürfnis dazwischenzuquaken, verwandelt in Machbarkeitsfantasien und Gestaltungswut". Kultur und Gespenster ist ein neues Quartalsperiodikum das fernab oder vielleicht besser im Subtext der Feuilletons agiert und einen neuen Gestaltungsanspruch hegt. Es ist das Wühlen in den Perspektiven, das Mäandern an kulturellen Rändern, der Rausch der Intellektualität, das Augenzwinkern der Seitenblicke und das Abschalten der Gleichschaltungen, was diese Lektüre so wertvoll macht. Es ist ein Raunen von politischen Underdogs, das Großbuchstabieren von Kritik. Kulturrabauken und -liebhaber zugleich. Literaturfanaten, Essayisten, Schriftsteller, Analytiker, Verleger, Komplexitätsverwalter, unaufdringliche Distiktionsgewinnler, Systemaufdrösler. Sie lautmalen anderes, um kritische Frequenzen an die Tonangebenden zu senden. Kurz, es ist die Leidenschaft für die Sache, manchmal eine sehr spezielle, die hier die Feder führt. Es finden sich u. a. ein sehr schönes Interview mit den Verlegern der Edition Nautilus über Situationisten, Subrealisten und die Linke in Deutschland („Was heißt hier politisch engagiert?/Das sagte man damals nicht so. Das war eigentlich ein echtes Schimpfwort!/ Politisch engagiert! Das waren die Jusos! Wir sind ja Revolutionäre!“); eine interessante Abhandlung über die (rechtliche) Problematik von Collage und Copyright; einen Essay über den Mythos der Authenzität in Interviews, wo das Galore Mag in seinem Anspruch fachgerecht zerlegt wird; eine lange (historische) Abhandlung über Tagebücher und ihre Bedeutung, Auslassungen über dekonstruktiven Dokumentarismus, die Rationalität der Magie, die Hörweisen von Autopietiesten und Klanganthropologie und eine weitere unglaubliche Menge an Aufsätzen, Literaturnanalysen, Ideen, uswusfetcpp... Dem nicht genug finden sich künstlerische Fotostrecken, Skizzen, Comics und diverse Literaturreviews in diesem 418 Seiten starken Kompendium in Buchform. Sicher, manches ist mitunter sehr speziell, aber jeder, der sich für Kultur im weitesten Kontext interessiert, wird hier eine sehr lohnenswerte Lektüre finden. "Kultur und Gespenster" ist absolut wunderbar in seiner intelligenten Heterogenität. Für Kulturinteressierte, die abseits der gleichgeschalteten Feuilletons kritische Analysen und interessante (Sub)Themen entdecken wollen, ein Muss.
Kultur und Gespenster # 3 – Wirklich Wahr
Textem 2006, 418 Seiten, 12 €
Christian Eder, noisyNeighbours #20
TV-Lounge
Das Buch „TV Lounge – In- und Auslandsverbindungen“ vereint fünf Erzählungen des gebürtigen Hamburgers Carsten Klook. An verschiedenen Handlungsplätzen lässt der Schriftsteller Personen auftreten, die alle eine tiefe, innere Unsicherheit vor dem Unvorhergesehenem eint. Er beschreibt Menschen, die mit anderen Menschen beschäftigt sind, aber noch viel mehr mit sich selber. Zum Einstieg sollte man vielleicht die ersten drei Erzählungen überspringen und sich den letzten beiden annähern. Eine der beiden heißt „Elastische Füllung“. Hier wird man Beobachter eines Dramas, das sich vor finnischer Kulisse abspielt. Seidel, stolzer Sportwagenbesitzer und Agenturchef – in dieser Wertigkeit! – fährt mit Caren in den Finnland-Urlaub. Auf dieser Reise nimmt das Drama seinen Lauf, je mehr man über die beiden erfährt, die am Anfang der Geschichte nur undeutlich umrissen werden. Nach und nach werden biografische Informationen gestreut, die immer einer Lebensvorstellung gegenüber gestellt werden. Diese sind geprägt von Ängsten, Verzweiflung und Unruhe. Die Personen haben eine Idee von sich selber, die sich aber nicht mit der Wirklichkeit verträgt. Zum Schluss kommt es nicht nur in dieser Geschichte zu einer Trennung: von einem Partner oder von einer eigenen Lebenseinsstellung. Die Sprachakrobatik des Schriftstellers wirkt teilweise etwas angestrengt. Aus dieser Anstrengung heraus entstehen Irritationen für den Leser, die manchmal im Verständnis für die Protagonisten nicht sehr hilfreich sind. Es ist schwer, den emotionalen, gedanklichen Verstrickungen zu folgen. Wo der Autor eine Geschichte wachsen lässt, den Handlungsrahmen enger strickt, wie in den letzten beiden Erzählungen, öffnet sich dem Leser eine Welt, die er deutlicher verstehen kann, geprägt durch die Phänomene der heutigen Zeit: der Suche nach dem Sinn und dem Mangel an Klarheit. Die Helden und Heldinnen des Alltags schrumpfen dann in sich zusammen und sind dadurch völlig überfordert mit dem Leben umzugehen.
Carsten Klook: TV-Lounge – In- und Auslandsverbindungen, Textem Verlag 2007
Marcel Müller in: Style & The Family Tunes Juli/August 2007
Farbenprächtige Geschichte
Der aus St. Leon-Rot stammende und in Japan wohnende Achim Stegmüller las in Walldorf aus seinem Roman „Nagaoka“
Die Erzählung hat eine exotische Haupthandlung und schildert einen in Süddeutschland lebenden Ich-Erzähler, einen jungen Mann, der sich aufmacht, seine verschollene Mutter, die schon viele Jahre von seinem Vater geschieden ist, zu finden. Sicher sind da eigene Erlebnisse in die Erzählung eingeflossen, aber als aufmerksamer Student hat er schon die Bedürfnisse der richtigen und erfahrenen Leser erfasst. Die lieben nämlich eindeutig das Ebenmaß der Gegensätze und die Garnierung der Haupthandlung mit Nebensträngen, die auch manchmal gerne im Nichts verlaufen dürfen.
An beidem spart Stegmüller in seinem Buch keineswegs. Da ist zunächst einmal die Beschreibung der Gesichtsausdrücke der Eltern des Erzählers. Den Vater stellt er mit großem Mund und großen Zähnen, mit viel Abstand voneinander, vor, bei seiner Mutter stehen die Zähne sehr eng beieinander. Dafür hat sie ausgesprochen große Ohrmuscheln, die seinen Vater besonders reizen – er ist Metzgermeister und möchte am liebsten alles zu Wurst verarbeiten; sie ist eine japanische Künstlerin. Die Hochzeit zwischen beiden sei ein großer Irrtum gewesen Dieser Vorspann gehörte mit zu den wenigen Hinweisen, mit denen der Leser geführt wird. Der Autor fordert, dass seine Leser mitdenken.
Außerordentlich farbenprächtig sind die Nebenstränge geschildert.
Rhein-Neckar-Zeitung, 23. Juni 2007
Abenteuer in Wort und Sinn
(ea) Lauenburg - Wenn der neue Roman des Literaturstipendiaten im Lauenburger Künstlerhaus hält, was Autor Carsten Klook verspricht, soll es ihm an Lesern nicht mangeln. Die ersten zwei Kapitel seines Stipendiaten-Elbe stadt romans stellte der Hamburger dieser Tage vor. „Gespenster in der Unterstadt“ heißt der Arbeitstitel der inhaltlich und sprachlich komplexen Mediensatire. Was und wie der analysestarke Beobachter Klook in mehreren Ebenen erzählt, will nicht nur Lauenburger erreichen. Diese werden – zugegeben – im künftigen Buch vieles Alltägliche und Spezielle aus ihrer direkten und weiteren Umgebung wiedererkennen. Allein die Schilderung eines Ganges durch die Lauenburger Elbstraße ist preisverdächtig.
Das Expose der Geschichte steht längst, auch einen Schluss hat Karsten Klook schon in petto - „der kann sich allerdings noch ändern, wenn ich etwas gutes Neues entdecke“, verrät der Autor. Rund 160 Seiten soll das Werk, an dem der 48-Jährige während seines halbjährigen Stipendiums im Künstlerhaus schreibt, am Ende umfassen. „Etwa die Hälfte werde ich wohl in Lauenburg schaffen“, schätzt er. Ob er den Rest in Hamburg fertigschreiben wird oder eine weitere Phase Lauenburg anhängen muss, sei noch offen.
Unaufgeregt und mit einem Fläschchen Dithmarscher präsentierte sich Carsten Klook bei seiner Lesung im Künstlerhaus.
Der Roman beleuchtet einen Ausschnitt im Leben von Drebuchautor Marc, der unter dem Druck diverser Vorgaben das Buch für einen Elbekrimi mit einem gewissen Kommissar Hock ausbraten muss. Die jeweils mehrschichtig verwobenen Handlungsstränge spielen teilweise in Lauenburg, verweben Fiktion und Realität höchst amüsant. Klook überrascht mit neuen Sprach- und Bilderspielen, nimmt Worte und Bedeutungen auseinander. Er verquickt Tagebuch- und Boulevardstil ebenso gekonnt, wie er Rituale, Missverständnisse und Klischees seziert. Der Zuhörer oder Leser fühlt sich oft ertappt - und ist fortlaufend gefordert: Stipendiat Klook kombiniert und phantasiert ohne Scheu, präsentiert fast immer eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Dem Autor zuzuhören, ist sehr reizvoll. Seine Bücher zu lesen, dürfte deutlich anstrengender sein.
Als eine Art Zugabe las Klook zum Abschluss noch aus dem bereits veröffentlichten Erzählband „TV-Lounge - In- und Auslands verbindungen“, einer Sammlung von fünf Episoden, in denen sich Menschen in unter schied lichen Szenarien durch mangelnde oder zu starke Abgrenzung entkommen. Die klassische Läuterung der Protagonisten findet nicht statt, sie bleiben – wie zeitgemäß! - in ihren Unfähigkeiten gefangen.
Carsten Klook
Jahrgang 1959, lebt und arbeitet als Schriftsteller und Journalist in Hamburg-Altona. Er war u.a. für Style & The Family Tunes, die Financial Times Deutschland, die taz, tuxamoon.de, Kultur & Gespenster sowie brand 1 tätig. 1988 und 1991 erhielt er Literaturstipendien der Stadt Hamburg, 2005 wurden sein Buch „Korrektor“ und die Hörstücke-CD „Halbe Portion Jubel“ veröffentlicht, 2006 das Hörspiel „Talk Slalom“. Klooks Erzählband „TV-Lounge - In- und Auslands verbindungen“ erschien 2007.
RZkultur 26. 6. 2007
Wir, das Gericht
Ein Analytiker wird analysiert: Alexander Mitscherlichs Leben
Es mag diese Unsichtbarkeit gewesen sein, die während der Frankfurter Studentenrevolte den Aktionskünstler Hans Imhoff zur legendären "Mitscherlich-Aktion" motivierte - die er später rekonstruierte und, um Gespräche mit Leuten aus Mitscherlichs Schülerkreis wie Heide Berndt erweitert, als Buch veröffentlichte. Die Zeitschrift "Kultur und Gespenster" hat kürzlich diesem denkwürdigen Ereignis einen Artikel gewidmet, im kommenden Heft wird der vollständige Text nachgedruckt.
LORENZ JÄGER
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.06.2007, Nr. 132 / Seite 39
Aus neuen Zeitschriften (Nr. 53)
Dem Phänomen "Kultur und Gespenster" wurde gerade vom Deutschen Literaturfonds eine hohe Förderung zugesprochen, vermutlich war das bitter nötig, denn ein solches Unternehmen kann man nur mit einem gewaltigen und riskanten Feldzug vergleichen. Plötzlich war dieses Kulturmagazin da, als sei es zehn Jahre lang in der stillen Tiefe des Raums vorbereitet worden. Das erste Heft ist das dünnste und geschlossenste, es beschäftigt sich mal enger, mal weiter mit Hubert Fichtes Werk und Welt, vom Leben seiner exzentrischen Bekannten bis zur "Künstlerischen Feldforschung in Tansania". Seitlich dazu angeordnet sind typische intellektuelle Lieblinge wie Alexander Kluge. Germanistische Kryptiker surfen über Medienthemen, um zu zeigen, was einem dazu so einfallen kann, dazwischen gibt es merkwürdige Fotostrecken und Werbeanzeigen von Hipster-Unternehmungen, die bis vor kurzem noch "Plattformen" hießen. Kathrin Röggla erledigt zuverlässig ihren Job. Ein großes raunendes Crossover - aber: Das Sammelsurium hält hohen Ansprüchen stand. Besser lektoriert als die besten Tageszeitungen dieser Republik, legt diese Zeitschrift auch inhaltlich einen Maßstab vor, allerdings bleibt die Frage, wer das Material bewältigen soll, und manches ist sehr geschmäcklerisch.
Das Nachfolgeheft 2 "Unter vier Augen" beschäftigt sich grob gesagt mit dem Interview, doch wird die ausufernde Bandbreite zur reinsten Leistungsschau. Dass thematisch einiges aus dem Ruder läuft, macht aber auch hier nichts, denn immer ist "K&G" interessant, wie eine "Vanity Fair" für Dr. phil.´s. Jörg Schröder fahndet verkleidet nach Reemtsma, Thomas Bernhard wird gehuldigt, während er selbst live grantelt. Wieder sind Kluge und Röggla im Boot, und dass man den Primärtext kaum von der Forschung unterscheiden kann, finden die Herausgeber vermutlich richtig klasse. Diskurse darüber, ob Interviews nicht per se Manipulationen darstellen, sind schlicht langweilig. Anschließend macht K&G dem "Kunstforum International" Konkurrenz, dann folgt der göttliche Text vom göttlichen Robert Neumann, "Spezis in Berlin" (1966), den jemand wiederentdeckt hat, und zum Schluss wird das Thema Comics abgedeckt. "Aufhör´n", möchte man japsen und muss doch das meiste lesen.
Heft 3a setzt an zum Overkill. "Wirklich wahr", dieses Allzweckthema bezeichnet das Eingeständnis, dass eine Grenzensetzung nicht mehr möglich ist - und Teillieferung 3b soll erst noch kommen. Ernst Jünger wird mit den Beatniks verglichen, na gut, Jünger wird seit Jahrzehnten mit allem verglichen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, und diesmal sind auch Frösche mit dabei. Bekifft geht es weiter: Die Alt-Anarchos der Edition Nautilus reden auf sehr sympathische Weise sehr verworrenes Zeug. Fotostrecke und Comic. Dinge, von denen man noch nie etwas gehört hat: Audiopietisten. Bildende-Kunst-Strecke. Enno Stahl fordert mal wieder mehr Arbeiter in der Literatur. Eine Fotostrecke, leider so interessant wie Gerümpelräume. Eine wichtige, weil handfeste Untersuchung über Copyrightprobleme, von Sebastian Burdach. Und Rezensionen. Und Comicdiskurs und und und bis zur Formlosigkeit. Wann kommt der Herzinfarkt, liebe Herausgeber? Manko: Die Schrifttype ist zu klein, und Autorenangaben fehlen. Fazit: einfach plättend, einfach zu viel, einfach danke.
MARCUS JENSEN,
AM ERKER Nr. 53, Mai 2007
Den Kapitalismus abschalten
Schriften zu Zeitschriften: Die "Kommune" betreibt linke Trauerarbeit und bringt noch einmal einen Schwerpunkt zur RAF, "Kultur & Gespenster" freut sich über den Geist der Anarchie und arbeitet sich an Wolfgang Kraushaar ab
Die Gewaltfrage kann urplötzlich beim zweisamen Couchgespräch vor dem Fernseher auftauchen: Hast du schon mal jemanden töten wollen, mehr oder weniger in Gedanken, aber dennoch ohne innere Zweifel? Wenn gerade ein Krimi läuft, wirkt solche bierselige Spekulation meist selbstgefällig. Doch wer einmal Todesangst oder eine drohende Vergewaltigung erlebt hat, der hat auch dann eine konkrete Empfindung.
Angesichts von vermummten Steinewerfern auf dem Bildschirm stellt sich die Frage diesseits der Notwehr: Wer von denen würde abdrücken, wenn er statt des Steins eine Knarre in der Hand hält? Das dargebotene bizarre Aufstandspiel mit allerlei einstudierten militanten Taktiken ist ja nicht nur ein folgenloses theatralisches Ritual. In der leidenschaftlichen oder coolen Gewalttat offenbart sich eine immanente Symbiose aus Spiel und Ernst. Alles könnte stets in Sekundenschnelle
kippen; der Grat ist schmal und zudem unsichtbar. Man kann durchaus ins Sinnieren geraten über die Überlebenschancen von George W. Bush oder des Deutsche-Bank-Chefs Josef Ackermann auf Rostocker Seitenstraßen am Samstag. Ussama Bin Laden hätte höhere gehabt.
Das psychologische Fantasieren über die Gewalt befeuert auch die RAF-Debatte, über deren Wiederaufflammen viele seit Monaten nur den Kopf schütteln können. Alles schien dazu seit Jahren geschrieben und gesagt. Der RAF-Themenschwerpunkt im aktuellen Heft der Kommune zeigt noch einmal, warum dies dennoch eine Vergangenheit ist, die nicht vergehen
will: Obwohl der lange Abschied von der Revolution 1968 ff. so eindeutig und nachhaltig ausfiel, fehlte es angesichts des überstandenen kollektiven Wahns an "linker Trauerarbeit", so Martin Altmeyer. Am 20. Mai 1973 hatte Ulrike Meinhof an Horst Mahler über die Möglichkeiten von Befreiung und Heilung geschrieben: "Gewalt gegen die Schweine: Knarre, Bewusstsein, Kollektiv." Um "Komplexitätsreduktion mit der Waffe" (Herfried Münkler) geht es. "Der Feind ist unsre eigne Frage als Gestalt", wusste bereits Carl Schmitt. Und mit der Auslöschung des Feindes hofften die Täter daher, sich von allen inneren Fragen und Widersprüchen zu erlösen.
Moralisch hätte die Grenze zu solcher Inhumanität von vielen Linken Kurt Edler zufolge leicht überschritten werden können: "Seien wir ehrlich: dass die RAF in ihrem Werben um Mittäter so erfolglos blieb, … lag nicht an der Moralität des Widerspruchs, sondern - typisch für die neomarxistische Linke damals - am strategischen Realismus all jener am Diskurs Beteiligten, die den RAF-Gründern damals widersprochen haben." Interessant wird es wieder in der psychologischen Fantasie: Wer von den heute in ihren Funktionen agierenden Ex-K-Grüpplern und einstigen Maoisten hätte nach einer erfolgreichen Revolution "im Dienste der Sache" Hinrichtungslisten unterschrieben, irgendwann Abweichler "notgedrungen" liquidiert oder solche Taten in Artikeln gerechtfertigt? Diese existenzielle Unsicherheit über die furchtbaren Möglichkeiten des eigenen Ichs, über die knapp entronnenen Folgen ideologischer Verblendung rumort individuell. Sie dürfte heute die von Ewiggestrigen und ignorant-romantischen Kulturlinken belächelte und befehdete linke Trauerarbeit von Koenen, Kraushaar & Co. antreiben.
"Und Wolfgang Kraushaar bestimmt, was über die Linke noch zu denken ist", meint denn auch pseudoprovokativ der unschuldig nachgeborene Jan-Frederik Bandel, Mitherausgeber von Kultur & Gespenster. Sein denkwürdiges Interview mit Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg, den jahrzehntelangen Machern des Verlags Edition Nautilus, ist eine Performance über linkes Denken, die situationistische Bewegung, über Politik, Revolution, Kultur, Literatur, Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion, kurz: eine mal dämlich-befremdliche, mal anarchisch kreative Wahnwelt mit antiautoritären Genen. Die Knarre wird von Schulenburg trotz aller verbaler Sprengsätze zum Glück im Schrank gelassen: "Der Kapitalismus muss sofort abgeschaltet werden und zwar schnell, weil dann das, na ja …" Wer fühlte sich dabei nicht an die ähnlich inhaltsschweren Botschaften des G-8-Protest erinnert?
ALEXANDER CAMMANN
taz vom 5.6.2007, S. 13
TV-LOUNGE
In der Buchhandlung wäre ich wahrscheinlich daran vorbeigegangen: „TV-Lounge. In- und Auslandsverbindungen“. Wilde Assoziationen bilden sich in meinem Kopf und ich ahnte nicht, wie sehr ich damit dem Kern dieses Energiebündels nahe komme.
Sprache ist zum Spielen da! Carsten Klook geht seinen, im „Korrektor“ aus dem Jahr 2005, begonnenen Weg weiter. Grammatikalisch muss man sich hier auf Neuland einstellen. Er spielt eher mit den Worten als dass er sie in Reih und Glied zielgerichtet anordnet. Wundert man sich anfangs noch über die Wort- und Satzneuschöpfungen, ist bald bewusst geworden, dass hier, aller Irritation zum Trotz, jemand am Werk ist, der weiß, was er tut.
Man hat nicht das Gefühl, dass man jede Zeile verstehen muss, die Klook schreibt. Im Gegenteil: Die Bedeutungsfragmente setzen sich schon irgendwie zusammen. Je nach Prägung und Vorliebe des werten Lesers. Aber trotzdem in ihrer Wirkung ungebrochen. Er schreibt wie er denkt – möchte man meinen. Im Idealfall kann man seine schweifenden Ideen nachvollziehen – oder glaubt es zumindest. Manchmal ist man sich sogar sicher, dass man weiß, warum Klook genau dieses Wort nun an genau jener Stelle benutzt. Ob man damit richtig liegt ist zweitrangig, denn im nächsten Moment ist man schon wieder in der Verschriftlichung verloren und sucht nach Erklärungen.
Er zeichnet seine Bilder mit einer Sprache, die sich über Grenzen hinwegsetzt, welche vorher noch nicht einmal sichtbar waren. Die eindrucksvolle Greifbarkeit dieser mag sich nicht jedem erschließen. Und das ist auch gut so. So gut es eben sein kann.
Das Wesen des Buches ist der Form dementsprechend auch nicht allzu fern: Der gebürtige Hamburger erzählt in fünf Geschichten von Einsamkeit und wie sie von seinen Figuren, nach Antworten suchend, zerpflückt wird – freilich ohne sie zu besiegen oder zu ergründen. Hoffnung sieht anders aus. Das wird hier schnell klar.
Mit schmerzhafter Kälte schildert „TV-Lounge – In- und Auslandsbeziehungen“ Situationen, Gefühle und Momente, die der Leser gut kennt und von denen er weiß, dass gerade dies die Tatsache ist, die ihm Angst machen sollte.
In den Episoden von Einsamkeit und Leere findet man sich schnell wieder. Zu schnell. Eine Identifikation, die nachdenklich stimmt. Kein schmunzelndes „Ja-das-kenn-ich-nur-zu-gut“-Feeling oder eine schmachtende „Ach-ich-weiß-wie-sie-sich-jetzt-fühlt“-Melancholie; eher eine, dezent in die Kniekehlen tretende, „Das-bin-ich“-Erkenntnis.
Die Trostlosigkeit. Kein Halt, kein Sinn, kein Wärme. Verlorene Schicksale, die sich einander annähern, um sich dann wieder gegenseitig abzustoßen. Der Kreislauf unserer Zeit. Nicht das originellste Thema! Nur selten so erfrischend und wenig pädagogisch wertvoll vermittelt wie hier. Von Gutmensch-Appellen bleiben wir verschont. Ebenso von überspitzten Inszenierungen. Klook überlässt dem Leser die Drecksarbeit, sich mit der Quintessenz auseinanderzusetzen und lässt sie frei wirken. Man neigt dazu, anzunehmen, dass er dies noch nicht mal mit voller Absicht tut.
Dieses Buch ist ein Experiment, auf das man sich einlassen sollte, sich auch nach den ersten Seiten zu überwinden, weiterzulesen, um dann zu entscheiden, ob man mit Klook weiterreist oder unterwegs aussteigt. Die Dinge, die er zeigt, sind es aber wert, sich seinem Stil anzupassen. Was mit der Zeit immer leichter fällt.
„TV-Lounge – In- und Auslandsbeziehungen“ ist nicht das Buch, das stundenlang wach hält; es ist das Buch, das am nächsten Morgen unschuldig daliegt, gleichgültig – aber wissend, dass man es wieder in die Hand nehmen muss, um sich tiefer in die Faszination der Leere zu graben. In immer wieder neue Spielarten der Selbsterkenntnis, aufbereitet ohne Gebrauchsanweisung.
Klook lässt seine Charaktere oft zurückblicken. Schlüsse ziehen, die sogleich wieder an der Realität zerschellen. Man kann sich schwer ein Buch vorstellen, das dermaßen dazu prädestiniert ist, es in ein paar Jahren wieder zu lesen, um selber zu sehen, was sich im eigenen Leben verändert hat. In den Geschichten, den Bildern und dem, was diese über den Menschen offenbaren, der gerade zurückblickt.
Carsten Klook, 1959 in Hamburg geboren, bringt mit der „TV-Lounge – In- und Auslandsverbindungen“ den Nachfolger zu seinem Erstling „Korrektor“, ebenfalls im Textem-Verlag erschienen, in die Regale.
Philipp Sälhoff, P*U*S*H*-Magazin Mai 2007 www.pushmagazin.de
Büchertisch
»Sie wollen ein Geheimnis bleiben?« – »Richtig. Wer ich wirklich bin, ist komplett uninteressant. Ich bin zufrieden mit der Kunstfigur, die ich für mich entwickelt habe. Was sich dahinter verbirgt, will ich nicht wissen.« – »Vielleicht nichts.« – »Möglich. Vielleicht lauert hinter der Maske nur eine gigantische Leere. Das halte ich nicht für unwahrscheinlich.« Das sagte der Interviewkünstler André Müller im Gespräch mit Harald Schmidt, und Jens Ruchatz stellt es seinem Aufsatz als Motto voran. Authentizität als Versprechen des Interviews handelt davon, dass wir glauben wollen, das Interview enthülle den wahren Kern der Person, zugleich wissen können, dass es eine andere Form der Inszenierung ist. Die Pilatusfrage »Was ist Wahrheit?« bestimmt die jüngste Ausgabe dieser anarchisch gestimmten, leicht chaotisch wirkenden Zeitschrift, die auf hohem Niveau und mit subtilen Illustrationen die Fraglichkeit unserer Weltwahrnehmung sichtbar macht.
Kultur & Gespenster Nr. 3, Wirklich wahr, 2007
ULRICH GREINER
DIE ZEIT, 19. April 2007
Geisterforschung
Coole Achtundsechziger in der Zeitschrift „Kultur und Gespenster“
Aus dem Abstand von vier Jahrzehn ten von einer „kulturellen Formation ‚68’“ zu sprechen, heißt der Geschichte der alten Bundesrepublik mit dem Blick des Archäologen zu begegnen. Dirck Linck, Literaturwissenschaftler in Han nover, hat dem Geist von 68 sogar die Temperatur gemessen und kommt zu dem Ergebnis, dass die Akteure des be wegten Aufbruchs bei weitem „cooler" waren, als gewöhnlich angenommen wird, und dass sie keinem auch nur annä hernd so naiven Kult der Unmittelbar keit und des warmherzig Authentischen frönten, wie es die Legenden wollen: „Die Szene von 68, die immerhin Stadt-Guerilla und Spaß-Guerilla hervorbrach te, hat das, was aktuell gegen sie in Stel lung gerückt wird, immer schon selbst im Repertoire gehabt: Distanz, Rollenbewusstsein, theatralische List, Kälte, Konzepte der Mittelbarkeit für ein gegenwär tiges Leben. Vom Pop lernte 68, was Coolness ist.“ Und von alten Grabenkriegern wie Ernst Jünger lernten die neuen Stra ßenkämpfer die Chuzpe oder „Désinvolture“: jene göttergleiche Ungeniertheit und dreiste Ungezwungenheit, die sich stets unschuldig weiß, gleich ob sie ihre Ohnmacht bekennt oder mit der Macht im Bunde ist. Joschka Fischer lässt grü ßen.
Django und Aristophanes
Lincks materialreiche Überlegungen („Désinvolture und Coolness. Über Ernst Jünger, Hipsters und Hans Imhoff, den Frosch“) sind nachzulesen in einem Schwerpunktheft zum Thema Authenti zität („Wirklich wahr“) der ebenso schrä gen und witzigen wie gehaltvollen Zeit schrift Kultur & Gespenster (Nr. 3, Win ter 2007, Textem Verlag, Hamburg, 416 Seiten, 12 Euro). Archäologie verbindet sich da aufs Erquicklichste mit Paläographie und Epigraphik, wenn der Autor ent legene Quellen entziffert, als wären sie verwitterte Inschriften auf antiken Sar kophagen. So kann er präzise nachwei sen, dass die „linke“ Rezeption von Ernst Jünger (für die Wiedererweckung der Lehren von Carl Schmitt dürfte Ähnli ches gelten) nicht erst beim nahen Ende der Bewegung einsetzte, sondern schon im Jahr 1968: Mit dabei waren Horst Bingel, Peter Gorsen, Lothar Baier, Gerhard Zwerenz und Wolfgang Weyrauch.
Und sogar der missing Link zwischen dem Jünger der Zwischenkriegszeit und den Beatnicks der Nachkriegszeit als den unmittelbaren Vorläufern von Pop, Rock und Protest ließ sich ausfindig machen, in Gestalt des in die USA emigrierten Na-tionalbolschewisten und künftigen Beat-Anthologen Karl Otto.Paetel. Linck erin nert auch an den Kulthelden Django („Wer Django kennt, weiß dass Diskus sionen manchmal nicht weiterhelfen“) als Vorbild für den einst gefürchteten Frankfurter Aktionskünstler Hans Im hoff, den die FAZ vor Jahren zum „deut schen Aristophanes“ kürte.
Wer schon bei der Lektüre eines der wichtigsten Bücher zur Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts – Helmut Lethens „Verhaltenslehren der Kälte“ (1994) – auf den Gedanken kam, zwischen der 68er-Generation des Verfassers und der im Buch erörterten Generation der Zwi schenkriegszeit könnte eine geheime Ver abredung bestanden haben, bietet Lincks Aufsatz manchen Stoff zum Wei terdenken.
VOLKER BREIDECKER
Süddeutsche Zeitung 4.4.7 Seite 14
Eingeflochtene Zöpfe
Auch der dritten Ausgabe von „Kultur & Gespenster“ wünscht man wieder viele Leser. Das Konzept der Herausgeber, Comics, ernste Themen, vergessene Kleinode, visuelle Beiträge von Künstlern, große Literatur, Schubladen-Manuskripte und schicke Optik zu verquirlen und neu zu ordnen, hat schon eine Menge Anhänger. Diesmal geht es um das Thema „Authentizität“ und als lustiges Spiel mit dem Genre und wegen der vielen Texte ist ein zweiter Teil angekündigt. Erst mal sollte man sich jedoch in „China White – die Prosa Robert Binghams“ festlesen, oder in Gabi Schaffners finnischem Tagebuch, die auch die Titel-Fotografie geliefert hat. Zwei Frauen, die zur Plauderei über Frisuren der Kindheit anregen, aber wirklich.
JM, Szene Hamburg April 2007
Mit Hegel beim Dönermann
Postidealistische Praxis: Die neue Zeitschrift "Kultur und Gespenster" ist eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte. Ein Besuch bei den jungen Herausgebern.
Es könnte eine Geschichte sein, die von Mut, Risikobereitschaft und Engagement erzählt. Es könnte von durchgearbeiteten Nächten und prekären Lebenssituationen die Rede sein, von Leuten, die sich am Rande von Institutionen und Unternehmen aufhalten und ihre ganze Energie auf ein unbezahltes Projekt verwenden. Das Ärgerliche ist jedoch, dass sich die Protagonisten der Geschichte solchen Deutungsmustern verweigern.
Die spielerische Leichtigkeit, mit der Gustav Mechlenburg, Nora Sdun und Jan-Frederik Bandel über den Entstehungsprozess ihrer Zeitschrift "Kultur und Gespenster" sprechen, die sie seit gut einem halben Jahr mit großer Resonanz in der kulturwissenschaftlichen Szene herausgeben, scheint dem intellektuellen Ehrgeiz zu widersprechen, die etwa der jüngst erschienene dritte Band der Zeitschrift erkennbar werden lässt. In der Zweizimmerwohnung von Nora Sdun im Hamburger Schanzenviertel liegt das gut vierhundertseitige Konvolut auf dem Wohnzimmertisch, graphisch avanciert gestaltet und inhaltlich voraussetzungsreich. "Wir machen das aus Idealismus und Leidenschaft", sagt Mechlenburg. Er meint das ironisch.
Lassen wir diese Geschichte auf einer sachlicheren Ebene mit einer Liste von knapp 150 Namen beginnen, die Jan-Frederik Bandel vor einem Jahr auf der Leipziger Buchmesse an Gustav Mechlenburg reichte: In Zusammenarbeit mit diesen Autoren, alles mehr oder weniger Bekannte von ihm, wollte er eine Zeitschrift herausbringen. Ihr Titel: "Kultur" - im Sinne von Pflege - und "Gespenster" - nach dem althochdeutschen Gispanst (Lockung). "Katalog und Laufmappe gegenwärtiger ästhetischer Praxis", so definiert sich die Zeitschrift inzwischen selbst. Mechlenburg, der seit einigen Jahren das Internetfeuilleton "textem" betreibt, zeigte sich irritiert von dem Umfang des Projekts, doch auch gelockt von dem sehr weit ausgearbeiteten Konzept, das Bandel ihm vorlegte.
Er gründete einen Verlag, was ihn achtzehn Euro und einen Besuch bei der Handelskammer kostete. Die technischen Voraussetzungen waren geschaffen, das finanzielle Risiko blieb überschaubar: Alle Autoren, auch der Graphiker und der Anzeigenakquisiteur, arbeiten umsonst. Das Geld, das über den Verkauf eingenommen wird, deckt gerade die Ausgaben für den Druck der zweitausend Exemplare. Ein Mangel, der für Nora Sdun auch einen Luxus begründet: "Wir haben keinen vorauseilenden Gehorsam einem bekannten Lesepublikum gegenüber. Wir müssen uns keinen Leser vorstellen, der während der Lektüre sein Wurstbrot streichen möchte."
Die zugleich als Büro dienende Wohnung in einer Hamburger Sozialbausiedlung lässt schon erkennen, dass "Kultur und Gespenster" nicht aus dem etablierten Kulturbetrieb kommt. Jan-Frederik Bandel und Nora Sdun arbeiten nebenbei als Ghostwriter und freie Autoren, Gustav Mechlenburg als Korrektor. Von den üblichen Requisiten eines Redaktionsbüros ist außer einem Schreibtisch und einem Computer jedoch nichts zu sehen. Der Kontakt zwischen den drei Initiatoren läuft über Mail und Telefon. Bandel und Sdun bauen in täglichen Assoziationsstunden das Gerüst der Zeitschrift auf. Der Inhalt ergibt sich zwanglos aus privaten Bildungsgeschichten, gemeinsamen Interessen und einer lockeren Vernetztheit der Autoren. Ein Autor empfiehlt einen anderen. Auf diese Weise wächst der Stoff. Der zweite Band hatte schon den doppelten Umfang des ersten, der dritte Band musste angesichts von 800 Seiten Stoff in zwei Ausgaben unterteilt werden. Soll man von einer Erfolgsgeschichte sprechen?
"Das ist schon merkwürdig, wie sich das Magazin herumspricht", sagt Nora Sdun. Glaubt man Gustav Mechlenburg, dann hat es damit zu tun, dass kurz nach der Fußball-Weltmeisterschaft, als der erste Band erschien, eine gewisse Müdigkeit an reflexionsfreier Euphorie entstanden war und ein umgekehrt gewachsenes Interesse an theoretisch-literarischer Beschäftigung. Zweitens damit, dass er gern herumläuft, in Berlin, wo er seit kurzem ein Zweitzimmer unterhält und zahlreiche Medienkontakte pflegt. Release-Partys mit der imagefördernden Präsenz von Rainald Goetz und Diedrich Diedrichsen in Hamburg, Berlin und München taten ein Übriges, um die mediale Aufmerksamkeit zu wecken, die den ersten beiden Bänden zuteil wurde. Es werde sich jetzt mit den Bänden drei und vier zeigen, ob man ein dauerhaftes Publikum erobern kann.
Der Eindruck des Extravaganten, den das Magazin vermittelt, ergibt sich zuerst durch die Rubriken, die mit eindrucksvollen Titeln wie "Der sich entfremdete Geist die Bildung", "Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels" oder "Das Gewissen, die schöne Seele und seine Verzeihung" überschrieben sind. Der Comicteil läuft unter "Das Gewissen, die schöne Seele und seine Verzeihung", die bildende Kunst unter "Die sinnliche Gewissheit".
Es handelt sich dabei jedoch nicht um Erfindungen der Autoren, sondern um Bruchstücke idealistischer Philosophie. "Wir saßen hier im Schanzenviertel, aßen Döner und hatten Hegels ,Phänomenologie des Geistes' dabei. Da steht das alles drin", sagt Mechlenburg. "Das ist sehr spielerisch, aber das passt manchmal super." Manchmal passt es gut, manchmal aber auch nicht. Denn zum einen ist in vielen Beiträgen ein Unterton vernehmbar, der eine reservierte Haltung gegenüber der stofffernen Reflexion der "alten Philosophie" verrät (worunter eben auch Hegel fiele) und sich eher an den Ansätzen der cultural studies orientiert. Zum anderen verfährt die Zeitschrift nach den Interessen ihrer Autoren, die sie keinem einheitlichen Ansatz unterordnen. So finden sich mitunter in einer Ausgabe sehr unterschiedliche, ja konträre Haltungen zum selben Thema.
Einem Text im ersten Band, der das Alexander-von-Humboldt-Bild in Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" mit einem postkolonialistischen Ansatz kritisiert, folgte etwa eine Reportage über künstlerische Feldforschung in Tansania, die alle kolonialistischen Vorurteile wiederaufleben lässt. Tonlagen und Ausrichtung der Texte sind sehr unterschiedlich. Die Beiträge stammen zumeist von jungen Wissenschaftlern, freien Autoren oder Journalisten, die sich von Pflichtformen befreien wollen und in der Regel einen Essayismus bedienen, der wissenschaftliche Analyse integriert, aber der Form nach über sie hinausgeht.
Die Distanz zu der Trägheit und den Diskursritualen der Wissenschaft verdeutlicht nicht zuletzt ein beigefügter Aufkleber des Comiczeichners Sasha Hommer zum Jahr der Geisteswissenschaften, auf dem drei weiße Kriechtiere schläfrig zwischen grauen Hochhäusern vor sich hin dämmern: Die Zeitschrift gibt sich zwar nicht aktivistisch, will aber engagiert sein. Bei aller Vielstimmigkeit verfügt das Magazin über eine erstaunliche Geschlossenheit.
"Wir hatten schon die Idee, dass es eine Erzähllinie gibt in dem Programm", sagt Bandel, dass also der jeweilige Band ein Thema fortstrickt, das im vorausgegangenen schon angelegt war. Sucht man einen gemeinsamen Ausgangspunkt der Stimmenvielfalt, könnte man ihn also am ehesten in dem Schriftsteller und Ethnographen Hubert Fichte finden, dem sich das Dossier des ersten Bandes widmete und der auch das Prinzip der teilnehmenden Beobachtung prägte, das sich in den meisten Beiträgen erkennen lässt. Der nächste Schwerpunkt wird Georges-Arthur Goldschmidts autobiographischem Schreiben gelten. Es geht auch darum, im akademischen Betrieb unterrepräsentierten Autoren ein Podium zu verschaffen und Formen aufzunehmen, die in traditionellen Literaturzeitschriften fehlen. Neben der Kunststrecke ist dies vor allem die Comic-Rubrik, Ausdruck der lebhaften Hamburger Szene und der fruchtbaren Schule Anke Feuchtenbergers.
Bei aller Skepsis gegenüber ordnenden Begriffen können sich die drei Herausgeber am Ende doch auf ein Prinzip einigen, das ihrer Arbeit zugrunde liegt: Es sei das Moment der Verschwendung, das sich die Autoren gezielt leisten, dass man sich Zeit nimmt, die man im Grunde genommen nicht zur Verfügung hätte, sagt Nora Sdun. Sie selbst verwende eigentlich ihre ganze Zeit für das Magazin. Was jedoch nicht weiter schlimm sei, weil sie es als eine fortgesetzte Bildungsmaßnahme betrachte. Außerdem mache es ihr "einen ganz blödsinnigen Spaß". Sie meint es durchaus unironisch.
THOMAS THIEL
F.A.Z., 14.03.2007, Nr. 62 / Seite 40
Ist das wahr?
Schon das dritte Heft von "Kultur & Gespenster" ist fertig
Sie sind jung, sie sind fleißig, sie sind (hoffentlich nicht allzu) arm, und sie sind verdammt neugierig. Sie sind traditionsbewusst und innovativ, sie sind zwar noch nicht so richtig superprofessionell, aber das macht wiederum gerade den Reiz aus. Über all ihrem Tun und Forschen und Grübeln liegt Werkstattcharakter. Die Anti-Glamour-Offensive aus Hamburg, die sich unter dem Titel Kultur & Gespenster versteckt, hat jetzt schon innerhalb eines dreiviertel Jahres das dritte dicke Heft herausgebracht; dick sind die Hefte immer (der Fleiß!), und sogar recht günstig (sie arbeiten ja nicht für Geld), und wir wollen hoffen, dass nicht allzu schnell die Krallen der Festanstellung diesem zauberhaften biographischen Zwischenstadium ein Ende bereiten. 12 Euro kostet ein Exemplar, für über 400 Seiten; das reicht zum Schmökern eine Weile, zumal es auch viel zum Schauen gibt. Die Szene, die sich hier formiert, hat Augen im Kopf.
Und da Hamburg über die lebhafteste Comic-Szene in ganz Deutschland verfügt, kommt der eher kultur-, geistes- und literaturwissenschaftlich gepolte Leser dieser Hefte in den Genuss, eine Zeichensprache gleich mit kennenzulernen, die ihm sonst vielleicht verschlossen bliebe. Es ist, nebenbei bemerkt, ohnehin auffällig, dass das zunehmend ins Netz drängende Leben, dass der durch elektronische Bilder und Bilderzeugungen durchwirkte Alltag sich "ruhige" Gegenflächen schafft: Die altmodisch, manchmal geradezu naiv anmutende Zeichnung von Hand ist nämlich längst wieder zurückgekehrt in die tonangebenden Medien.
In Hamburg lehrt die Zeichnerin Anke Feuchtenberger, und sie muss eine sagenhaft gute Lehrerin sein - mal ganz abgesehen davon, dass sie eine ganz eigene Bildsprache etablieren konnte nach der Wende. Aus dem Osten an die Elbe gekommen, tut die 1963 geborene Berlinerin gesamtdeutsche Wunder der Inspiration. Auch in diesem dritten Kultur & Gespenster-Heft, das unter dem Obertitel "Wirklich wahr" steht - womit die Klaviatur des Authentischen gemeint ist -, tummeln sich ihre Schüler und unterhalten sich über den "Fetischismus des Kaffeetrinkens".
Nun dürfte der Fetischismus so ziemlich das Gegenteil des Authentischen meinen - woraus man ruhig schließen darf, dass die Konzeption der einzelnen Hefte niemals zu bornierten Antworten führt. Ganz im Gegenteil, borniert will hier niemand sein. Das Redaktionsteam, bestehend aus Gustav Mechlenburg, Jan-Frederik Bandel und Nora Sdun, straft alle Ideologieverdächtigungen Lügen. Wir befinden uns definitiv jenseits der Ideologien, oder genauer: nach den Ideologien; so etwas wie Utopie erscheint dann fast als Folklore - aber der Folklore wird wiederum Platz eingeräumt.
Denn Kultur & Gespenster ist offenkundig auch ein generationenübergreifendes Projekt: Man schaut in die Vergangenheit, bindet sie ein, mitunter fragend, mitunter bewundernd, oder beides zugleich. So wurde das erste dicke K&G-Heft dem Schriftsteller Hubert Fichte gewidmet, über den Jan-Frederik Bandel einfach alles weiß. Doch der Besessene nimmt nicht alles hin, und so bedachte Bandel den letztes Jahr postum erschienenen Band Die zweite Schuld (bei S. Fischer) - Abschluss des Zyklus' Die Geschichte der Empfindlichkeit - mit einer gnadenlos kritischen Langbesprechung.
K&G knüpft ein bisschen an das legendäre Schreibheft von Norbert Wehr an, das ähnlich ausufernd-obsessiv sich dem je ausgerufenen Sujet respektive Autor verschreibt. Und so ist es mehr als eine schöne Geste, wenn Marc Degens in seiner regelmäßigen Kolumne "Blätterwald" (wo in Heft 2 dankenswerterweise auf die Netz-Zeitschrift La mer gelée hingewiesen wurde) eine tiefe Verbeugung vor dem Schreibheft macht als der "ersten Adresse" unter den deutschsprachigen Literaturzeitschriften. Höflich, diese jungen Menschen!
Hart erarbeitet
Und wie sieht es nun mit dem Thema "Wirklich wahr" aus, dem ein Fortsetzungsheft demnächst nachfolgen soll? Klar, das Authentische ist eine begriffliche Krücke wie der Fetisch auch, und doch gibt es das natürlich: die Idee und Empfindung des "Echten" einschließlich der ästhetischen, sozialen, politischen Folgen. Das Verhältnis zur Arbeit an den Polen Fetischismus und Authentizität zu überprüfen, ist nicht dumm. Aber was überhaupt ist Arbeit? Einen gesellschaftskritischen Hauch meint man bei all der fußnotensatten Strenge des Heftes schon zu spüren, wenn etwa Enno Stahl über die nicht-arbeitenden Bohème-Geschöpfe einer Judith Hermann stöhnt und halbwegs zustimmend Sven Regener zitiert, der schrieb: "Es ist gut und nützlich, in einer Kneipe zu arbeiten." Mehr ist nicht übrig geblieben von der Arbeits- und Arbeiterästhetik?
Nö. Beziehungsweise: nur die Erinnerung daran. Abgründig und aus aktuellem Anlass aufschlussreich ist das Gespräch mit zwei Altlinken, den Gründern des Nautilus-Verlags (ansässig in Hamburg) Hanna Mittelstädt und Lutz Schulenburg; anarchische Hippies und Ex-Revoluzzer, die für Günter Grass ("Staatsschriftsteller"), Jan Philipp Reemtsma ("das Geld ist ja nun von Millionen Rauchern hart erarbeitet und dank der Protektion der Nazis vermehrt worden") und Wolfgang Kraushaar ("Hilfspolizeiforschung") nur Hohn und Spott übrig haben.
Hanna: "Die RAF ist eine dankbare Projektionsfläche geworden."
Lutz: "Was ist denn Marlon Brando in Außer Atem anderes als Andreas Baader?"
Hanna: "Belmondo!"
Lutz: "Okay, okay, Belmondo! Oder Bonny and Clyde, Viva Maria. Kraushaar kann doch zum Frisör gehen, aber nicht mehr ins Kino. Überall sieht er nur Baader! Die unverstandenen Helden sind überall."
Und - ist das wahr?
INA HARTWIG, Frankfurter Rundschau, 07.03.2007
Eine Zeitschrift zum Verlocken & Pflegen
Kulturzeitschriften finden sich in der Mehrzahl in einem randständigen Markt. Wenn sie überwiegend vom Engagement der Macher getragen sind und nicht von starken Verlagen oder satten Werbeaufträgen, kommt es umso mehr auf dieses Engagement an.
Im August 2006 erschien die erste Ausgabe der Vierteljahreszeitschrift Kultur & Gespenster. Herausgeber sind Jan-Frederik Bandel, Nora Sdun und Gustav Mechlenburg. Auf die Frage, wie man diese Publikation nennen kann, antwortet das Team: "Schubladen klemmen immer. Natürlich ist es keine Literaturzeitschrift, denn wir drucken ja keine Erzählprosa oder Lyrik. Wir sind eine Kultur- und Gespensterzeitschrift. Und wer sie lesen möchte, dem werden wir keine Hausordnung mit auf den Weg geben." Im ersten Heft hieß es dazu, Pflegen & Verlocken sei die Programmsetzung der Kulturzeitschrift, wobei das Verlocken vom altdeutschen gispanst /Gespenst kommt, demnach sei " Kultur & Gespenster ein ernst zu nehmender Ratgeber für alle kulturellen Verlockungen, von denen man noch nicht weiß, wohin sie einen führen". Er erscheint im Textem-Verlag von Gustav Mechlenburg, der bisher eine Reihe kleinerer Literaturpublikationen in Heftchenformat, einen verwegenen Experimentalroman von Carsten Klook (Korrektor, 2005) und die Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde von Klabund herausbrachte. Zarte Anfänge noch, aber die Internetseite des Verlags ist ein dynamisches interaktives Forum, und die Zeitschrift Kultur & Gespenster (Auflage 2000) kann man wohl als das Flaggschiff der Szene betrachten.
"Wir machen ein Angebot"
Der in seinem vielfältigen Schaffen noch unterbelichtete Hubert Fichte scheint eine zentrale Bezugsfigur dieser Szene zu sein, das Heft 1 war ihm in den Hauptbeiträgen gewidmet, Jan-Frederik Bandel verantwortet auch selbständige Publikationen zu Hubert Fichte. In der zweiten, schon wesentlich umfangreicheren Dezember-Ausgabe (400 Seiten, Thema: Unter vier Augen) mit Schwerpunkt Interview/Gespräch bezieht auch Kathrin Röggla ihre Medienautorschaft auf Fichte. Insgesamt hat das Thema Gespräch und Interview eine umfangreiche und breite Themenpalette ergeben, auch die Auswahl der Autoren aus Literatur, Wissenschaft, Kritik, Kunstpublizistik und Bildkunst lässt auf ein in Zukunft größeres Spektrum hoffen. Die Herausgeber haben einen "offenen, aber emphatischen" Begriff von Kultur und wollen sich dem Fetisch der Aktualität nicht unterwerfen: "Aktuell ist alles, was uns, unsere Autoren fasziniert, beschäftigt, in Rage versetzt. Aber mit irgendwelchem spezialistischen Insidergemunkel haben wir genauso wenig am Hut wie mit didaktischem Absichtsgehabe. Wir wollen nicht vermitteln, wir machen ein Angebot. Es liegt alles vor. Es gibt mehr Texte und Bilder als Kartoffeln." Aus dem Vorliegenden lässt sich in der Tat vieles auf intelligente Weise verbinden, unter anderem wird ein Interview mit Thomas Bernhard ausgegraben, erstmals in deutscher Sprache publiziert, ein Essay von Robert Neumann aus dem Jahr 1966 über die Gruppe 47 (Spezis in Berlin) führt geballte Polemik vor Augen und ein Essay zur aktuellen Kunst von Pierangelo Maset warnt vor dem Gespenst des Mainstreams und dem "Verlust des Randes".
Wir sind die Dicksten
Über publizistische Vorbilder ist man sich nicht ganz einig: "Unser Anzeigenakquisiteur sagt: der "Teutsche Merkur". Andere behaupten: amerikanische Quarterlies, die "Beute", "John Sinclair" und "Texte zur Kunst". Aber das ist alles Quatsch. Kultur & Gespenster ist am dicksten." Es ist wirklich dick und erinnert im Format auch ans Kunstforum International, bringt eine sorgfältige Auswahl von gut reproduziertem Bildmaterial (Kunst, Fotografie, Comic) und insgesamt ein originelles, nicht überstrapaziertes Layout. Nur die Schrift ist leider viel zu klein. Man spricht im Verlagsjargon von Augenpulver, das auch große Verlage leider oft genug in ihrer Buchware vor allem für das jüngere, zahlungsschwache Publikum verwenden. Auch Beipackzettel auf Pharmazieerzeugnissen oder das Kleingedruckte in der Lebensversicherung sind Augenpulver, aber eins kann man den Machern von Kultur & Gespenster nicht vorwerfen - dass sie publizistisches Augenpulver verstreuen. Die Beiträge sind seriös und (meist) journalistisch oder essayistisch (also lesbar) geschrieben, die redaktionelle Mischung ist anregend und die allgemeine Tendenz lässt auf Dauer frisches Gedankengut erwarten. Die selbstsicher geäußerte Motivation der Macher jedenfalls verspricht Durchhaltevermögen: "Das Bedürfnis, dazwischenzuquaken, verwandelt in Machbarkeitsfantasien und Gestaltungswut".
Martin Zähringer,
Copyright: Goethe-Institut, Online-Redaktion, Februar 2007
Die Kunst, nichts zu sagen
"Leute, die ein Gespräch führen wollen, sind mir sowieso schon verdächtig." So lautet der Titel eines aus dem Französischen ins Deutsche zurückübersetzten Interviews, das Werner Wögerbauer am 15. Juli 1986 im Wiener Café Bräunerhof mit Thomas Bernhard für seinen Materialband "Cahiers l'Envers du miroir Nr. 1: Thomas Bernhard" (1987) zwei Jahre vor dem Tod des Autors führte. Abgedruckt ist es nun in der zweiten Ausgabe der mit bisher beachtlichem Presseecho begleiteten Zeitschrift "Kultur & Gespenster", die sich schwerpunktmäßig dem Thema "Unter vier Augen" widmet, genauer: "Worttaschen, Medienspezialisten und die Produktion von Bedeutung. Das Interview als Form".
Die "Zeitschrift" kommt daher als umfangreiches, dickes Buch von 400 Seiten, in dem vor allem Mitherausgeber Jan-Frederik Bandel ein Forum gefunden zu haben scheint. Taucht er doch im Inhaltsverzeichnis gleich fünfmal auf, unter anderem mit seinem 2006 auf der Darmstädter Tagung der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser (GASL) gehaltenen vergleichenden Vortrag über Schmidt und Alfred Andersch. Absolute Highlights der Ausgabe sind jedoch Jörg Schröders und Barbara Kalenders urkomischer Beitrag "Auf der Suche nach Jan Philipp Reemtsma", in dem sich der Verleger und seine Begleiterin an eine skurrile Reise zu einem Hamburger Arno-Schmidt-Vortrag erinnern, und das erwähnte Bernhard-Interview.
Während sich Bandel und die Schriftstellerin Kathrin Röggla in weiteren Artikeln des Hefts weitschweifigen Gedanken über die tieferen Probleme des Interviewgesprächs hingeben, erfrischt Bernhard als österreichischer Klassiker der Totalverneinung durch seinen spitzbübischen Umgang mit der Gesprächssituation: "Na ja, jetzt müssen'S was fragen, und dann kriegen'S a Antwort." Im Folgenden geht es dann, wie so oft bei Bernhard, um lustvolle Rundumschlag-Beschimpfungen, größtenteils jedoch um seine brüske Zurückweisung öffentlicher Zuschreibungen, mit denen Wögerbauer den Schriftsteller konfrontiert.
Ganz wunderbar liest sich dazu auch der einführende Beitrag des jungen Autors Alexander Schimmelbusch, der dem Interview vorangestellt ist: "'Ich sage nichts'. Thomas Bernhard und die Kunst, sich nicht verharmlosen zu lassen." Schimmelbusch, dessen Debütroman "Im Sinkflug" wohl nicht ganz zufällig auf den ersten, mit Anzeigen gepflasterten Seiten der Zeitschrift beworben wird, fiel noch im Frühjahr 2006 beim Frankfurter Thomas-Bernhard-Symposium eher dadurch auf, dass er Alexandra Hennig von Lange, mit der er im Neuen Literaturhaus gemeinsam an einem Podiumsgespräch über Bernhard teilnahm, formvollendet aus dem Mantel half. Ähnlich wie seine für ihre intellektuelle Anspruchslosigkeit berüchtigte Kollegin, die an diesem Abend wie erwartet nicht viel mehr als belangloses Gestammel über Lippenstift an Vodkagläsern beziehungsweise einen netten, Bernhard lesenden Jungen beizusteuern vermochte, der sie im Bett damit beeindruckt habe, dass er ihr aus dem Roman "Auslöschung" vorlas, wusste auch Schimmelbusch - anders als Josef Winkler und Thomas Meinecke - nicht besonders viel zum Thema zu erzählen.
Im vorliegenden Beitrag präsentiert er sich jedoch als Kenner aller Interviews Bernhards und arbeitet in seinem Beitrag die dort auftretenden Widersprüche pointiert heraus. Ergebnis: "Die Überzeugung von der Gleichwertigkeit aller Dinge, von der Unmöglichkeit eines objektiven Urteils und der resultierende Drang zur Relativierung, zur Widersprüchlichkeit, lassen vermuten, dass Bernhard Gespräche, die man mit Journalisten führt, nicht als Form der Kommunikation, sondern als Form der Kunst verstanden hat", und zwar einer "Verweigerungskunst". Das darf man so stehen lassen. Und die Ausgabe der Zeitschrift gehört allein schon wegen des enthaltenen Original-Interviews in die Bernhard-Sammlung eines jeden begeisterten Lesers.
JAN SÜSELBECK Rezensionsforum Literaturkritik.de, Februar 2007
Dandy und Désinvolture
Zur dritten Ausgabe von Kultur & Gespenster
Die der Coolness inhärente Selbstironie verrät sie als eine Technik, die typischerweise der Dandy erprobt. Und ein Vertreter dieser Spezies, der 1998 gestorbene Literat Ernst Jünger nämlich, ist der Schöpfer jenes Begriffs, der gewissermaßen die Vorform der Coolness benennt: die Désinvolture.
Désinvolture ist die in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Lebensideal habilitierte Contenance, deren oberstes Motto - wie das der Coolness - fordert, nichts und niemandem zu viel Aufmerksamkeit zu schenken. Bei der Désinvolture kommt aber noch etwas hinzu: Die Unschuld der Macht. So formulierte es der Erfinder des Begriffs, Ernst Jünger, selbst.
Was dem Dandy nicht passt: die Mühen der Ebene, die Niederungen der Politik, der Schweiß der Ehrgeizigen kurz: das Engagement. Unter der Würde, sich für das Augenfällige auch noch zu engagieren! Anders gesagt: Nichts ist dem Dandy so verhasst wie die Paradiese, die die Didaktik verheißt. Vielleicht ist darum, so denke ich mir, Jünger am Ende seines Lebens zum Katholizismus konvertiert. Bloß nicht verstanden werden wollen!
Mit Jüngers Dandytum ist der Übergang vom ZIG zu Kultur & Gespenster geschafft, der zweiten wichtigen Neugründung auf dem deutschen Intellektuellen-Zeitschriftenmarkt in den vergangenen 8 Monaten. Dieses Magazin kommt vierteljährlich aus dem Hamburger Textem-Verlag, der bislang nur durch seine Aktivitäten im Internet bekannt war. Wie das ZIG bevorzugt Kultur & Gespenster das Themenheft. Zwei Themenhefte von Kultur & Gespenster sind bereits publiziert.
Und jetzt das dritte Heft. Eine Doppelnummer, deren zweite im April erscheinen soll. Thema: Der Dokumentarismus in Literatur und Film. Wirklich wahr nennt die Redaktion das Heft und karikiert damit jenes kleine Wörtchen namens echt, das wir alle gern ans Ende unserer Sätze hängen. Echt?
Was mir an Kultur & Gespenster sehr gefällt: dass der Jargon, den es pflegt, zwischen Seminarismus und dessen beinahe dandyesker Parodie schillert, zwischen Überbietungsgestus und Unterhaltungswillen.
Wirklich wahr - also die dritte Ausgabe des Magazins - beinhaltet einen Aufsatz mit dem Titel „Désinvolture und Coolness. Über Ernst Jünger, Hipsters und Hans Imhoff, den Frosch“. Autor: Dirck Linck, Literaturwissenschaftler in Hannover.
Wer ist Hans Imhoff? Ich schlage das Heft auf und lese: „Imhoff, entflammter Leninist, Nationalist, selbsternannter Volkskommissar von Frankfurt, Goethe-Fan und Begründer der A-Sozialistik, geht aus dem denkbar beatfernen Milieu der Kritischen Theorie hervor. Seit inzwischen vier Jahrzehnten arbeitet er an einem umfangreichen literarischen Werk, das er von Anfang an unzugänglich hält, indem er es nicht in den Buchhandel gibt. Ende der 60er Jahre, Imhoff ist Promovend bei Adorno, bestimmen nicht die ersten dieser eher geheimen Bücher seinen Credit in der Szene, sondern eine Reihe von sehr öffentlichen Aktionen. Sie richten sich stets gegen die Mandarine der Linken: Habermas, Alfred Schmidt, Mitscherlich, den Doktorvater Adorno. Plötzlich taucht der Frosch in ihren Veranstaltungen (oder bei Handke-Lesungen und Suhrkamp-Verlags-Empfängen) auf und sprengt die Events, indem er den repräsentativen Körper des Intellektuellen attackiert.“ Zitatende.
Imhoff, seiner Unberechenbarkeit wegen als Frankfurter Frosch apostrophiert, steht prototypisch für die Unschuld der Machtlosen. An Imhoff zeigt der Kultur & Gespenster-Autor die Evolution des Dandys von Jünger zu seinem getreuen Gegenteil: der 68er Spaßgerilja. 68 gelang es, die Unschuld der Macht in die Unschuld der Machtlosen zu verwandeln, in antiautoritäres Gebaren.
Den Gesetzen dieser Emanzipationsbewegung gehorchend, schlägt unter dem Zugriff der Studentenbewegung Jüngers Désinvolture um in Coolness. Diese, so Dirck Linck, erweist sich als nichts anderes, denn die programmatische Weigerung, verstanden zu werden, sich lesen zu lassen. Coolness entzieht sich dem Lektüreprozess und der damit verbundenen Wut des Verstehens.
Hot oder cool, beide Begriffe stammen, darauf weist uns der Verfasser hin, aus dem Jargon des Bebop der 40er und 50er Jahre - was in Deutschland erst in den 60ern rezipiert wurde. Coolness besagte für die Beat-Generation und alle, die auf diese noch folgten: die wohlige Temperatur des bürgerlichen Wohnzimmers herunterzudrehen. Kalt werden, und dann den Blick, bevor er zu viel Wärme abstrahlt, mit der Sonnenbrille maskieren. Wie Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg in Außer Atem.
Wenn - so resümieren wir mit dem Autor - Frechheit siegt, ist die Désinvolture egalisiert wie Vornehmheit durch Coolness. Hans Imhoff, Provo und Aktions-Künstler, Rabulist und Dichter, ist cool. Auf die Frage der Studenten, was das Stören der Vorlesungen denn solle, antwortete er von Kopf bis Fuß Dandy: Man muss mich nicht verstehen.
Kultur & Gespenster ist avanciert und lässt vom Erscheinungsbild her erkennen, dass es zur Avantgarde gehörte, wäre eine solche noch denkbar. Das Magazin verfolgt die Strategie teilnehmender Beobachtung, ist also deutlich weniger aktivistisch als polar.
Thomas Palzer, Bayern 2, Kiosk, 30.1.2007
Alles paletti!
Pyramidale Holzstapelkunst eröffnet eine neue Ausstellungsreihe im Kunstverein Harburger Bahnhof.
Er ist schon lange in der Hamburger Off-Kunstszene aktiv und hat sich als Mitinitiator des Ausstellungsraums für junge Kunst Hinterconti im Karolinenviertel ebenso eingebracht wie als Ko-Kurator der Galerie in der Hamburger Hochschule für Bildende Künste: Der Künstler Tim Voss startet jetzt als neuer Künstlerischer Leiter des Kunstvereins Harburger Bahnhof ein Programm mit dem Titel: "Reihe: Ordnung". Im Team mit Susanne Schröder und Veit Rogge hat Voss einen zweijährigen Ausstellungsparcours konzipiert, der sich auf die sieben großen Themen: Arbeit, Liebe, Geld, Macht, Sex, Freiheit und Zukunft einlässt. Da jeder etwas von diesen Dingen versteht, hoffen die neuen Kunstvereins-Macher auf anregende Kommunikationsprozesse. Gleichzeitig soll die Reihe die Institution im ehemaligen Wartesaal 1. Klasse im Harburger Bahnhof als Ort künstlerischer Auseinandersetzung verstärkt greifbar machen.
Zum Auftakt geht es zunächst um das sehr akute Thema Arbeit. Die Künstler Michael Böhler, Franz Höfner, Markus Lohmann und Harry Sachs tragen den Begriff der Arbeit in ihrem Monument zunächst einmal zu Grabe. Auferstehen kann er somit in neuen Formen der Tätigkeit, die sich im begehbaren "Innenleben" der Großskulptur auftun. Unter dem Stichwort "bedingungsloses Grundeinkommen" wird ferner ein aktuelles Kredo auf den Prüfstand gestellt. Als drittes Element der Schau erscheint
"Revue # 1" mit einem Bühnenmanuskript des Hamburger Künstlers Armin Chodzinski in Zusammenarbeit mit dem Textem-Verlag und dem Kunstverein Harburger Bahnhof. Zur Ausstellung wird ein Begleitprogramm mit Werksführungen und Vorträgen angeboten.
"Reihe: Ordnung" zum Thema "Arbeit", bis 1. April, Eröffnung: Sonnabend, 27. Januar um 20 Uhr; öffentliches Künstlergespräch, Sonntag, 28. Januar um 16 Uhr, geöffnet: Di- So 14 - 18 Uhr, Kunstverein Harburger Bahnhof, Hannoversche Straße 85
bgg, DIE WELT 26.01.2007
Intelligenz ist gut, Entspannung möglich
Um das literarische Interview geht es auch im Schwerpunkt der zweiten Ausgabe von Kultur & Gespenster, dem avancierten Kunst-Kultur-Theorie-Mix aus Hamburg. Adventsstimmung weckt dieser unhanseatisch barocke 400-Seiten-Wälzer, in den man sich nicht zuletzt wegen seiner ästhetischen Anmutung gerne versenkt. Die Autorin Kathrin Röggla spürt dem allmählichen Verfertigen der Gedanken beim Reden nach; in zwei anderen Beiträgen gerät sie dann selbst mit ihren Büchern "really ground zero" und "wir schlafen nicht" auf die Analysecouch. Altmeister Alexander Kluges Gesprächstechniken werden seziert und der große Verweigerer Thomas Bernhard bekommt seinen grandiosen postumen Auftritt in einem hier erstmals auf Deutsch veröffentlichten Interview aus dem Jahr 1986. Er haut dem Fragesteller seine Wahrheiten um die Ohren: "Das Leben besteht in einer Aneinanderreihung von Blödsinn." Als Künstler kennt er die Grenzen der Theorie: "Wenn man sein Handwerk beherrscht, braucht man ja keine Reflexion."
ALEXANDER CAMMANN, tageszeitung, 7.12.2006
Gegen das Gewese
Man kann nicht mehr wie Thomas Mann schreiben, muß nicht streben und soll nicht jedes Interview glauben: Die neue Ausgabe von Kultur & Gespenster
Viele Texte sind heutzutage so aktuell, daß man sie schnell wieder völlig vergessen hat. Simple Signalwörter vermitteln das trügerische Hochgefühl, man sei vorne mit dabei, hätte jetzt Exklusivinformationen zur Hand – was hängenbleibt, ist morgen Schnee von gestern. Ihr trauriges Gegenstück hat diese verderbliche Infotainment-Ware in Texten, die so angestrengt zeitlos daherkommen, daß man lieber erst gar nicht anfängt mit dem Lesen. Zwischen diesen Extremen kann Lektüre durchaus ertragreich sein. Sie ist es, wenn vorhandenes Wissen erst bestätigt, dann – Hoppla! – über den Haufen geworfen wird. Das passiert selten. Ob der Text vorher zigmal irgendwo erschienen ist, kann dem Leser deshalb schnurzpiepe sein.
Wer bis hier mitgehen kann, sollte die Vierteljahreszeitschrift Kultur & Gespenster prüfen. Die wird im Eigenverlag herausgegeben, kostet zwölf Euro. Nummer eins wurde am 31. Juli in dieser Zeitung besprochen. Seit einigen Wochen gibt es die zweite Ausgabe. Den flotten Einstieg besorgt eine Folge »Schröder erzählt«. Davon gibt es mittlerweile so um die 50. Man sollte das mitbekommen haben: Jörg Schröder, der wiederholt mit dem März-Verlag pleite ging, erzählt Barbara Kalender, der Frau seines Lebens, unverschlüsseltes Zeug von früher. Zusammen gehen die beiden noch mal rüber, verschicken das Ganze dann an Abonnenten. »Roß und Reiter werden genannt«, ist das Prinzip, und so beginnt Kultur & Gespenster mit einem erzählenden Schröder: »Die Affäre seiner Frau mit Rudolf Augstein trieb Christian Schultz-Gerstein endgültig ins ›Connection‹. Nun ist der Abstieg eines Mannes, der einmal in den besseren Etagen des Hamburger Journalismus gesessen hat, ziemlich aufhaltsam, der führt nicht geradewegs in die B-Ebene, sondern wird abgefedert und findet natürlich dennoch statt.« Daß dieses leidige »natürlich« dermaßen passen kann!
Was im Gegensatz dazu nicht als gelungene Literatur gelten darf, wird weiter hinten im Heft fein säuberlich unterschieden. »Die Blechtrommel« z.B.: »Die Geschichte des der Großmama erdgerüchlich unter die Röcke kriechenden kleinen Oskars ist ostpreußische Nachkneipen-Blubo, kraft-saftig, humorisiert von einem Tausendsassa« und Frundsberger, der »den zuverlässig Erfolglosen gegenüber ein guter Kamerad« ist, während er »Nicht-Bewunderern wie Böll oder Peter Weiss« die Auflagen neidet. In der Konkret vom Mai 1966 zeichnet Robert Neumann diesen Frontverlauf: rechts Grass und seine »Gruppe 47«-Blubos, links »die vielen ausgezeichneten Leute, die sich von ihnen abgewandt« haben, alphabetisch von Andersch zu Weiss – »warum jagen sie nicht mit Hilfe der Jungen jene verschlissenen Führerpersönlichkeiten von ihren Sitzen weg?«
Neumann zitiert einen Brief von Thomas Mann, der das Gewese der »Gruppe 47« sieben Jahre nach deren Gründung auf die »lächerliche Wirtschaftsblüte der amerikanischen Lieblingskolonie Westdeutschland« zurückführte, »diesem frechen und unmoralischen Wohlsein nach Schandtaten, (...) an die heute zu erinnern nichts weiter als bolschewistisch ist«. So klar hat sich der Bildungshuber Mann selten ausgedrückt, und das auch erst nach »Joseph der Ernährer«, seinem klarsten Buch, das dennoch schwurbelt, nicht zu knapp. Wofür er heute wie Grass auf dem Lehrplan steht, ist in Kultur & Gespenster so formuliert: »Der war völlig verkrampft und ein typischer deutscher Kleinbüger. Mit einer geldgierigen Frau.« Genau: »Das interessiert ja nur Kleinbürger, so ein Milieu, das der beschreibt, das ist ja ungeistig und dumm, irgendeinen fiedelnden Professor, der irgendwo hinfährt, oder eine Lübecker Familie, liab, aber nicht mehr ist es als Wilhelm Raabe auch.«
Thomas Bernhard speaking. Wiener Schmäh: »Er machte den Bernhard-Sound auf Bestellung, wenn ihm der Sinn danach stand«, heißt es in einer Nachbemerkung zu dem Interview, mit ihm geführt im Sommer 1986 im Café Bräunerhof. Bisher ist es nur in französischer Übersetzung erschienen. Es geht wie immer bei Bernhard um alles: »Das Leben besteht in einer Aneinanderreihung von Blödsinn, wenig Sinn, aber fast nur Blödsinn. Egal, wer das ist.« Am besten verbringt man es manisch-depressiv oder legt sich eine Borderline-Störung zu oder, wie das heute heißt bei den Irrenärzten: »Wenn Sie nur lieben, sind Sie verloren, wenn Sie nur hassen, sind Sie genauso verloren. Wenn Sie gern leben, wie ich, dann müssen Sie halt in einer ständigen Haßliebe zu allen Dingen leben.« Auch wichtig: »Die Welt hat ja einen Sog, der reißt Sie eh mit, da brauchen Sie nicht streben. Wenn Sie streben, werden Sie eben ein Streber. Sie wissen ja, was das ist.« Und am wichtigsten: »Leute, die ein Gespräch führen wollen, sind mir sowieso schon verdächtig.« Damit ist das Gespräch mit Bernhard überschrieben. Das steht auch auf dem Cover von Kultur & Gespenster.
Schwerpunktmäßig geht es in der Ausgabe um Interviews. Hubert Winkels, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk, erklärt das »unkrauthafte Wachstum« dieser Kulturtechnik damit, daß es eine »alles zukleisternde Form der individuellen Maskierungstechnik ist, die wir alle brauchen. Im Interview darf ich mir mein Leben so zurechtlügen, wie ich es immer gerne hätte, (...) kann ich mein Selbstbild in aller gleißenden Lügenhaftigkeit entfalten.« Einerseits stimmt das, weil: »Die Techniken, wie ich jemanden – in Anführungsstrichen – knacken kann, die sind natürlich mittlerweile durch jahrzehntelanges Üben und Redaktionskonferenzen so was von abgenutzt.« Andererseit hat Winkels das nicht so holprig aufgeschrieben, sondern im Interview gesagt, auch wenn das immer mehr ein Brei wird. »Man kann nicht mehr wie Thomas Mann schreiben«, meint Winkels. »Die Tendenz geht hin zur Mündlichkeit. Es hat etwas Unprätentiöses. Es sind bestimmte Überheblichkeiten und Selbststilisierungen, die wegfallen, wenn man dem Mündlichen nahe kommt, wenn man so redet, wie wir das hier tun.«
Demnach erstrahlt das Selbstbild »in aller Lügenhaftigkeit«, wenn »bestimmte Selbststilisierungen« wegfallen. Eine Stilisierung muß keine Lüge sein. Mal ganz anschaulich: Jemand mit einem wölfischen Schreibstil läßt sich in einem Interview nicht knacken – ohne Anführungsstriche. Wer das Spiel kennt, ist unknackbar – dann ist sein Sprechen der Schafspelz. Er wirkt zugänglich, fast bodenständig, überzeugt durch Echtheit, bringt seinen Scheiß rüber. Deshalb, liebe Interview-Endverbraucher, beherzigt die Faustregel des Deutschlandfunk-Redakteurs: »je echter, desto gefakter«. Alternativ könnt ihr es so halten, wie der Lacanianer seinen Beitrag in Kultur & Gespenster schließt: »›Daß man sagt, bleibt verborgen hinter dem, was sich sagt ...‹ – Gibt es eine bündigere Begründung dafür, daß man die Schnauze voll haben kann vom Reden?«
Alexander Reich, Junge Welt 29.11.2006
Lüge und Wahrheit
Eine neue Zeitschrift namens Kultur & Gespenster ist anzuzeigen, eine in Hamburg erscheinende Vierteljahrsschrift von professionellem Zuschnitt, ausgeschmückt mit Gemälden, Montagen, Comics und Modefotos. Das Magazin pflegt jedoch auch einen theoretischen Anspruch, was Literatur, Kunst, Philosophie und Musik betrifft. Gemacht wird es offensichtlich von jüngeren (Literatur-)Wissenschaftlern, die noch über ausreichend Muße und Einfälle verfügen und nicht ganz frei vom redseligen Zeitgeist und seinem mitunter angestrengten Vokabular sind.
Die zweite Ausgabe versammelt auf sage und schreibe 400 Seiten gescheite Essays, Abhandlungen, Interviews, Kunstkritiken und Buchrezensionen. Vergnügen bereitet beispielsweise die erneute Lektüre von Robert Neumanns brillantem Text Spezis in Berlin, eine bitterböse Polemik gegen die Gruppe 47 aus dem Jahr 1966, die damals erregte Debatten auslöste, zumal die Angegriffenen noch an den Fleischtöpfen saßen. Aufgespießt wird die bis heute gängige Lobhudelei, die ungehemmte, fast mafiose Bereitschaft eines Klüngels von "zweitklassigen" Autoren, sich wechselseitig hochzuloben und Literaturpreise zuzuschanzen. Auch der vielgepriesene Walter Höllerer kommt bei Neumann als flinker "Überalldabei" schlecht weg, von Hans Werner Richter gar nicht zu reden.
Etwas läppisch nimmt sich dagegen der ebenfalls schon bejahrte Beitrag des geschätzten März-Verlegers Jörg Schröder aus. Er stammt noch aus jener Zeit, als Jan Philipp Reemtsma aus guten Gründen darauf bedacht war, nicht fotografiert zu werden, beziehungsweise Fotos von sich aus dem Verkehr zu ziehen. Schröder indes machte sich 1984, mit einer albernen Damen-Perücke verkleidet, zu einer Arno Schmidt-Gedenkfeier auf, um dort Reemtsma, von dem er annahm, er verberge sich hinter dem angekündeten Festredner Heiko Postma, abzulichten. Dabei dürfte ihm schon damals klargewesen sein, dass es sich bei Heiko Postma um einen real existierenden Redakteur der Zeitschrift die horen und nicht um ein Pseudonym des "dumpfen Reemtsma" handelte.
Dem drogenkonsumierenden Apo-Aktivisten Bernward Vesper widmet Mathias Brandstädter seine Aufmerksamkeit. Er wirft auch einen neuen Blick auf sein Erfolgsbuch Die Reise, das er nicht als mehr oder weniger authentisches Tagebuchformat, sondern als ein "auffallend wohlkalkuliertes Textgefüge mit verschiedenen narrativen Abstraktionsgraden" definiert. Die Methode des "Umformulierens und Neukodierens" von tradiertem Material finde man ähnlich schon im Werk von Bernwards geächtetem Vater, dem NS-Barden Will Vesper. Schwerpunktthema ist das Interview als literarische Form. Auch hier geht es zunächst darum, das scheinbar Authentische zu hinterfragen. Denn das rohe Material wird in aller Regel beim Transskribieren geschnitten und umformuliert, ganze Passagen werden weggelassen oder dazuerfunden. So entstehen neue Erzählformen, wie Jan-Frederik Bandel ausführt, eine "Kunstsprache, die fließt und stockt, sucht und widerruft." Hubert Fichte etwa sah im Interview eine eigenständige literarische Form, die sich auch als Inszenierung oder Ritual beschreiben lässt. Er hielt dem jeweiligen Partner nicht einfach ein Mikrofon entgegen, er brachte vor allem seine eigenen Erfahrungen und sexuellen Interessen mit ein. Ähnlich verhält sich Alexander Kluge in seinen artistischen, beharrlich nachhakenden, den Gesprächsgast (und natürlich sich selbst) in seiner Eigentümlichkeit erkennbar machenden Fernsehsendungen.
Mit Thomas Bernhard ein Interview zu führen, war schwierig. Denn der war überzeugt, dass ein Gespräch zwischen Menschen, die sich nicht kennen, unmöglich ist: "Leute, die ein Gespräch führen wollen, sind mir sowieso schon verdächtig." Trotzdem hat Bernhard relativ viele Interviews gegeben. Seine launigen Unterhaltungen mit Journalisten hat er nicht als Kommunikation verstanden, sondern als Kunst, genauer: als Verweigerungskunst und virtuose Rollenprosa. "Es gibt fast nur opportunistische Schriftsteller", wetterleuchtet der Dichter in einem in Kultur & Gespenster erstmals auf deutsch veröffentlichten Gespräch aus dem Jahr 1986, das Werner Wögerbauer in einem Wiener Caféhaus mit ihm führte. Man meint fast Robert Neumann zu hören: "Entweder hängen sie sich rechts an oder links, marschieren dort oder da... Der eine arbeitet mit seiner Krankheit und seinem Tod und kriegt seine Preise, und der andere rennt für den Frieden herum und ist im Grunde ein gemeiner blöder Kerl."
Im Gespräch mit Anne Schülke bemerkt der Literaturkritiker Hubert Winkels, dass Interviews in literarischen Texten eher selten vorkommen. Eine gewisse Hochzeit gab es in den sechziger Jahren im Zusammenhang mit der Dokumentarliteratur, bei Günter Wallraff und Erika Runge etwa. Die Fiktion galt damals per se als bürgerlich-abgehoben, während das scheinbar Authentische für aufklärerisch und realitätsnah gehalten wurde. Heutzutage, da unser öffentliches Leben, Radio und Fernsehen nur noch aus glatten Interviews mit Politikern und Sportlern sowie Talkshows zu bestehen scheinen und klassische Ein-Stunden-Gespräche wie die von Günter Gaus nicht mehr vorstellbar sind (es sei denn bei Alexander Kluge), erweist sich das Interview - so der Radiomann Winkels - "als Medium der Lüge schlechthin", als eine Art Unkraut, das alles überwuchert.
Michael Buselmeier, Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung Nr. 47
Geister im Dialog
Die erste Ausgabe war dem Schriftsteller und Forscher Hubert Fichte gewidmet. Für ihre Tapferkeit, sperrige Themen aus nicht gerade gängigen Perspektiven zu betrachten, ernteten die Hamburger Herausgeber Jan-Frederik Bandel, Nora Sdun und Gustav Mechlenburg schon viel Lob.
Kultur & Gespenster erscheint vierteljährlich und will die Leser mit
anstrengenden Gedankensprüngen herausfordern. Das macht aber nichts,
denn diese Art, über Kultur zu schreiben, ist erfrischend. Viel
bildende Kunst ist auch dabei. In diesem Monat kommt die zweite Ausgabe
heraus, die das Interview als solches und als Textform beleuchtet und
mit einer Releaseparty groß gefeiert wird. Das alles im handlichen
Buchformat und mit so schön klingenden Rubriken wie "Die Tugend und der
Weltlauf" oder "Die Lust und die Notwendigkeit". JM
Szene Hamburg November 2006
Selbstorganisierte Strenge
Zuständig für Kultur sind hierzulande vor allem der Universitätsbetrieb, Alexander Kluges Fernsehen und die Merz-Akademie. Zwischen diesen Optionen changieren gut 70 bis 80 Prozent des bundesdeutschen Denkdiskurses (Think Tank I). In den übrigen 20 bis 30 Prozent tummelt sich, was in den genannten drei Institutionen nicht vorkommt (Think Tank II). Diese prozentuale Aufteilung erhellt die problematische Lage, dass es grundsätzlich zu wenig selbstorganisierte, theoretisierende Medien gibt. Zu denen zählt seit Juli dieses Jahres die bei Textem veröffentlichte Zeitschrift „Kultur und Gespenster“. Es spricht für das zielsichere Händchen der Redakteure, dass sie die Nr. 1 Hubert Fichte widmen. Ein Telefonat mit Kluge, das Thomas von Steinaecker (TT I) führte, ein wahnsinniges Gesprächsprotokoll mit dem Luhmann-Kapitalisten Dirk Baecker und mit Jens Kiefer (TT I), eine revisionistische Geschichte des Kriegsbegriffes Fichtes aus Robert M. Gilletts Feder (TT I) und Ralf Schultes experimentell kritische Rezension von Jan St. Werners und Klaus Sanders „Vorgemischte Welt“ (TT II) gehören zu den Highlights des nicht streng wissenschaftlichen Unternehmens. Diese Nichtstrenge als Strenge in der Behandlung eines strengen Gegenstandes – das CEuvre Hubert Fichtes – ist eine Eigenschaft, die man als faszinierter Leser des strengen Autors als lax finden kann. Doch muss man der Gerechtigkeit halber darauf hinweisen, dass die Vielseitigkeit der Beiträge Lust darauf macht, „Hubert Fichte“ zu lesen. Das haptische Format – eine Zeitschrift wie ein Buch, man kennt´s von „Merkur“, „Texte zur Kunst“ und „Testcard“ – spricht die Sprache von Gebrauchstexten. Das Magazin passt in Bibliotheken, auf Kopierer und in Regale. Es kann also relativ einfach, mit minimalen finanziellem Aufwand, auf die Texte zugegriffen werden. Das ist ein Vorteil, den „Kultur & Gespenster“ mit Büchern und Zeitschriften in den unterschiedlichen Archiven der Welt teilt.
Spex Oktober 2006 Text: Christopher Strunz
Kultur & Gespenster
Ein als dickes Taschenbuch im A-5-Format neues Heft, beziehungsweise: Die Nummer 1 einer neuen Zeitschrift stellt sich vor. Laut Impressum erscheint sie im Textem Verlag, Hamburg, und bringt auf über 250 Seiten ziemlich Lesenswertes. Etwa ein gut illustriertes Kapitel über die Hamburger Comicszene. Oder eine "Kunststrecke" genannte Fotofolge von Claus Becker. Der Schwerpunkt des Heftes überstrahlt die Beiträge doch etwas: "Fichte" steht da lässig am Schmutztitel. Also um Hubert Fichte geht es, Aufsätze, Rezensionen, Beiträge u.a. von Gerd Schäfer, Anne Schülke, Kathrin Röggla, Mario Fuhse. Noch sind die Rubriken wie hingefallen und wenig erkennbar für den neugierigen Leser, die aufmerksame Leserin, die Einteilungen unterliegen Titeln wie "Die Lust und die Notwendigkeit" oder "Die Tugend und der Weltlauf", hübsche lyrische Zeilen, an die man sich gewöhnen kann. Vierteljährlich wird "Kultur & Gespenster" erscheinen, der Eizelpreis beträgt 12 Euro.
Buchkultur. Das internationale Buchmagazin, Oktober / November 2006
Kulturmagazin setzt auf die Kraft von Wort und Comic
So recht putzig will das Titelbild von "Kultur & Gespenster" nicht erscheinen, macht aber umso neugieriger: Ein süßes Porzellantierchen hat den Kopf verloren, dafür thront auf dem schlanken Hals eine metallisch funkelnde Christbaumspitze. Das neue Magazin im reisehandlichen Kleinformat hat prominente Autoren wie Kathrin Röggla vorzuweisen und kreist in dieser Ausgabe immer wieder um den Hamburger Schriftsteller und Weltenbummler Hubert Fichte, dem Steckenpferd der Redaktion.
"Kultur & Gespenster" - was für ein geheimnisvoll klingender Name. Unter Kultur verstand man früher die Pflege, heißt es in der Redaktion. Gespenst hieß im Altdeutschen "Gispanst" und bedeutete die Lockung. "Pflegen & Locken" möchte das Magazin also, wobei die Pflege hier meint, sich ausführlich mit Themen zu befassen. Mit längeren Texten lehnt es sich an die angloamerikanischen Quaterlys, die Quartals-Blätter, an und will sich damit von anderen deutschen Literaturzeitschriften abgrenzen. Nicht nur durch die Äußerlichkeit der dicken Buchform, das Blatt hat 250 Seiten, auch durch Texte, die stets mehrere Seiten füllen.
Jan-Frederik Brendel, einer der drei Herausgeber aus Hamburg, will Raum für verschiedenste Diskurse schaffen. "Die Leser sind nicht so unemanzipiert in ihrem Leseverhalten, dass man ihnen keinen längeren Texte vorlegen könnte", sagt Brendel. Er wehrt sich gegen das Spezialistentum, deshalb fächert sich die thematische Bandbreite von Josephine Baker, Interviews mit Systemtheoretiker Dirk Baecker und Filmemacher Alexander Kluge bis zu einem Fototagebuch zur Tansania-Erkundung von Dirk Meinzer auf. Besonders gehätscheltes Kind ist dabei der Comic, interessant in seiner Form des "grafischen Erzählens als Hybridform" so Brendel, der mit der Arbeitsstelle für Graphische Literatur in Hamburg zusammenarbeitet. Da gibt es noch viel zu erschmökern, die nächsten Texte erscheinen ja erst in drei Monaten.
Aus der Berliner Morgenpost vom 23. September 2006 von Verena Dauerer
Herrliche Haarspalterei
Wie ›zeigt‹ man kybernetisches Denken?« Wie analysiert Alexander Kluge seine Text–Bild-Bezüge? Was entsteht, wenn Kathrin Röggla ein fiktives Gespräch mit Hubert Fichte ersinnt? Was hat letzterer mit Alexander von Humboldt und Daniel Kehlmann gemein? Was passiert in der Comic-Szene Hamburgs? »Kultur & Gespenster« geht um im Feuilleton. Zu Recht, denn die neue, vierteljährige, 250 Seiten starke, schwarz-weiße Zeitschrift begeistert durch diskursive Fragestellungen.
Außer zum ersten Dossier zu Hubert Fichte, zur »Ästhetik des Hyde« oder zu den Stellagen von Oliver Ross zu schuften, sucht man aber auch Sirenen in Tansania, schöngeistert durch Comics und Kunststrecken oder stilisiert sich schnoddrig zum »Fachmagazin des Hair-Entertainments«: »Was Friseure können, können nur Friseure.« Ein schöner Schnitt, so wissenschaftlich wie sympathisch. (as)
Kultur & Gespenster, Nr. 2: Ästhetik des Interviews (Oktober 2006),
Nr. 3 Dokumentarismus in Film, Kunst und Literatur (Januar 2007), Textem, Hamburg, 12 €
Goon Magazin, September 2006
Kultur & Gespenster
Das im Juli erstmals erschienene Magazin „Kultur & Gespenster“ aus Hamburg will ein essayistisches Kulturmagazin ohne Aktualitätszwang, dafür mit offenen Textformen für intellektuelles Flanieren und gründliche Debatten sein. Die erste Ausgabe widmet sich dem Schriftsteller Hubert Fichte. Trotz der physischen Schwere (256 Seiten) zeichnet sich das nun vierteljährig herausgegebene Kulturformat besonders durch seine Zugänglichkeit aus. Obschon dem Rahmen angemessen theorieschwer, sind die Texte oft überraschend und angenehm versponnen. Literatur wird sich gerne auch literarisch genähert, oft essayistisch und ungezwungen wissenschaftlich. Neben Fichte von allen Seiten gibt es z. B. eine sehr interessante Annäherung an die Sängerin Josephine Baker oder literarische Feldforschung in Tansania. Im letzten Teil werden sehr genau und mit viel Platz Neuerscheinungen des Buchmarktes vorgestellt (sehr toll: Francis Ponge!). Die Künstlergruppe these.null ist mit einer Bildstrecke vertreten, die ihre Arbeiten zum imaginären Werk Hubert Fichtes dokumentiert. Dort heißt es: „Unser Ansatz ist der Beginn einer fruchtbaren Arbeit auf den Spuren Fichtes: Wissenschaftlichkeit nicht in vollem Umfang, sondern wissenschaftliche Analyse als Teil einer Methode, die ihren selbst gesteckten Rahmen permanent zu verlassen droht.“ Und das kann gut für das gesamte Magazin stehen.
DE:BUG, Magazin für elektronische Lebensaspekte, September 2006
Kulturgespenster
Man darf auf die nächsten Ausgaben von „Kultur & Gespenster“ sehr gespannt sein. Neben der Mainzer „Testcard“, welche sich schwerpunktmäßig mehr der Musik widmet, könnte „Kultur & Gespenster“ im Bereich literarisch-bildkünstlerisch motivierter Kulturwissenschaft eine echte Lücke ausfüllen.
Enno Stahl, satt.org, 19. August 2006
Deutschland Radio
Hubert Winkels: Vorstellung des Magazins "Kultur & Gespenster"
ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2006/08/15/dlf_200608151610.mp3
Büchermarkt, 15. August 2006, 16.30 Uhr
Gespenstisch
Texte aus dem kulturell-wirtschaftlichen Niemandsland
Drei wagemutige Herausgeber bringen die neue Zeitschrift für Literatur "Kultur & Gespenster" neben den Markt
Gespenster schlafen nicht. Anderthalb Jahrhunderte nachdem ein Gespenst in Europa beim Umgehen beobachtet und theoriekundig wurde, haben sie reichlich Zuwachs bekommen, und auch das ist gut und schön so. Gespenster, vom althochdeutschen "gispanst" für Lockung. "Kultur & Gespenster" heißt eine neue Zeitschrift in anspruchsvoller Buchform, mit der eine dreiköpfige Herausgeber- und Redaktionscrew aus Hamburg lautstark ihren kleinen Marktplatz betritt. Auflage: 2000, 250 Seiten, dicht bedruckt mit Beiträgen, die sich in beeindruckender Kompetenz Themen aus Literatur, Kunst, Kultur widmen und dennoch sehr schön gestaltet. Angestrebt ist ein vierteljährliches Erscheinen.
"Was hätten wir sonst tun sollen, wir verdienen ja sowieso nichts?", fragt Mitherausgerberin Nora Sdun kokett, während ihr Mitstreiter Gustav Mechlenburg ergänzt: "das ist ein Realitätsprinzip, das wir nicht akzeptieren." Dabei sind die drei Herausgeber keine Hasardeure: Bisher verursacht die Zeitschrift wenig Kosten: die Autoren und Herausgeber arbeiten umsonst, einige "Gespenster" umschwirren das Team mit freundlicher Unterstützung in Sachen Lay-Out, Anzeigenakquise, Öffentlichkeitsarbeit, und auch einen klar definierte Zielraum hat die Zeitschrift im Blick: das Niemandsland zwischen akademischer und literarischer Welt. Mechlenburg ist darin erfahren, wirtschaftliche Realitäten nicht zu akzeptieren. Seit einiger Zeit betreibt er "textem", ein Literaturportal im Internet, in das jeder hineinschreiben kann, was er will. Womit natürlich nicht jeder gemeint ist, sondern das Prinzip Offenheit, das im Internet herrscht, im Gegensatz zu der Abgeschlossenheit einer gedruckten Publikation.
"Alle wollten natürlich unbedingt dabei sein", deutet er Konfliktlinien an, denn nur wenige textem-Autoren konnten bei der Erstausgabe von "Kultur & Gespenster" vertreten sein. Neben einem Apparat mit aktuellen Texten zu Neuerscheinungen, Veranstaltungen, Beobachtungen aus den Bereichen Literatur, Kunst, Comic, etc., soll jede Ausgabe von "Kultur & Gespenster" ein Schwerpunkttehma behandeln.
In der ersten Ausgabe richtet sich der Blick auf Hubert Fichte, dessen umfangreiches Werk zwischen Dokumentarismus, literarischem Interview, ethnologischem Forschungsprojekten und einer popkulturellen Oberfläche nach wie vor unverdaut in den Bibliotheken liegt. Für Autoren wie Kathrin Röggla oder Ulrich Gutmair liegt dabei der Akzent auf der Auseinandersetzung mit Fichte als Teil der Reflexion eigener schriftstellerischer Arbeit. "Das sind ja keine wissenschaftlichen Texte", erklärt Jan-Frederik Bandel, der dritte der Herausgeber die Idee noch einmal neu, "In den Texten muss die Leidenschaft zu spüren sein."
Stefan Hentz
Die Welt, Artikel erschienen am Fr, 11. August 2006
Kultur & Gespenster, 12 Euro, Erscheinungsweise vierteljährlich, www.kulturgespenster.de
Verlockungen
Das Wort Kultur, so erfahren wir im Editorial, "schwappte Mitte des 17. Jahrhunderts in den deutschen Wortschatz und bedeutete zunächst Pflege". Gespenster wiederum "kommt vom althochdeutschen Wort ‚gispanst' für Lockung." Pflege und Lockung, wir ahnen schon: Bei KULTUR & GESPENSTER sind Germanisten am Werk. "Laufmappe und Katalog gegenwärtiger ästhetischer Praxis und Theorie" will das neue Quartals-Magazin sein.
Texte zu Hubert Fichte bilden den Schwerpunkt der ersten Ausgabe, die Redaktion hat "Autoren und Künstler eingeladen, Impulse seines Schreibens, aber auch Impulse ihrer Auseinandersetzung mit seinem Werk und seiner Person zu thematisieren."
Literaturforschungsberichte, Selbstversuchs-Tagebücher und literarische Anmaßungen zu Fichte - die germanistische Bodenoffensive jagt uns 200 atemlose Seiten lang durch das Werk Hubert Fichtes. Kultur & Gespenster löst das im Titel gegebene Versprechen ein: Die Leser durch intensive Pflege in das Universum des verwunschenen Hamburger Schriftstellers zu locken.
Was der alles gewesen ist, gekonnt und gemacht hat! Nicht nur prä-popliterarischer Popliterat, Literaturwissenschaftler, Homosexueller und Spurensammler. Nein, der 1986 mit 51 Jahren verstorbene Fichte hat auch die Debatte über literarische Beschreibungen des alliierten Bombenkriegs vorweggenommen - "mit der ihm eigenen Intelligenz, Ehrlichkeit und literarischen Treffsicherheit", wie der Germanist Robert Gillett erklärt.
Mehrere Beiträge befassen sich mit dem empfindsamen Ethnologen Fichte, der durch Südamerika und Afrika reist, und "diesen Irren, Afrikanern und Voodoopriestern als individuell handelnden, sprechenden und empfindlichen Subjekten gegenübertritt." So richtig begreift man die seit anderthalb Jahren grassierenden Fichte-Verehrung erst nach der Lektüre von Dirk Meinzers Beitrag "Künstlerische Feldforschung in Tansania". Denn da ist alles anders. Kein Beatnik mit Lederjacke und Vollbart, sondern ein sonnenbrandempfindlicher, fremdelnder und in Sehnsucht nach seiner Freundin Anke vergehender deutscher Künstler schlägt sich die tansanische Küste herauf und herunter, um Fischer und Hexer zu finden, die mit ihm auf's Meer fahren, wo er Sirenen fotografieren möchte. Ein komischer, verzweifelter Text, grundehrlich, wie Hubert Fichte und im Unterschied zu diesem überhaupt nicht überlebensgroß.
Christoph Twickel, Frankfurter Rundschau 4. August 2006
Kultur & Gespenster, 12 Euro, Erscheinungsweise vierteljährlich, www.kulturgespenster.de
Locken und pflegen
Textem. „Kultur & Gespenster“ lautet der Titel eines eigenwilligen Magazins für Literatur, Kultur, Theorie und Politik, das von nun an vierteljährlich zum Preis von 12 Euro im Hamburger Textem-Verlag erscheinen soll. Kultur, so steht es im Editorial, bedeutete früher Pflege, Gespenst kommt vom althochdeutschen Wort „gispanst“, was so viel wie Lockung heißt. „Locken und Pflegen“ also wollen die Macher auf ganzen 256 Seiten. Die Zielgruppe, das ist ein universitäres Publikum, das sich für Literatur und Kunst interessiert. Mit umfangreichen Dossiers sollen „abwegige“, „sperrige“ und “unvermittelbare“ Schwerpunkte gesetzt werden. Der Redaktion gehören neben Verleger Gustav Mechlenburg (www.textem.de) auch Jan-Frederik Bandel und Nora Sdun an.
Die erste Ausgabe widmet sich dem „großen Außenseiter der deutschen Nachkriegsliteratur“ Hubert Fichte. Außerdem enthält das Heft Comics, einen Reisebericht aus Tansania, ein Interview mit Alexander Kluge und eine Fotostrecke von Claus Becker. Im Dossier der Nummer 2 (ET: Oktober) wird sich alles um das Interview als Form drehen und im kommenden Jahr geht es um den Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt. „Kultur & Gespenster“ (Auflage 2.000 Exemplare) kann im Internet oder über den Buchhandel bestellt werden. Auf der Buchmesse wird das Magazin am Stand des Berliner Verbrecher Verlags präsentiert. ML
Buchmarkt, August 2006
Kontakt: www.kulturgespenster.de
Neu am Kiosk
Linke Zeitschriften, die nicht nur inhaltlich etwas hergeben, sondern auch noch gut aussehen, sind selten. Die Beute war hier Vorbild, sichtlich auch für Kultur & Gespenster, eine neue vierteljährlich im Hamburger Textem-Verlag erscheinende Zeitschrift im Buchformat. Das Magazin wird sich in jeder seiner Ausgaben einem bestimmten Thema widmen, den Beginn macht Hubert Fichte. Es ist schick gelayoutet, liegt gut in der Hand und kostet zwölf Euro.
Andreas Hartmann, Jungle World, 2. August 2006
Kultur & Gespenster, Nr. 1, Textem-Verlag, 256 Seiten, 12 €
Was Kultur ist
Tradition des Anderen: Im ersten Heft von Kultur & Gespenster wird Hubert Fichte an- und ausprobiert
Ob wohl irgendwo in der Welt so viel über Kultur geredet wird wie in Deutschland? Es ist eine Kultur des Common Sense, des gemeinsamen Marktes, Trendaktien, Waren. Ein essentieller Diskurs darüber, was Kultur ist oder sein sollte, ein Diskurs, der sie politisch einordnete, findet weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt.
Überdies wird der beherrscht von Altvorderen, den übriggebliebenen Kündern der Alten Republik, exlinken Konvertiten. Oder aber er ist geprägt von akademischen Diskussionsritualen und somit für ein größeres Publikum ungeeignet.
Um so mehr muß man eine neue Zeitschrift für Kulturwissenschaften begrüßen, wenn sie so ambitioniert und betont zeitgenössisch daherkommt wie Kultur & Gespenster aus Hamburg. Die erste Ausgabe hat Hubert Fichte zum Schwerpunktthema auserkoren. Denn als Name mag Fichte vielen geläufig sein, doch reduziert man ihn zumeist auf sein Image als (vermeintlicher) Popautor, als illustrer Schwuler und Skandalhans. Gelesen wird Fichte nur wenig, trotz einer Neuauflage seiner Werke im Fischer Verlag, u8nd eine ernsthafte, literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit seinem vielgestaltigen Werk hat gerade erst eingesetzt.
Die neue Zeitschrift hat hier mit neun, teilweise längeren Essays einen wichtigen Beitrag geleistet. Daß man bei manchen Aufsätzen, etwa dem von Ole Frahm über afrikanische Psychiatrie und dem von Gerd Schäfer über Heino Jaeger, nicht recht begreift, was denn hier Thema oder roter Faden sei, wird durch andere mehr als aufgewogen. Etwa durch Anna Echterhölters brillanten Essay über die ethnographischen Zugriffe Alexander von Humboldts, Fichtes und Daniel Kehlmanns. Letzterem bescheinigt sie eine ideologisch-verzerrende Humboldt-Darstellung, die den Universalgelehrten einer weltfremden Datenversessenheit zeiht und somit dessen durchaus poetische und polyphone Form der Phonomenbeschreibung unter den Tisch fallen lässt. Auch Fichte hat sich einer solchen „mehrstimmigen“ Ethnologie verschrieben, indem er die Bewohner der sogenannten Dritten Welt selbst zu Wort kommen läßt und sich zugleich vehement vom eurozentristischen Zugriff eines Lévi-Strauss distanziert.
Fichtes Arbeiten zur Kulturethnologie stoßen nicht nur in dieser Zeitschrift, sondern auch in jüngsten germanistischen Veröffentlichungen auf ein zentrales Interesse, da hier einige Probleme literarisch bereits gelöst zu sein scheinen, denen sich der theoretische Diskurs heute überhaupt erst stellt. So in etwa die These Ulrich Gutmairs wohl ausgewogenem Essay „Ich sind die anderen“. Neben einer Analyse von Fichtes Exotismus-Projektion bezieht Gutmair dessen Interesse und Methode unmittelbar auf die subjektive Erfahrungswelt des Autors, der sich als Homosexueller in der Bundesrepublik der 60er und 70er Jahre selbst noch wie ein Exot vorkam. Ebenso wie Echterhölter liefert Gutmair am Rande seiner Argumentationslinie fundierte Kritikpunkte an den Partikularitätstheoremen der post-kolonialistischen Kulturwissenschaften. Mit ihrer manschen Konzentration auf die minderprivilegierte „Gruppe“ verschleiert sie nämlich die Existenz des Individuums, den konkreten Subjekts. Nicht der einzelne Mensch ist dabei im Blick, sondern allein seine kollektive „Identität“ als Schwuler, Jude, Schwarzer etc. Fichte dagegen interessierte sich, so Gutmauir, nicht für eine solche abstrakte „Identität“, sondern für Körper, Sprache, Gestik, Tradition des Anderen, also den Menschen selbst.
Weitere überzeugende Beiträge stammen von Robert Gillett, der Volker Hages und W. G. Sebalds Bombenkriegsbücher einer kritischen Lektüre unterzogen hat – dahingehend, dass Hubert Fichte bei beiden trotz Kenntnis der entsprechenden Texte absichtsvoll verschwiegen wird. Sowie von Kathrin Rogglä, die einen interessanten semi-poetischen Versuch der Annäherung an Fichte unternommen hat. Zwei „Autorinnen“-Stimmen stehen mit einer „Fichte-Zitatmaschine“ in einem fiktiven Dialog, um so einen vagierenden Diskurs über dessen Leben und Werk anzustrengen. Analog zu Fichtes eigener Methode, konkurrierende „Ich-Konstruktionen“ miteinander zu konfrontieren, werden hier mögliche Perspektiven durchgespielt, quasi an- und ausprobiert.
Das auch ästhetisch anspruchsvoll gemachte Heft wartet zudem mit bildkünstlerischen Beiträgen auf, die sich dem Phänomen „Fichte“ nähern. Ein umfangreicher Rezensionsteil, Gespräche mit dem Systemtheoretiker Dirk Baecker und mit dem Fernsehproduzenten und Filmregisseur Alexander Kluge, ein Comic und ein Reisebericht aus Tansania runden das Bild ab.
Ein bißchen vermißt man biographische Angaben. Ansonsten darf man auf die nächsten Ausgaben von Kultur & Gespenster sehr gespannt sein. Neben der Mainzer Testcard, die sich vorrangig der Musik widmet, könnte Kultur & Gespenster im Bereich literarisch-bildkünstlerisch motivierter Kulturwissenschaft eine Lücke ausfüllen.
Enno Stahl, Junge Welt, 31. Juli 2006
Kultur & Gespenster, ISSN 1862-9866 erscheint vierteljährlich im Hamburger Textem-Verlag, 256 Seiten, 12 €
Die Schönheit der Fußnote
Neu: "Kultur & Gespenster"
Zeitschriften brauchen Leser. Leser haben Interessen. Interessen, könnte man als Zeitschriftenmacher glauben, sind starr und unverrückbar. Die Herausgeber von Kultur & Gespenster, einer neuen Kulturzeitschrift aus Hamburg, scheinen an alles mögliche zu glauben, bloß nicht an das Modell vom nur einseitig interessierten Leser. Kultur & Gespenster soll, so heißt es im kecken Editorial der Erstausgabe, ein "ernst zu nehmender Ratgeber für alle kulturellen Verlockungen" sein; soll überhaupt frei flottierend "locken und pflegen".
Zu welchen Ufern hin hier aber gelockt, welche Güter hier gepflegt werden sollen, das bleibt angenehm offen und unbestimmt. Allein Emphase und Anspruch scheinen Konzept zu sein; die Startausgabe von Kultur & Gespenster ist auf über zweihundertfünfzig Seiten eine weit ausgreifende Einladung zum Studieren, Blättern und Entdecken. So wartet das Heft nicht nur mit einem wuchtig gewählten Schwerpunkt auf, der in dieser Ausgabe dem vor zwanzig Jahren verstorbenen Hubert Fichte gewidmet ist, in den kommenden Heften aber auch Gegenstände wie das "Interview als Form", den "Dokumentarismus in Film, Literatur und Kunst" oder das Werk Georges-Arthur Goldschmidts umschmeicheln soll. Über diese - im Vorblick manchmal vielleicht etwas gediegen wirkenden - Dossierthemen hinaus stellt Kultur & Gespenster von Ausstellungskritiken über Buch- und Comic-Besprechungen bis hin zu scharf fokussierten Interviews, diesmal etwa, etwas fachintern, mit Alexander Kluge und, sehr gelungen, mit dem Soziologen Dirk Baecker, ein Kaleidoskop verschiedenster Kulturbeobachtungen vor, die fast immer versuchen, ihre Objekte neu zu vermessen, ihnen etwas hinzuzufügen.
In einer der gelungensten dieser Weiterdrehungen gleicht Anna Echterhölter Hubert Fichtes "dichterische Ethnologie" Venezuelas mit den Venezuela-Vermessungen Alexander von Humboldts und Daniel Kehlmanns ab: Sowohl Humboldt als auch Fichte hätten in ihren Reiseberichten versucht, die vorgefundenen Phänomene von mehreren Seiten her zugleich darzustellen. Humboldts Versuch einer Integration von positivistischer Naturwissenschaft und ästhetisierender Klassik habe ihn zu einem Vorläufer postkolonialer Konzepte gemacht, was Anna Echterhölter scharf vom genüsslich scheuklappig gezeichneten Humboldt der Kehlmannschen Literarisierung zu scheiden sucht.
Bei der vitalen Bandbreite solcher Polemiken und Exkurse stellen sich so immer wieder unterirdische Verbindungslinien zwischen den einzelnen Beiträgen her. Neben den Fichte-Essays und den hier wohl teilweise erstveröffentlichten Reise- und Kindheitsfotografien des Hamburger Weltschriftstellers ließe sich im Anschluss an Anna Echterhölter etwa ein viele Seiten später abgedruckter subjektiver Forschungsbericht des Künstlers Dirk Meinzer lesen, der von einer mehrmonatigen Suche nach Sirenen in Tansania berichtet. Bei diesem, aber auch bei vielen anderen Autoren, wüsste man dabei gerne genauer, um wen es sich handelt; die Neugier des Lesers in punkto biographische Notizen und Bildnachweise wird in dieser Startausgabe noch nicht befriedigt.
Als eine Art von Reader's Digest für Kulturbegeisterte soll Kultur & Gespenster von nun an viermal im Jahr in einer Auflage von 2000 Exemplaren erscheinen. Eine Zeitschrift mit diesem ans Wissenschaftliche grenzenden Anspruch ohne den Rückhalt eines größeren Verlages, ohne relevante Werbekunden und ohne Fördergelder auf den Markt zu bringen, ist auf geradezu lustvolle Art und Weise unökonomisch. Dennoch wird die Redaktion genau gewusst haben, welches Risiko sie mit ihrem Gang an die Druckpressen eingeht. Kultur & Gespenster ist im Umkreis des jungen Textem-Verlags entstanden, der bereits seit Jahren auf seiner Webseite ein weitverflochtenes Kultur-Pop-Feuilleton betreibt.
Mit Kultur & Gespenster hat man nun weit darüber hinaus und jenseits des Bildschirms etwas in der Hand: Man kann blätternd assoziieren, darf auf den schön gesetzten Seiten in Fußnoten schmökern, und wenn einem danach zumute ist - der Seitenspiegel ruft danach - schlaue Anstreichungen machen. Hoffentlich kann Kultur & Gespenster sich mit diesem Angebot angemessen hingebungsvolle Leser erobern.
Kultur & Gespenster. Nr. 1, Juli/August/September 2006, Textem Verlag, Hamburg, 256 Seiten, 12 Euro. Bestellungen unter www.kulturgespenster.de
Florian Kessler, Frankfurter Rundschau, 26.07.2006
Die aktuelle Zeitschrift
Neigungsgruppe: Bis vor wenigen Jahren, als in der heimischen Mittelgruppe die so genannten Freigegenstände erfunden wurden, hieß das für junge Menschen: abseits des regulären Stundenplans mehr (und oft: begeisterter) Erfahrungen machen. Entsprechend erfreut nehmen wir also zur Kenntnis, dass sich rund um den Hamburger Textem Verlag eine "Kulturneigungsgruppe" formiert hat: ein Team belesener, aber angenehm unprätentiöser Autoren, die kürzlich unter dem Titel Kultur & Gespenster ein vierteljährlich erscheinendes Periodikum in handlichem Format vorgestellt hat, "mehr als eine Zeitschrift, aber weniger als ein Buch".
Ausgabe 1 zeigt schon einmal: Es geht hier nicht um modisch halblustige Betrachtungen einer weiteren Literatur- oder Essay-Zeitschrift für den schnelllebigen, hippen Zeitgeist-Markt, sondern um ein durchaus eigensinniges Projekt. Schon in der Auswahl von Interviewpartnern wie Alexander Kluge oder dem Soziologen Dirk Baecker orientieren sich die Herausgeber eher an enzyklopädistischen, einem Netzwerkdenken verpflichteten Idealen. Dem entspricht das Schwerpunktthema des ersten Büchleins.
Unter dem Titel Die Lust und die Notwendigkeit umkreisen mehrere höchst lesenswerte Texte (darunter ein "Anmaßungskatalog von Kathrin Röggla) die epochale "Geschichte der Empfindlichkeit" des 1986 verstorbenen Dichters Hubert Fichte. Ein Nachruf auf Josephine Baker, ein Reisebericht aus Tansania, Comics oder Rezensionen zu Donald Barthelme und Wolfgang Ullrich machen Lust auf mehr. Detto die Themenankündigungen für kommende Ausgaben: Man darf sich etwa im September auf Auslassungen zur "Ästhetik des Interviews" freuen, vielleicht also auch zur Kunst, die richtigen Fragen zu stellen. Kein schlechter Ansatz.
Claus Philipp
DER STANDARD, 15.07.2006, Seite 38, Kommentar
Kultur & Gespenster
Der vor 20 Jahren verstorbene Schriftsteller Hubert Fichte bezog seine Inspiration unter anderem aus ethnologischen Studien auf seinen Reisen durch ferne Länder, wo er sich mit verschiedenen Formen des Wahnsinns beschäftigte. Darum geht es im Schwerpunktthema der ersten Ausgabe des neuen Kulturmagazins „Kultur & Gespenster“ (super Titel fü ein Super-Magazin!). Nicht die erste Veröffentlichung zu dem Hamburger Autor im Jubiläumsjahr. Doch der hat den Nachruhm verdient: Fichte war schwul, schlau und ein sehr süßes Kind, wie die Fotos in diesem Band beweisen. (Textem Verlag, 256 S., 12 Euro) hm/bw/rehv
www.siegessaeule.de/buch.shtml
Release-Party
Kultur & Gespenster
"Kultur und Gespenster", ein neues Magazin für Literatur, Kultur, Theorie und Politik, wird von nun an vierteljährig im Textem-Verlag erscheinen. Abwegig, sperrig und unvermittelbar wollen die jeweiligen Schwerpunkte sein. Die erste Ausgabe widmet sich dem "großen Außenseiter der deutschen Nachkriegsliteratur" Hubert Fichte. Die offizielle Release-Party heute Abend bietet Musik, Lesung und Powerpointoperette. Kathrin Röggla liest, Klaus Sander stellt ein Live-Hörstück über Fichte vor. Gezeigt werden auch die im Magazin abgedruckten Bilder. Musik gibt es von der Gruppe "Musikgruppe".
Kulturhaus 73, Schulterblatt 73, Hamburg, ab 20 Uhr
taz Nord vom 15.7.2006, S. 31, 23 Z. (TAZ-Bericht)
Schöngeister-Magazin
Erst gestern wurde "Kultur & Gespenster", ein neues Magazin für Literatur, Popkultur und Politik, in Berlin vorgestellt – schon ist das Feuilleton von FAZ bis Taz voll des Lobes. Herausgeber und Chefredakteur ist Gustav Mechlenburg, bekannt von www.textem.de. Das Magazin in Buchform bietet aber nicht nur anspruchsvolle bis abgedrehte Lektüre für Kopfmenschen, sondern ist auch für visuelle Zeitgenossen ein Genuss. Das ist der Gestaltung durch Christoph Steinegger zu verdanken (ehemals Büro X), dem das Kunststück gelingt, mit klassischer Typografie einen enorm zeitgemäßen Look zu erzeugen. Infos unter www.kulturgespenster.de.
Page-online, 12. 7. 2006
Zeitschrift feiert sich
Eine neue Kulturzeitschrift will die Republik intellektuell beleben. Sie heißt Kultur & Gespenster, wird herausgegeben von Jan-Frederik Bandel, Gustav Mechlenburg und Nora Sdun, und feiert am 15.7. (20 Uhr) im Dreiundsiebzig (Schulterblatt 73) ihr Erscheinen. Es liest Kathrin Röggla, es gibt Musik und ein Hörstück zu Hubert Fichte von Klaus Sander. Eintritt frei (www.kulturgespenster.de).
Volker Albers
Hamburger Abendblatt, 13. Juli 2006
Nicht irgendwer und niemals in der Einzahl
Das Magazin "Kultur & Gespenster" feierte seine Geburt ganz ohne Literaturhausstimmung und mit viel ansteckendem Hubert Fichte
Zwanzig Jahre, nachdem Hubert Fichte 1986 im Alter von fünfzig Jahren gestorben ist, scheint es eine Art Fichte-Renaissance zu geben. Hubert Fichte, der sich traute, sich selbst zum Ausgangspunkt, Material und Versuchsobjekt seines Schreibens zu machen - wie heute vielleicht nur noch Rainald Goetz -, wird dabei aber zum Glück nicht kanonisiert. Das zeigte zumindest die Verbrecher-Versammlung am Dienstag im Festsaal Kreuzberg.
Anlass der Veranstaltung war das neue Magazin Kultur & Gespenster, das sich vierteljährlich um literarische, kulturelle, theoretische und politische Themen kümmern will. Die erste Ausgabe nun hat Hubert Fichte als Schwerpunkt. Kultur & Gespenster sieht aus wie die gelungene Tochter der nicht mehr existierenden Halbjahresschrift für Politik und Verbrechen Die Beute und Texte zur Kunst.
Man freute sich auf den Abend. Die Texte, die man vorab aus der Zeitschrift zu lesen bekam, machten gute Laune. Und außerdem war im Frühjahr mit "Die zweite Schuld" der letzte Teil von Fichtes ursprünglich auf 19 Bände angelegter "Geschichte der Empfindlichkeit" erschienen. Damit war ein Zyklus zum Abschluss gekommen, in dem Fichte seine verschiedensten Formen sprachlicher Weltverarbeitung zu einem gültigen Ausdruck bringen wollte: In den jetzt vorliegenden 17 Bänden entsprechen die Textformen der Diversität der Welt. Sie reichen vom fast schon leicht zu nennenden Roman "Eine glückliche Liebe" über Interviews, Polemiken, fundierte Kritik, wissenschaftlich-ethnologische Praktiken bis hin zu Hörspielen und Glossen.
Der immer noch für Hochzeiten benutzte Raum des Kreuzberger Festsaals war für die nervöse Offenheit von Fichtes Texten insofern angemessen, weil er das Aufkommen der fiesen andächtigen Literaturhausstimmung gar nicht erst zuließ. Ohne Andacht wurde der Abend denn auch eingeleitet. Die Schriftstellerin Kathrin Röggla begann mit Leopold von Verschuer im ungleichen Duett, einen "anmaßungskatalog für herrn fichte" zu lesen. Eine szenische Textcollage, die Fichte aber gar nicht zu nahe trat. "Who the fuck is Hubert Fichte?", hörte man fragen. "jedenfalls nicht irgendwer. und niemals in der einzahl", lautete die Antwort. Ja klar, dachte man, sowieso, und bekam noch bessere Laune. "jäcki haßte die masche der spiegelinterviews", hieß es. Man fügte hinzu: Noch schrecklicher ist nur Mathias Matussek bei Herman & Tietjen.
Es gelang Röggla und von Verschuer, alle Straßenecken und Kreuzungen von Fichtes Spaziergängen einfach nur so ein bisschen anzuschlagen. Und als sie vom "fensterputzerkarl mit seinem notizbuch und seinem literaturhunger" lasen, flüsterte mir einer, der es wissen muss, ins Ohr: In der taz ist auch der Fensterputzer der Klügste. Das hätte Fichte gefallen. Über Proust, einen seiner Lieblingsautoren, hat Fichte einmal gesagt, er würde immer sofort wieder vergessen, was er gelesen habe, hätte aber immer den richtigen Geruch im Sinn.
Diesen Geruch muss auch Bernd Cailloux im Sinn gehabt haben. Er verband in seiner Lesung nach Röggla und von Verschuer eine Stelle aus Fichtes Roman "Detlevs Imitationen Grünspan" mit einer Passage aus seinem eigenen letzten Buch "Das Geschäftsjahr 1968/69". Zwischendurch erzählte er.
Cailloux kannte Fichte aus einem Komitee des "Grünspan", einem heute noch existierenden Szeneladen der 68er in Hamburg. Fichte war vom Outfit her immer zwei Jahre vor den anderen, erzählte Cailloux. Die plauschigen Fellmäntel, die man von Rainer-Langhans-Fotos kennt, habe Fichte schon 1966 getragen. Als die dann bei den 68ern ankamen, trug Fichte schon feine Anzüge, war immer auf richtige Länge rasiert und überhaupt ein Ausbund an Distinktion. Etwas Gammlerhaftes habe er nicht ausgestrahlt. Dafür sprach er immer sehr leise und zwang seine Zuhörer so in die Aufmerksamkeit. Das muss genervt haben.
Dass man es mit Kunst zu tun hat, merkt man daran, dass es ungemütlich wird - so steht es über einem Interview in Kultur & Gespenster. In Cailloux' Vortrag hallte etwas von der Ungemütlichkeit Fichtes nach. Sie dürfte auch den Leuten vom Textem Verlag Motivation gewesen sein, ihn zum Thema eines gelungenen Magazins und noch gelungeneren Abends zu machen. Literarische Wahrheitsproduktion ist nämlich auch in Zeiten einer auseinander driftenden Gesellschaft möglich, man muss sich nur offen halten für die Ansteckungen der Welt. Wie es Fichte tat. CORD RIECHELMANN
"Kultur & Gespenster", Ausgabe 1, Textem Verlag 2006, 12 Euro, bestellen bei: post@textem.de
taz Berlin lokal vom 13.7.2006, S. 27, 151 Z. (TAZ-Bericht), CORD RIECHELMANN
WDR - Resonanzen
"Kultur & Gespenster"
Gustav Mechlenburg im Gespräch über seine neue Zeitschrift.
"Kultur & Gespenster" - so heißt das neue, im Textem-Verlag erscheinende Kultur-Magazin. Ein neues Kultur-Magazin in Zeiten eines heiß umkämpften Zeitschriftenmarkts, wo fast jeden Monat eine Reihe neuer Magazine und Zeitschriften erscheint, mag manchem etwas zu wagemutig erscheinen. Gerade "Kultur" ist kein Verkaufsmagnet. Doch dem Chefredakteur Gustav Mechlenburg geht es nicht um Gewinn, und er ist kein Anfänger. Er kümmert sich auch um das virtuelle Feuilleton www.textem.de. An das Print-Magazin "Kultur & Gespenster" möchte er etwas unkonventioneller als in anderen, etablierten Verlagen herangehen. Redaktionskonferenzen finden in Wohnzimmern oder im Internet statt, auf ein Autorenhonorar wird verzichtet. Die unkonventionelle Herangehnsweise passt zu den unkonventionellen konzeptuellen Vorstellungen: Die Inhalte sollen speziell und für Spezialisten interessant sein. Die meisten Texte werden eine wissenschaftliche Grundlage haben.
Die erste Ausgabe ist dem Schriftsteller Hubert Fichte gewidmet. Die Startauflage von 2.000 Stück, ist im Buchhandel und über die Textem-Homepage zu bestellen.
Auf den Verlagsseiten von Textem finden Sie weitere Informationen zu dem Magazin "Kultur und Gespenster" sowie eine Bestellmöglichkeit:
WDR - Resonanzen, 12. 7. 2006, 18.15 - 19.00 Uhr
Worte ohne Geldwert
Redigieren ist verpönt: Das neue, etwas abgedrehte Magazin "Kultur und Gespenster"
Schon reden alle darüber, obwohl es noch niemand gelesen hat. Bei dem neuen Kulturmagazin "Kultur und Gespenster" hat das vor allem damit zu tun, daß der angekündigte Erscheinungstermin verstrichen ist, bevor die zweihundertfünfzigseitige Quartalsschrift in die Hände der Leser kam. Immerhin wissen diese, daß es "Kultur und Gespenster" gibt. Und das ist eine Leistung.
Für die Redaktion von "Kultur und Gespenster" gibt es keinen Grund zur Panik; hier geht es nicht um Geld. "Wir wollen auch gar kein Marktsegment füllen", sagt der Chefredakteur Gustav Mechlenburg, der sich sonst um das virtuelle Pop-Feuilleton www.textem.de kümmert. "Kultur und Gespenster" erscheint im Eigenverlag (Preis zwölf Euro); Redaktionskonferenzen finden im Wohnzimmer oder im Internet statt. Verkauft wird es "in der Nähe von Universitäten und in Buchläden". Heute wird es im Kreuzberger Festsaal vorgestellt, bei der "Verbrecherversammlung", einem regelmäßigen Autorentreffen des gleichnamigen originellen Verlages, der selbst allerdings die Herausgabe von "Kultur und Gespenster" abgelehnt hat - aus wirtschaftlichen Gründen.
Dennoch, hier in Berlin ist die Brotlosigkeit des intellektuellen Alltags eine akzeptable Lebensform, solange die Miete noch von einer Mutter bezahlt wird, die etwa Staatsanwältin ist, oder dieser ganze Versicherungskram von einem Vater erledigt wird, der als Hochschullehrer wirkt. Außerdem gibt es Stipendien und Fördergeld. In Berlin leben die meisten Autoren des Magazins, so wie der Chefredakteur, auch wenn das Blatt eigentlich in Hamburg erscheint. "Aber in Berlin muß man sein, wenn man etwas lostreten will", sagt er. "Autorenhonorare gibt es nicht."
Ist vielleicht auch nicht nötig, denn "wir drucken ja keine Primärtexte". "Kultur und Gespenster" ist eine Zusammenstellung von Arbeiten, die meist eine wissenschaftliche Grundlage haben. So wie das Interview mit dem Filmemacher Alexander Kluge aus einer Dissertation von Thomas von Steinaecker, das nicht etwa die Zukunft von Kluges veräußerter Produktionsfirma DCTP zum Gegenstand hat, sondern die Bedeutung von Bildern in seinen Texten. Das ist sehr speziell und für Spezialisten bestimmt interessant.
"Kultur und Gespenster" startet mit einer Miniauflage von zweitausend Stück. Die erste Ausgabe dominiert der vor zwanzig Jahren verstorbene Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte. Ihm widmet "Kultur und Gespenster" auf ganzen hundert Seiten ein Dossier, in dem sich allerlei Kurioses versammelt, zum Beispiel Venezuela. Hier kreuzt die Autorin Anna Echterhölter die Wege von Hubert Fichte, Alexander von Humboldt und Daniel Kehlmann in der tropisch animierten Literaturwelt am Lauf des Orinoko. Auf so einen Schwerpunkt muß man erst mal kommen, so ganz ohne Gedenkjahr oder sonstige Marktrelevanz, die in diesem Magazin eben keine Rolle spielen soll.
Es ist nicht ausgeschlossen, daß es der Redaktion gelingt, Themen in den allgemeinen Diskurs zu mogeln. "Netzwerk" nennt Mechlenburg das Kapital, mit dem die Redaktion wuchert: Mit Autoren und Multiplikatoren, einem Fundus von Texten, Ideen und Kontakten, der "Kultur und Gespenster" ausmacht. Hier müssen sich die Schreiber nicht gängeln lassen von Zeitungs- oder Magazinformaten oder einem Redakteur, der Einhalt gebietet. Die Schriftstellerin Kathrin Röggla darf ihren dialogischen "Anmaßungskatalog für Herrn Fichte" durchgängig klein schreiben, und an anderen Stellen darf das Wort "Ikonoklasmus" zweimal vorkommen - in verschiedenen Texten, auch auf die Gefahr hin, daß es keiner versteht. Die Redaktion will ihre "emanzipierten Leser nicht für dumm verkaufen", so wie es die gängigen Medien meist täten.
Kritiker werfen dem Magazin "Kultur und Gespenster" vor, daß es zuviel voraussetze. Tut es auch, wenn es zu Beginn des Dossiers heißt: "Fichtes Lebenslauf ist in groben Zügen bekannt und beschrieben." Das ist arrogant; ist ja nicht schlimm für ein Kulturmagazin - wenn es denn wenigstens humorvoll wäre. Dann wäre es was für Rotweinabende, den Badewannenrand im Rücken, so wie das Kulturmagazin "Freund" eben, das zur gleichen Zeit verschwindet, da "Kultur und Gespenster" auftaucht. Zufall oder nicht. Gustav Mechlenburg jedenfalls mochte das ausgefallene Springer-Projekt sehr, räumt aber ein: "So witzig wie die sind wir nicht." Fürwahr.
Die erste Ausgabe von "Kultur und Gespenster" schafft es nicht ins Badezimmer. Sie bleibt am Schreibtisch als akademisches Werkstück mit Literaturhinweisen, Korrekturrand und künstlerischen Einsprengseln. Ausgezeichnet sind die Rezensionen, die Literatur soll ein Schwerpunkt sein. Hier läßt es sich nach Perlen tauchen; zum Luftholen kommt der Leser am Ende im Indischen Ozean und erblickt einen kiffenden Ich-Erzähler (Dirk Mainzer), der in seinem Tagebuch von der Küste Ostafrikas erzählt. Es schmeckt nach Salzwasser, Ethnopoesie und Bruce Chatwin, nicht nach Staatsbibliothek. Den Titel "Kultur und Gespenster" erklärt die Redaktion übrigens im Editorial. OLAF SUNDERMEYER
Text: F.A.Z., 11.07.2006, Nr. 158 / Seite 46
In einem anderen Land
SCHREIB Waren
Steffen Richter freut sich über die Gespenster der Gegenwart
Nun beginnen also die Mühen der Ebene. Das Versprechen der Tour de France, nach dem Fußball den nationalen Begeisterungspegel zu halten, muss man wegen des Dopingskandals skeptisch betrachten. Also scheinen Euphorie, Höhenflug und Magie vorerst vorbei. Notorische Miesmacher fürchten sogar den Fall in ein schwarzes Loch und die Wiederkehr alter Gespenster. Da muss man sich fragen, in welch freudlosem Land man vor dem 9. Juni gelebt haben soll. Es war ja nicht alles schlecht.
Höchste Zeit, den Gespenstern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Denn im Grunde sind sie Rückkehrer aus dem Reich der Toten – und somit Gestalten der Mahnung und des Eingedenkens. Sie erinnern an Unerledigtes, sind also von großer kultureller Relevanz. Den Zusammenhang macht sich ein neues Literaturmagazin zunutze. Es heißt Kultur & Gespenster, soll vierteljährlich im Hamburger Textem Verlag erscheinen und sieht nach einem großen Wurf aus. Kultur, erklären die Redakteure Jan-Frederik Bandel, Gustav Mechlenburg und Nora Sdun, kommt vom Lateinischen cultura und bedeutet so viel wie Pflege. Gespenst heißt im Althochdeutschen Trug oder Verlockung. Locken und Pflegen also wollen sie. Und das auf opulenten 256 Seiten.
Hier werden richtig dicke Bretter gebohrt, ohne Angst vor Theorie, der „Kulturneigungsgruppe mit forciertem Gestaltungswillen“ geht es ums „Sammeln, Gruppieren, Registrieren und Befragen“, also eine Form von anarchistischem Enzyklopädismus, der in der ersten Nummer schon recht gut gelingt. Ein Dossier beschäftigt sich mit dem wilden Reisenden, „Ethnopoeten“ und ewigen Außenseiter des Literaturbetriebs Hubert Fichte. Feste Rubriken widmen sich der Kunst, der Reise und dem Comic. Es gibt einen üppigen Rezensionsteil, ein Telefongespräch mit Alexander Kluge und Essays, etwa zu Josephine Baker. Wie das sympathische Projekt anläuft, kann man heute (20 Uhr) bei der „Verbrecherversammlung“ (Festsaal Kreuzberg, Skalitzer Str. 130) miterleben.
Eine Verlockung anderer Art wartet am 13.7. (20 Uhr) im Literarischen Colloquium (Am Sandwerder 5, Zehlendorf). Nicholas Shakespeare, der mit einer Biografie seines Freundes Bruce Chatwin bekannt wurde und dann ein Buch über Tasmanien schrieb (einer der wenigen Orte, an denen Chatwin nicht war), hat nun etwas ziemlich Überraschendes getan. Sein neuer Roman „In dieser einen Nacht“ (Rowohlt) erzählt von einem Briten, der in den frühen achtziger Jahren mit einer Theatergruppe Leipzig besucht, sich in eine Frau verliebt, die er entgegen seinem Versprechen nicht aus dem Land schmuggelt, aber nach 1989 wieder trifft. Voilà: ein Wenderoman – aus englischer Feder.
Steffen Richter, Tagesspiegel, 11. 7. 2006
Papiertiger im Tank
Zeit SCHRIFTEN
Gregor Dotzauer über das Debüt von „Kultur & Gespenster“
Da steht es, wie in Stein gemeißelt: „Zusammenhänge schafft man, es sei denn, man ist dem Entzug haptischer Ereignisse gewachsen, auch in den nächsten tausend Jahren wohl am glücklichsten über zusammengebundene Papierstapel.“ Und das soll man drei mit allen Bits und Bytes gewaschenen Netznomaden abnehmen, die nun, gewissermaßen als ultimativen Link, die Zeitschrift „Kultur & Gespenster“ (www.kulturgespenster.de) gegründet haben?
Vor allem Jan-Frederik Bandel, der literaturwissenschaftliche Kopf an der Seite von Gustav Mechlenburg und Nora Sdun, hat sich einen Namen als Internet-Wahnsinniger gemacht. Außer an seiner persönlichen Website (www.jfbandel.de) bastelt er mit www.comicologie.de an einem „Infoportal zur deutschsprachigen Comicszene“ und verwaltet außerdem eine Seite zum postumen 70. Geburtstag des Schriftstellers Hubert Fichte (www.hubertfichte.de).
Fichte gilt auch der Schwerpunkt der ersten, 256 Seiten umfassenden Ausgabe von „Kultur & Gespenster“, die unter anderem einen „Anmaßungskatalog für Herrn Fichte“ von Kathrin Röggla enthält. Und: Wir sind bei Bandels Leib- und Magenthema. Als Herausgeber von drei der bisher auf fünf Bände angewachsenen Hubert-Fichte-Studien im Aachener Rimbaud Verlag sowie als Co-Autor von „Palette Revisited“, einem Buch über die Hamburger Kneipe, der Fichte seinen erfolgreichsten Roman widmete, hat sich der 29-Jährige als einer der besten Werkskenner etabliert.
Doch sendet Jan-Frederick Bandel nur auf allen Kanälen oder vertraut er tatsächlich der Autorität des gedruckten Wortes? Die beste Antwort gibt die Entstehungsgeschichte von „Kultur & Gespenster“ selbst. Angefangen hat das Magazin vor sechs Jahren nämlich im Netz. Auf www.textem.de finden sich bis heute Rezensionen zu allem, was sich zwischen Popliteratur, Bildender Kunst und Cultural Studies so abspielt. Daraus wiederum ist ein kleiner Verlag hervorgegangen, der neben zeitgenössischer Prosa unter anderem Klabunds „Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde“ neu aufgelegt hat.
Die Zeitschrift soll nun alle drei Monate das Angebot dieses Miniaturkonzerns krönen: jeweils mit einem Dossier, für das Themen wie die Ästhetik des Interviews oder das Werk des Schriftstellers Georges-Arthur Goldschmidt vorgesehen sind. Darum rankt sich in einem aufgeräumten, klaren Layout mit einem guten Schuss Weiß allerlei. In der ersten Nummer finden sich Comics, ein Reisebericht aus Tanzania oder auch ein Gespräch mit Alexander Kluge. Und Rezensentisches zur Kunst von Norbert Bisky oder der Literatur von Francis Ponge.
Das ist nicht in jedem Fall besser geschrieben als das, was man bei textem.de findet, ist aber neben dem intellektuellen Ehrgeiz, der sich damit verbindet, durch den Heftumschlag mit einem Zwangszusammenhang behaftet, den das Netz so nicht bieten kann und will. Vieles in der abendländischen Flüchtigkeitshierarchie von gesprochenem Wort, Netzpublikation, Zeitung und Buch mag inzwischen reine Konvention sein, weil sich der Wissenserwerb tatsächlich ins Internet verlagert hat. Die Informations-Ernährungskette verläuft mehr und mehr in umgekehrter Richtung, und so mancher Zeitungsartikel renommiert mit einem Wertigkeits-Anspruch, den er nicht erfüllt. Zugleich bleibt ein guter Text in gleich welchem Aggregatszustand einfach ein guter Text. Nur: Sobald es nicht nur um Information, sondern um Darstellung, also um die Qualität der Sprache geht, braucht er einen entsprechenden Auftritt – und der steht und fällt mit einem lesbaren Satzspiegel auf ordentlichem Papier.
Irritierend bleibt dennoch, wie Texte sich beim Vortrag verwandeln. Bei Zweitausendeins sind jetzt, nachdem bei Supposé schon vereinzelt Aufnahmen erschienen waren, zum Spottpreis von 29,95 Euro auf zwei MP3–CDs mit über 18 Stunden Spielzeit Hubert Fichtes „Hörwerke“ erschienen: Hörspiele, Features und Lesungen. Wie seine auf dem Papier zuweilen abgehackt wirkenden Einsatz-Absätze das Schweben anfangen, wenn Fichte sie, sprechgeschult und mit einem einschmeichelnd-schwulen Brio in der Stimme, artikuliert, kann einen die Lektüre seiner „Geschichte der Empfindlichkeit“ noch einmal neu lehren.
Gregor Dotzauer, Tagesspiegel, 9. 7. 2006
Deutschland Radio: Kultur heute
07.07.2006 · 17:35 Uhr
Neu auf dem Markt: "Kultur und Gespenster"
"Es ist mehr als eine Zeitung, es ist weniger als ein Buch" - Das neue Magazin "Kultur und Gespenster"
ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2006/07/07/dlf_200607071753.mp3
"Kultur und Gespenster" heißt ein neues Magazin, das es seinen Lesern innerlich und äußerlich nicht einfach macht: Eher ein Buch als eine Zeitschrift, auch in gut sortierten Buchhandlungen nur über eine Bestellung zu haben und von den Machern bewusst mit dem Anspruch eingeführt, sperrige und abwegige Themen aufzugreifen. Doch Schriftsteller Ulrich Peltzer ist begeistert: "Hochinteressant und viel Neues", lautet sein Urteil.
Kultur und Gespenster" heißt ein neues Magazin, das es seinen Lesern innerlich und äußerlich nicht einfach macht. Erstens handelt es sich eher um ein Buch, denn um eine Zeitschrift, satte 256 Seiten hat die erste Ausgabe, zweitens ist "Kultur und Gespenster" bis jetzt auch in gut sortierten Buchhandlungen nur über eine Bestellung zu haben, und drittens machen die geistigen Köpfe hinter dem neuen Magazin schon in den Rubriken klar, dass sie ihren Anspruch, "sperrige", ja "abwegige" Themen aufzugreifen, auch umgesetzt haben. Da gibt es etwa den Reisebericht aus Tanzania unter der Überschrift "Die Tugend und der Weltlauf" oder eine Comic-Rubrik, die heißt: "Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihung". Ist das klug und womöglich witzig, oder ist das Angeberei?, das ist hier die Frage, und sie geht an den Schriftsteller Ulrich Peltzer, der "Kultur und Gespenster" für uns gelesen hat. Was für ein Konzept liegt dem allem zu Grunde?
Peltzer: Es handelt sich eigentlich darum, Kultur in einem relativ weiten Sinn vorzustellen und etwas zu tun, das es in Deutschland so nicht gibt, was eher in einer angelsächsischen Tradition ist, die Tradition der quarterlies, also alle drei Monate ein Heft herauszubringen, in dem es einen Themenschwerpunkt gibt, ein Dossier, und um das Dossier herum Sachen vorgestellt werden, die so in dieser Bündelung weder in einer Wochenzeitung noch in einer Tageszeitung zum Thema werden.
Also es gibt immer einen Dossierteil, das ist dieses Mal der Schriftsteller Hubert Fichte, es wird in einer der nächsten Ausgaben ein Dossier über Dokumentarismus im Film, Literatur und Kunst geben, es wird einen Themenfall geben über das Interview als Form, dann wird es immer eine Bildstrecke geben zu aktueller, zeitgenössischer Kunst, es wird Rezensionen geben, es wird einen Comicteil geben, und die letzte Rubrik, die Sie schon genannt haben, die "Tugend und der Weltlauf", es wird einen Reiseteil geben, den man jetzt allerdings nicht mit dem Reiseteil in der Zeit oder in ähnlichen Blättern verwechseln sollte, sondern es ist vielleicht schon exemplarisch, was in der ersten Ausgabe stattfindet, ein Reisebericht, ein Forschungsbericht eines Künstlers, des Künstlers Dirk Meinzer, der in Tansania sich auf die Suche nach Sirenen gemacht hat, und das ist hochinteressant zu lesen und erinnert stark auch an die Reisebereichte Michel Leiris und Gides von vor 60 oder 70 Jahren in Afrika, und es ist mehr als eine Zeitung, es ist weniger als ein Buch, es ist hochinteressant.
Fischer: Der Schwerpunkt des Heftes ist Hubert Fichte gewidmet, Sie haben das schon gesagt. Das liegt natürlich zum einen daran, dass einer der Macher, Jan-Frederik Bandel, in diesem Fall ein Fichte-Aficionado ist, wie Sie übrigens auch. Auch dieser Schwerpunkt pflegt die avancierte Alliteration oder den Stabreim wie zum Beispiel "Exotismus, Empfindlichkeit, Ethnopoesie und die Politik des Interviews bei Hubert Fichte", so heißt ein Text. Wie ist dieser Schwerpunkt gelungen, haben Sie Neues erfahren?
Peltzer: Ja, ich habe Neues erfahren in zwei, drei Essays. Ich habe Bilder gesehen, die aus dem Privatarchiv Fichte stammen, die ich nicht kannte. Es gibt einen wunderbaren Essay, der sich mit dieser Bombenkriegsdebatte beschäftigt. Ich weiß nicht, ob das noch präsent ist, es gab vom Schriftsteller Sebald den Vorwurf, dass der Bombenkrieg gegen die deutsche Bevölkerung in der deutschen Literatur nicht präsent gewesen wäre. Das wurde dankbar aufgegriffen, und hier ist einfach ein wunderbarer Aufsatz, wo das im Zusammenhang mit Fichte zurechtgerückt wird, weil in Fichtes Buch "Detlefs Imitationen Grünspan" schon auf sehr kongeniale Art und Weise die Zerstörung Hamburgs zum Thema gemacht wird, und das ist einfach ein sehr, sehr guter Aufsatz, von großer Brillanz, ohne je ins Akademische abzugleiten. Dann gibt es einen sehr, sehr interessanten Aufsatz, wo dann Alexander von Humboldt, Hubert Fichte und Daniel Kehlmann, wenn man so will, auch so eine Art Forschungsreisende, aber mehr im Unterhaltungsbereich, in Bezug gesetzt werden und deren unterschiedliche Herangehensweise an Leben und Natur in Venezuela dargestellt werden. Es wird aufgemacht, welche Anschlussstellen eigentlich im Werk von Fichte nach verschiedenen Stellen da sind und immer noch produktiv sein können.
Fischer: Sie haben ja vorher schon von dem, wie man heute so schön sagt, Alleinstellungsmerkmal dieser Zeitung und dieses Magazins "Kultur und Gespenster" gesprochen. Wie positioniert sich das Magazin Ihrer Ansicht nach auf dem Markt zwischen, ja, sagen wir, "Cicero" und "Monopol", an welche Art von Leserschaft wendet es sich?
Peltzer: Das positioniert sich irgendwo in einem Dreieck, das aufgemacht wird von Zeitungen, die Spezialinteressen bedienen. Also auf der einen Seite haben wir Texte zur Kunst und Springerin, die sich mit der bildenden Kunst beschäftigen, wir haben Literaturzeitungen wie die "Neue Rundschau" oder die "Akzente", die sich mit Literatur beschäftigen, wir haben "Camera Austria", die den Bereich der Fotografie abdecken, und die versuchen einfach eine Synthese, und vielleicht das Wort synästhetisch hier zur Anwendung zu bringen, weil wir haben hier Bilder, wir haben hier Berichte, wir haben hier Analysen zur bildenden Kunst, zur Comic, zur Literatur, und zugleich wird hier ein Raum aufgemacht, wo untersucht wird, wo es Verbindungspunkte gibt, wo es unterirdische Adern gibt, die von einem Bereich zum anderen führen, und das ist ein ganz emphatischer Begriff von Kultur, den die Herausgeber im Editorial noch mal betonen, Kultur und Gespenster im Sinne von Locken und Pflegen, also das finde ich einfach eine sehr, sehr schöne Idee.
Deutschland Radio, Kultur heute, 7. 7. 2006
Vormerken
11. Juli 2006: "Kultur und Gespenster"-Präsentation mit Kathrin Röggla und Bernd Cailloux, Verbrecherversammlung, 20 Uhr, Festsaal Kreuzberg, Berlin
Hubert Fichte geistert durch "Kultur & Gespenster"
Die Macher der neuen Literaturzeitschrift Kultur & Gespenster sind - laut Pressetext - eine studierte Kulturneigungsgruppe mit forciertem Gestaltungswillen. Und für ihr im Textem Verlag erscheinendes Magazin haben sie sich tatsächlich viel vorgenommen. Popkulturelle, (kultur)historische und politische Themen werden untergebracht - Sperriges und Abwegiges nicht ausgeschlossen. Dossiers setzen Schwerpunkte, Debatten aus anderen Ländern werden in Kultur & Gespenster aufgegriffen, abgerundet wird das alles durch Interviews und Gespräche. In der ersten Ausgabe - die morgen bei der Verbrecherversammlung im Festsaal Kreuzberg vorgestellt wird - dreht sich alles um Hubert Fichte. Anna Echterhölter zum Beispiel schreibt unter dem Motto "Schöner berichten" über Alexander von Humboldt, Hubert Fichte und Daniel Kehlmann in Venezuela. Über die Annäherung an die Geisteskranken bei Leonore Mau und Hubert Fichte berichtet Ole Frahm. Die österreichische Autorin Kathrin Röggla hat gar einen Anmaßungskatalog für Herrn Fichte zusammengestellt. Sie liest morgen bei der Releaseparty, ebenso wie Bernd Cailloux, der zuletzt in seinem Roman "Das Geschäftsjahr 1968/69" den Mythos der 68er etwas entzaubert hat.
taz Berlin lokal vom 10.7.2006, S. 20, 43 Z. (TAZ-Bericht)
Zitty
Kultur und Gespenster
"Der viel versprechendste Titel seit langem"
Zitty Berlin, Juli 2006
Deutschland Radio: Corso
3. 7. 2006
Nino Ketschagmadse und Stefan Niggemeier zu "Kultur und Gespenster"
ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2006/07/03/dlf_200607031523.mp3
Neue Zeitschrift
Erfrischende Geisteskultur
Anspruchsvolle Kulturzeitschriften mit Aufklärungsansatz und Minoritätenschwäche? Gelten nicht direkt als Cash Cow. So wären Jan-Fredrik Bandel, Nora Sdun und Gustav Mechlenburg mit ihrem Projekt wohl in jedem Existenzgründerseminar gescheitert. Weil die drei Hamburger aber Überzeugungstäter mit beachtlicher Kondition und dicken Adressbüchern sind, haben sie ihr Projekt im Eigenverlag verwirklicht. „Kultur & Gespenster“ heißt es und liegt mit 256 Seiten gut in der Hand. Das Magazin, das von nun an vierteljährlich im Textem-Verlag erscheinen soll, bearbeitet in seiner ersten Ausgabe den Schriftsteller Hubert Fichte aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Federn. Dazu gibt es eine Kunststrecke (Claus Becker), Interviews (Alexander Kluge, Dirk Baecker), einen Comic (Sascha Hommer) und einen Aufsatz zu Josphine Baker. Zusammen fügt sich diese Vielfalt zu einem Magazin, das so erfrischend unverfroren wie tief gehend ist – eine quasi ausgestorbene Spezies im deutschen Blätterwald. Die Rarität kann ab Juli am gut sortierten Kiosk und live bei größeren Release-Partys begutachtet werden. (GK)
Szene Hamburg, Juli 2006
Termine:
11. Juli 2006: "Kultur und Gespenster"-Präsentation mit Kathrin Röggla und Bernd Cailloux, Verbrecherversammlung, 20 Uhr, Festsaal Kreuzberg, Berlin
15. Juli 2006: "Kultur und Gespenster"-Release-Party mit Musik (Musikgruppe und Plokk), Lesung (Kathrin Röggla), Hörstück (Klaus Sander) und Ausstellung, 20 Uhr, Schulterblatt 73, Hamburg
21. Juli 2006: Release-Party mit Thomas Meinecke und Jan Jelinek, NBI, 20 Uhr, Kulturbrauerei Berlin
Zu Gast
KULTURRADIO AM NACHMITTAG
Im Gespräch mit Christian Schruff ist in dieser Woche zu hören:
Donnerstag, 6. Juli
Gustav Mechlenburg, der mit Kultur und Gespenster eine neue Vierteljahres-Zeitschrift etablieren möchte
Satt.org
Textem-Verlag
Textem rüstet auf! Das Online-Popfeuilleton begeistert mit hervorragenden Beiträgen & einem originellen „Discounter“-Fotowettbewerb. In der Leseheftreihe erschien kürzlich die großartige Erzählung „Das falsche Meer“ von Simon Wint & das Künstlerdrama „Glanz und Elend“ von Karol Potrykus mit einer wunderbaren Fotostrecke streunender Einkaufswagen. Ab Juli soll außerdem das 250 Seiten starke Textem-Printmagazin „Kultur & Gespenster“ vierteljährlich erscheinen. Der Themenschwerpunkt der ersten Ausgabe liegt auf Hubert Fichtes Schaffen, das Heft kostet 12 Euro.
Marc Degens, Satt.org 30.6.2006
www.satt.org/literatur/index.html
Bayern2
3. Juli 2006, 08:30
kulturWelt
Feuilleton
"Kultur & Gespenster" (1): Studiogespräch mit Gustav Mechlenburg über sein neues Magazin
Moderation: Knut Cordsen
Verbrecherversammlung
11.07.2006
Releaseparty
Kultur & Gespenster
Im Juli erscheint die erste Ausgabe des Literaturmagazins Kultur & Gespenster im Hamburger Textem Verlag. Am 11.7. wird das Heft erstmals in Berlin vorgestellt.
Kultur & Gespenster ist eine bundesweit agierende, in Hamburg, Buchholz, Berlin und München ansässige, (schmächtig (prächtig)) situierte aber/und reichlich studierte Kulturneigungsgruppe mit forciertem Gestaltungswillen.
Seit sechs Jahren umtriebig, zu diversen Volontariaten berufen, bewegen sich die Mitarbeiter in zahlreichen Realitäten und Zwischengeschossen: internationale Kunstszene, Möbelrestauation, Redaktionskoferenzen, Powerpointlibretti, Beweisführungen, Verlagswesen, Schirmherrschaften, soziale Praxis, Fördergeldszene, Merseburger Zaubersprüche, Theorie, Internetregatta, Büttenreden in erst- und zweitrangigen Ideologie- und Unterhaltungsstätten. Das Sammeln, Gruppieren, Registrieren und Befragen ist Kultur & Gespenster Passion und paralogischer Auftrag.
Im Vertrauen auf das kollegiale Unterbewusstsein, wünschen wir, mit der Inbrunst der schieren Unvernunft, der ersten Ausgabe des Magazins Kultur & Gespenster stabile Einfalt und edle Größe. Das Herz blinkt, die Seele springt - Gefühle hat man früh genug - Durst macht Erfolg - der Abend ist die schönste Jahreszeit: Kultur & Gespenster lesen!
Bei der Releaseparty am 11.7. auf der Verbrecherversammlung im Festsaal Kreuzberg (Skalitzer Straße 130, 10999 Berlin) lesen neben den Herausgebern Jan-Frederik Bandel, Nora Sdun und Gustav Mechlenburg auch Kathrin Röggla und Bernd Cailloux.
Und du verliebst dich ...
... in Kultur und Gespenster
Der Hamburger Textem-Verlag bringt im Juli die erste Ausgabe des neuen Kulturmagazins «Kultur und Gespenster» heraus, sie behandelt schwerpunktmässig Hubert Fichte. Es sollen «getrost sperrige und abwegige Themen» aufgenommen werden. Zu den Autoren gehören Kathrin Röggla, Gerd Schäfer oder Ulrich Gutmair. Neben einem Dossierthema will sich die drei bis vier Mal jährlich erscheinende Zeitschrift Neuerscheinungen rund um Kunst und Kultur widmen, eine besondere Aufmerksamkeit soll Kleinverlagen und der freien Kunstszene zukommen. In der Nullnummer wird des weiteren über die Hamburger Comicszene berichtet, daneben gibt es Interviews mit Alexander Kluge oder Dirk Baecker zu lesen. Ein besonderer Coup ist «Kultur und Gespenster» mit Christian Kracht gelungen, der jeweils eine fünfzehnseitige Modestrecke betreuen wird. Nein, nur ein Scherz.
Pascal Blum, Kommerz. Die Zeitung für elektronische Musik
Veröffentlicht: 10.06.2006
Börsenblatt
07.06.2006
"Kultur & Gespenster”
neues Magazin aus Hamburg
"Kultur & Gespenster” heißt ein neues Kultur-Magazin im Schnittpunkt von Literatur, Theorie und Politik, das ab Juli vierteljährlich im Hamburger Textem Verlag erscheinen wird.
Das Heft sei "dicker als die italienische Vogue, schwarz-weiß, Furcht einflößend intelligent und wichtigtuerisch”, merken die Herausgeber des Magazins, Jan-Frederik Bandel, Nora Sdun und Gustav Mechlenburg augenzwinkernd an. Vor allem wollen die jungen Blattmacher jedoch in jedem Heft einen inhaltlichen Schwerpunkt setzen – und scheuen sich dabei nicht vor gemeinhin als "sperrig” bezeichneten Themen .
Im Fokus der ersten Nummer von "Kultur & Gespenster”, die ab 1. Juli lieferbar sein soll, steht der Schriftsteller Hubert Fichte (Anmaßung, schönes Berichten und die Kosten der Unschuld). Weiterhin sind in Planung: Unter vier Augen – das Interview als Form (Band 2, Oktober 2006), Dokumentarismus – Inszenierung des Authentischen (Band 3, Januar 2007) sowie ein Dossier zu Georges-Arthur Goldschmidt (Band 4, April 2007).
Am 11. Juli wird das neue Projekt auf der monatlichen Verbrecherversammlung des Berliner Verbrecher Verlags im Festsaal Kreuzberg vorgestellt. Neben dieser "Gespensterversammlung” gibt es noch zwei Release-Party-Termine mit Lesungen und Musik: Am 15. Juli im Hamburger Kulturhaus 73 (mit Kathrin Röggla, Klaus Sander und Plokk) und am 21. Juli in der Berliner Kulturbrauerei (mit Jan Jelinek und Thomas Meinecke). nk
Börsenblatt 7.06.2006
6020 Stadtmagazin Innsbruck
Der Engländer Simon Wint schreibt ungewöhnliche deutsche Geschichten und ist damit äußerst erfolgreich.
Die meisten Schriftsteller wären wohl grün vor Neid, würden sie Simon Wint reden hören. Heute früh hat er während dem Frühstück schon ein paar Zeilen für seinen neuen Roman in den Laptop getippt. Und jene Kurzgeschichte, mit der er 2005 den FM4-Literaturwettbewerb „Wortlaut“ gewonnen hat, hat er „aus Spaß“ an zwei Abenden geschrieben und unkorrigiert kurz vor der Deadline abgeschickt. Als wäre das nicht schon beneidenswert genug, ist Simon Wint auch noch Teilhaber einer Werbeagentur, dreifacher Familienvater und nicht mal deutscher Muttersprache.
„Wenn ich könnte, würde ich den ganzen Tag schreiben,“ erzählt der 38-Jährige in beinahe perfektem Deutsch. Als er vor 13 Jahren von Nordengland nach Tirol kam, beherrschte er kein Wort unserer Sprache. Die Deutschkurse, die er besuchte, langweilten ihn bald. „Da saßen neunzehn Au-Pair-Mädchen und ich. Aber ich habe in dieser Zeit viel über das Plusquamperfekt und den Konjunktiv gelernt,“ lacht Wint. In seinem Beruf empfand er die fremde Sprache lange Zeit als Last. Als er schließlich den „Wortlaut“-Aufruf im Radio hörte, schrieb er spontan zum ersten Mal eine Geschichte auf Deutsch. Zuvor hatte er schon mehrere unveröffentlichte Romane, Kinderbücher und Drehbücher auf Englisch verfasst. Die FM4-Jury, der die Texte anonym vorgelegt wurden, staunte nicht schlecht, als herauskam, dass der Siegertext von einem nicht-deutschsprachigen Autor stammte. Wint: „Ich habe einfach ausgeblendet, dass ich nicht in meiner Muttersprache schreibe. Auf Englisch fallen mir alle Fehler auf. Deutsch zu schreiben ist verspielter. Da ist mir alles Wurscht.“
Der besagte Siegertext „Unter Uns“ thematisiert die Idylle und vermeintliche Sicherheit in Tirol. „Als ich nach Innsbruck kann, hatte ich das Gefühl, dass alles quietscht vor Sauberkeit. Hier kann man keine Alarmanlagen verkaufen.“ Im Moment arbeitet Simon Wint an zwei Romanen, die interessanterweise beide in England spielen. So ganz will er sich also noch nicht von seinen Wurzeln verabschieden. Neue Romane und Bücher seines Lieblingsautors Hanif Kureishi liest er nämlich immer noch auf Englisch. Trotzdem will er sich beim aktiven Schreiben nicht auf seine Muttersprache konzentrieren. Wint: „Ein befreundeter Autor hat mir geraten, meinen britischen Humor weiter auf Deutsch auszudrücken. Dadurch entsteht wohl die Einmaligkeit meiner Texte.“
Diese Einmaligkeit scheint auch der Hamburger Verlag Textem bemerkt zu haben, der seine Kurzgeschichte „Das falsche Meer“ veröffentlicht hat. Im Moment wird gerade einer seiner älteren Romane ins Deutsche übersetzt. Außerdem sitzt Simon Wint in der Jury von „Wortlaut 06“ und ist zum Bachmannpreis eingeladen. Für einen Poetry Slam hat er vor kurzem sein erstes Gedicht verfasst. Der Titel: „Knut und Marie.“ Wint: „Ich finde den Namen Knut total absurd. Wäre es Lautmalerei, würde der Name für mich das Kneten von Plastilin beschreiben.“ Hier ist wahrlich ein kreativer Kopf zugange.
6020 Stadtmagazin Innsbruck, Mai 2006
Buchmarkt
13. 6. 2006
Berlin: Neue Viertelsjahreszeitschrift aus dem Textem-Verlag
Am 3. Juli startet der Berliner Textem-Verlag mit Kultur & Gespenster ein neues Magazin für Literatur, Kultur, Theorie und Politik, das künftig vierteljährlich zum Preis von 12 Euro erscheinen soll (Auflage 2000 Exemplare). Der Redaktion: gehören Jan-Frederik Bandel, Nora Sdun und Gustav Mechlenburg (verantwortlich) an.
Das Magazin sei dicker als die italienische Vogue, schwarzweiß, Furcht einflößend intelligent und wichtigtuerisch, heißt es in einer Mitteilung des Verlags. Und weiter: „Mit Dossiers werden Schwerpunkte gesetzt, getrost auch solche, die als abwegig, sperrig, unvermittelbar gelten.“
Aus Anlass seines 20. Todstages ist der Themenschwerpunkt der ersten Ausgabe dem Schriftsteller Hubert Fichte gewidmet. Autoren, Künstler und Wissenschaftler befassen sich mit Fichtes Leben und Werk und seinem Einfluss auf die Gegenwartsliteratur und Kunst. Zum Beispiel entwickelt die Schriftstellerin Kathrin Röggla einen Anmaßungskatalog für „Herrn Fichte“. Der britische Germanist Robert Gillett rekapituliert polemisch die Debatte um Luftkrieg und Literatur und konturiert Fichtes politisch-ästhetische Position, während die Kulturwissenschaftlerin Anna Echterhölter die Beschreibungen Venezuelas bei Alexander von Humboldt, Hubert Fichte und Daniel Kehlmann vergleicht. Bebildert wird das Dossier mit bisher unbekannten Privatpolaroids, mit Bildern der Theaterfotografin Rosemarie Clausen, des Berliner Künstlers Christoph Keller und der Gruppe these.null, die das imaginäre Skulpturwerk des Autors dokumentiert.
Daneben enthält die erste Nummer unter anderem einen Aufsatz zu Josephine Baker, Interviews mit dem Soziologen Dirk Baecker und dem Schriftsteller Alexander Kluge, einen Comic von Sascha Hommer, eine Kunststrecke von Claus Becker und einen Reisebericht von Dirk Meinzer.
Gefeiert wird die erste Ausgabe in Berlin und Hamburg mit gleich drei Release-Partys. Die Termine:
11. Juli 2006: "Kultur und Gespenster"-Präsentation mit Kathrin Röggla und Bernd Cailloux, Verbrecherversammlung, Festsaal Kreuzberg, Berlin
15. Juli 2006: Release-Party, Schulterblatt 73, Hamburg
21. Juli 2006: Release-Party, NBI, Kulturbrauerei Berlin
KULTUR & GESPENSTER, ISSN 1862-8966, Heft Nr. 1: "Hubert Fichte", ISBN 3-938801-11-5, Umfang: 250 Seiten, Innen: s/w, außen: Farbe, Format: 166 x 230 mm, Auflage: 2000, Preis: 12 Euro
Informationen unter: www.kulturgespenster.de und www.textem.de
Theaterforschung
Magazin KULTUR & GESPENSTER
Art: Neugründung
Ort: Hamburg
Kontakt:
Jan-Frederik Bandel, Nora Sdun und Gustav Mechlenburg (Hg.)
www.textem.de
www.kulturgespenster.de
Quelle: Zusendung
Datum der Recherche: 16.06.05
Das Magazin KULTUR & GESPENSTER erscheint ab Juli 2006 vierteljährlich im Textem-Verlag und widmet sich literarischen,
kulturellen, theoretischen und politischen Themen. Mit Dossiers werden Schwerpunkte gesetzt, getrost auch solche, die als "abwegig", "sperrig", "unvermittelbar" gelten.
Themenschwerpunkt der ersten Ausgabe ist der Schriftsteller HUBERT FICHTE. Die Autorin Kathrin Röggla entwickelt einen Anmaßungskatalog für Herrn Fichte. Der britische Germanist Robert Gillett rekapituliert polemisch die Debatte um Luftkrieg und Literatur und konturiert Fichtes politisch-ästhetische Position. Mario Fuhse zeigt das Moment der Verwandlung als zentralen Impuls von Fichtes Schreiben auf. Mit den ethnografischen Arbeiten von Hubert Fichte und Leonore Mau setzen sich Ole Frahm und Ulrich Gutmair auseinander, und die Kulturwissenschaftlerin Anna Echterhölter vergleicht die Beschreibungen Venezuelas bei Alexander von Humboldt, Hubert Fichte und Daniel Kehlmann. Gerd Schäfer stellt, ausgehend von Hubert Fichtes nachgelassenem, jüngst erschienenem Roman Die
zweite Schuld, Überlegungen zu Heino Jaeger und einem "anderen Deutschland" an. Die Dramaturgin Anne Schülke schließlich collagiert wohlwollendes Gerede, Klatsch und Bekenntnisse. Bebildert wird das Dossier mit bisher unbekannten Privatpolaroids, mit Bildern der Theaterfotografin Rosemarie Clausen, des Berliner Künstlers Christoph Keller und der Gruppe these.null, die das imaginäre Skulpturwerk des Autors
dokumentiert.
Daneben enthält die erste Nummer unter anderem einen Aufsatz zu Josephine Baker, Interviews mit dem Soziologen Dirk Baecker und dem Schriftsteller Alexander Kluge, einen Comic von Sascha Hommer, eine Kunststrecke von Claus Becker und einen Reisebericht von Dirk Meinzer.
Das Heft ist ab Anfang Juli lieferbar und kann ab sofort (vor)bestellt und abonniert werden mit einer formlosen Mail an post@textem.de
KULTUR & GESPENSTER wird herausgegeben von Jan-Frederik
Bandel, Nora Sdun und Gustav Mechlenburg im Textem
Verlag (Hamburg)
ISSN: 1862-8966
Band 1: Hubert Fichte – Anmaßung, schönes Berichten
und die Kosten der Unschuld
256 Seiten, 12 Euro
ISBN: 3-938801-11-5
DIE KOMMENDEN BÄNDE:
Band 2: Unter vier Augen – das Interview als Form
(Oktober 2006)
Band 3: Dokumentarismus – Inszenierungen des
"Authentischen" (Januar 2007)
Band 4: Georges-Arthur Goldschmidt (April 2007)
Neben den Schwerpunktthemen finden sich in allen
Ausgaben Essays, Interviews, Gespräche zu Literatur,
Kunst, Comics, Theorie, je eine Bildgeschichte, eine
Kunststrecke, Rezensionen, Marginalien, Reiseberichte
usw.
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Volker Weidermann
»Thomas Mann wird in zwei Zeilen erledigt, Goethe bekommt sieben Seiten Lob. Klabunds Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde ist das subjektive Begeisterungsbuch eines echten Lesers, der Zusammenhänge entdeckt, dringend empfiehlt, einteilt, urteilt und verurteilt, wie es ihm gefällt. Keinen Professoren verpflichtet, keiner Schule und keiner Wissenschaft. Nur sich selbst.«
Volker Weidermann (FAS), »Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute«
Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde, 120 Seiten, kommentierte Neuauflage, mit einem Vorwort von Volker Weidermann (FAS), 8,50 Euro, Textem-Verlag 2006, ISBN 3938801107
Bestellen unter Literaturgeschichte in einer Stunde
Elektrisch: Carsten Klook im Stakkato seiner Jugend
1988, eine Plattenbausiedlung mitten im Mediengewitter: Nachrichten, Werbung, Videoclips. Der 28-jährige Bernd rekapituliert sein Leben. Natürlich geht es um den Vater: Der Vater korrigiert. Meistens Manuskripte, manchmal auch seinen Sohn. „Was nicht im Duden steht, das gibt’s nicht!“ stellt er unbeirrbar fest. Der Sohn muss sich ducken. Er flüchtet in die Musik und in die Krankheit. Lärmend ziehen die 1970er Jahre vorbei, mitsamt Schulstunden, unerfüllten Begehrlichkeiten und haufenweise Schallplatten. RAF, Led Zeppelin, Aktenzeichen XY: Die Realität beginnt, selbst für den Korrektor unübersichtlich zu werden. Liegt darin Bernds Chance? – Der Hamburger Autor Carsten Klook (geb. 1959) fasst seine Geschichte so zusammen, wie er sie erlebt hat: fragmentarisch, pulsierend und vom Beat harter Rockmusik durchzogen. Seinem Buch ist nichts nostalgisches zueigen. In kurzen, stark sprachspielerisch gehaltenen Kapiteln wird die Unübersichtlichkeit der Welt weder beklagt noch beklatscht, sondern schlicht konstatiert. Eiskalte Momentaufnahmen mit hohem Lautstärkepegel. (kuj)
Kieler Nachrichten, Mittwoch, 1. März 2006, Nr. 51
P*U*S*H* Magazin
Corinna Scheying
Am 3. Oktober 2005 fand im Westwerk in Hamburg die Release-Party zu Carsten Klooks erstem Roman „Korrektor“ statt, natürlich inklusive Lesung. In gemütlicher Bionaden-Atmosphäre schreitet Klook durch den kleinen Raum zum Podest, setzt sich und beginnt mit angenehmer Stimme zu lesen. Soweit alles entspannt. Doch so recht einlullen wollen mich die Worte nicht. Er spricht, ich verstehe Wörter, ich verstehe einige Sätze, aber wenige Zusammenhänge. Doch das sind nur Startschwierigkeiten. Bald finde ich mich in seinen Stil hinein, kann ihm besser folgen. Mir eröffnet sich, wie geballt Klooks Sätze verschachtelt mit Inhalten sind; verworren, grammatikalisch verdreht, abgekürzt, zerstückelt und neu zusammengesetzt ergeben Silben neuen Sinn, drehen sich im Kreis und bleiben letztendlich in doppelter oder vielleicht dreifacher Bedeutung stehen. Doch während ich über einen der zahlreichen Wortwitze lache oder einfach dem Klang eines Satzes nachhänge, die Gedanken weiter spinne und einzuordnen versuche, liest er vorne natürlich weiter, macht keine Pausen in denen ich das erstmal alles „sacken lassen“ kann. So verpasse ich ab und zu ganze Absätze, in denen neben mir herzlich gelacht wird. Macht aber nichts, denn ich finde selbst auch genügend witzige und interessante Passagen.
Mir wird jedoch klar: Dieses Buch muss ich selbst lesen, um es ausreichend verstehen zu können. „Korrektor“ ist ein Buch, das ich in meinen Händen halten muss. Manche Sätze muss man einfach langsam oder auch mehrmals durchgehen, manche Wörter gedruckt vor sich sehen: „Religion heißt Falten, was das Zeug hält, nochmal und nochmal, ordentlich, scharf- und weichkantig, in sich falten, einfältig, dreifältig, vielfältig im Zähfinger-System.“
Ich werde nicht enttäuscht: Dieses Buch bringt Spaß. Vielleicht nicht gerade, weil die Geschichte extrem spannend wäre, eher, weil sie so sprachverliebt, verspielt und lebensnah erzählt wird. Der Protagonist namens Bernd Skomovski, den wir durch seine Lebenserinnerungen im tristen Hamburger Stadtteil Billstedt begleiten dürfen, enthüllt entsetzliche Geschichten über seine Eltern, insbesondere über seinen Vater, der der „Korrektor“ ist. Von Beruf beim Axel Springer-Verlag. Aber nicht nur das: Auch privat, in seinen eigenen vier Wänden, bleibt er der Korrektor, der seinen Sohn mit Schnipseln aus dem Duden zum Untertan der deutschen Sprache taufen will. Seine Liebe äußert er mit „medikamentös unterstützter Fürsorge“ für den Jungen, der von einem chronischen Husten geplagt wird. „Hast du heute schon durchgehustet, hast du heute schon eine Tablette genommen?“, fragt der Korrektor täglich. Immer mehr festigt sich in Bernd das unschöne Selbstbild, dass er alles andere als die Idealvorstellung des perfekten Kindes ist.
Im Pressetext heißt es: „Der Roman ist ein Spiegel-Kabinett aus Zeit- und Nabelschau, eine Montage fataler Imagination und wütender Erkenntnis. Er zerlegt, was sich nicht mehr herstellen lässt – die Geschichte.“ Die Geschichte ist es also, worum sich diese Geschichte dreht. Bernd, jetzt 29 Jahre alt, erinnert sich an seine Kindheit in den 60er Jahren, an seine Pubertät, an seine Familie, an Lego-Steine, an seine Klassenlehrerin, an Planschbecken, an Oma und an Plattenbauten. Aber auch an seine Selbstzweifel und Ängste, die in die behütete Kinderzimmer-Welt eindringen. So spinnt sich eine Geschichte in entzückend heimeliger Atmosphäre, in der man sich hier und da sicher wieder findet.
Carsten Klook schreibt sehr individuell und mit spritzigem Humor. Der Roman ist voll von ausgetüftelten Sätzen, in der er die deutsche und englische Sprache zerlegt und eigenwillig neu formuliert. Trotzdem wirkt sein Stil nicht konstruiert, sondern flüssig und authentisch. Klook entscheidet sich gegen den Duden als Maß über Gut und Böse und zeigt, dass es sich auch mit spielerischer und assoziativer Sprache fehlerfrei, beziehungsweise „korrekt“, schreiben lässt.
CORINNA SCHEYING, Push Magazin pushmag.de , Februar 2006
Post-Pop
Betonwüstene Wohnghettos in Hamburg-Billstedt, Fürst-Pückler-Erinnerungen an frühe Iglo-Tage, unerlöste Klammer-auf-Klammer-zu-Schicksale" – und mittendrin Adoleszenten, die in englischen Pop-Musik-Zitaten denken und wenig Sex, aber dafür viel Drugs'n'Rock'n'Roll haben. Das Szenario in Carsten Klooks Kurzgeschichten und seinem Roman Korrektor ist allzu bekannt und daher immer wieder gern gehört.
Was die Regners und Goosens vorgemacht haben, es lässt sich in immer neuen Facetten noch einmal erzählen. Erinnerungsarbeit der Post-Pop-Literaten, die nach den immerhin noch halbwegs gegenwärtigen 90ern nun zwei Jahrzehnte vorher aufrollen und abschnurren. In die neue Stereo-Kultur-Bar Weltruf mit ihrem Retro-Charme eines englischen Pubs passt solche Vintage-Prosa freilich perfekt – eine schöne Premiere für die Lesungen, die regelmäßig dort stattfinden sollen. Und da passt es auch gut, dass Weltruf-Betreiber Jens Lause hernach die Prä-Popperin Hildegard Knef auflegt – übrigens von einem Sampler des Hamburger Labels "Marina Records" von Frank Lähnemann, dessen Roman Polyesterliebe den zweiten Teil der Lesung bestreitet.
Doch zurück zu Carsten Klooks Korrektor, einer Vater-Sohn-Geschichte, sich auflehnend aus der Kinderzimmerenge, wie man das in den 70ern eben tat. Wo Klook in seinen Kurzgeschichten recht konventionell durch Kneipen und abgestürzte Partys zieht, wortmetzt er im Roman mit jener (pop-) bildungshubernden Sprache des kulturbeflissenen Vaters, gegen dessen "Lernbelästigung" sich Sohn Bernd zu behaupten sucht. Manche Metapher ist da von preziöser Schönheit, manche aber auch von platter Gewähltheit: "Sprachlosigkeit ist der Hustensaft der Andersdenkenden", heißt es da. Und man sagt als Zuhörer: Na ja...
Kieler Nachrichten, 4. 2. 2006
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Volker Weidermann
Oh zack! und klong! und durchgetüftelt. Was wird denn da für ein Buch aus den achtziger Jahren herübergeschleudert zu uns, in unsere Gegenwart? Wie wird denn hier gewütet gegen die Sprache, gegen die Wörter, gegen die Grammatik der Geschichte? Carsten Klooks Roman "Korrektor" (Textem-Verlag, 200 Seiten, 18 Euro) ist der Bericht von einer plötzlichen Erinnerung. An eine Kindheit in Hamburg-Billstedt. Erinnerung als Protest gegen den Vater, den Korrektor, und dessen Lebensleitsatz: "Was nicht im Duden steht, das gibt es nicht." Dieser Roman beweist das Gegenteil. Die Wahrheit steht nicht im Duden. Die Wahrheit ist im Kopf und in der eigenen Sprache. Wörter sind beweglich. Das Leben plötzlich, gefährlich und gegen alle Regeln wahr.
VOLKER WEIDERMANN, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
11. 12. 2005
Lichtjahre, KiWi 2006; Klabund: Literaturgeschichte in einer Stunde, Textem Verlag 2006
GOLD Magazin
Fahrt ohne Rückspiegel
Martin Lechner: Bilder einer Heimfahrt
So gut wie nichts erfährt man in der Kürzestgeschichte Bilder einer Heimfahrt über „Karl”. Nur den Auslöser für den wackeligen Entschluss, zu seinem Vater zu fahren: auch Karl wurde, wie schon der Vater, von seiner Frau verlassen. Er muss wissen warum und fährt seinen Vater an. Der erhängt sich. Natürlich nicht nur wegen der Frau. Und eigentlich nur in Karls Phantasie. Am nächsten Morgen kommt er ins Haus spaziert, klopft sich den Schnee von den Schultern, und tut, als sei nichts passiert. Karl aber sieht ein unheimliches Spiegelbild in ihm, das er zu zertrümmern trachtet. Er sei kein „Gesellschaftstier”, sagt der Vater, nicht befangen, nicht trotzig, eher mechanisch. Das macht Karl noch wütender. Zeit, aufzubrechen. Wohin, überlegt er sich auf der Fahrt. Martin Lechner gelingt es, in einer nachdenklich stimmenden Sprache scheinbar Nebensächliches zu dramatisieren und ihm seinen Schatten zurückzugeben.
YASEMIN KAPLAN
Martin Lechner: Bilder einer Heimfahrt, Textem Verlag 2005, 18 Seiten, 2,50 Euro plus Versand über: heimfahrt(at)textem.de
Zündfunk
Thomas Palzer
Digitales Weltarchiv - Die Verwaltung von
Buchstaben, Bildern und Tönen
Archive schaffen im Chaos der Informationen Ordnung und Übersicht. Allerdings gilt auch die Bemerkung des Philosophen Peter Sloterdijk: "Für die wenigen, die sich noch in den Archiven umsehen, drängt sich die Ansicht auf, unser Leben sei die verworrene Antwort auf Fragen, von denen wir vergessen haben, wo sie gestellt wurden."
Ein ganz anders geartetes Archiv stellt Textem - Die Welt außerhalb des Netzes dar. Anders als perlentaucher- oder bluetenleser.de, die Verlagswelt, Presse, TV und Radio gewissermaßen für uns sichten und deren Angebot zu dreifingerbreiten Abstracts aufarbeiten, basiert Textem auf dem guten alten Feuilleton. Und auf der Erkenntnis, daß für jede Kultur nicht nur das Archiv konstitutiv ist, sondern auch das Vergessen. Bei Textem wird vorab entschieden, was des Besprechens überhaupt würdig ist: Popliteratur, Literatur, Philosophie, Ästhetik, Problemfilme, Lyrik, Kunst und der für das traditionelle Feuilleton inzwischen unvermeidliche Pop.
THOMAS PALZER, Import - Export, 14. Februar 2005
Thomas Palzer ist Redakteur beim Bayerischen Rundfunk. Im Herbst 2005 ist sein Roman "Ruin" bei Blumenbar erschienen.
LieteraTide
Buch des Monats
Das Buch, das ich diesen Monat empfehlen möchte, stammt von Carsten Klook und heißt „Korrektor“, erschienen im Textem-Verlag. Es beschreibt, grob gesagt, eine Jugend in den 60er und 70er Jahren im Hamburger Stadtteil Billstedt. Der Autor wurde 1959 geboren. Und ich verbinde mit der Szenerie, die dort beschrieben wird, sehr viel. Ich bin ungefähr im selben Jahrgang, plus/minus fünf Jahre, und erkenne einfach sehr, sehr viele Sachen wieder und glaube, dass es doch einige Leute gibt, die einiges von dem nachempfinden können, was der Autor dort beschreibt. Mir gefällt wirklich der Stil, der sehr schwer einzuordnen ist. Der Autor schreibt fragmentarisch, sehr subjektiv, assoziativ ... also, das macht Spaß ... man liest den Roman sehr schnell. Er hat ein ungeheures Tempo und einen ungeheuren Witz, wie ich finde. Also, der Buchtipp des Monats lautet: „Korrektor“ von Carsten Klook.
TORSTEN M. KROGH,
Radiosendung „LiteraTide“ auf Tide 96,0 vom 7. November 2005
Satt.org
Marc Degens
Das vortreffliche Internet-Popfeuilleton textem hat in diesem Jahr eine preisgünstige DIN A6-Reihe mit kurzen Erzählungen von männlichen Textem-Schreibern gestartet. Bislang erschienen vier verschiedene, teilweise fadengeheftete Broschüren. Sie sind zwischen 16 & 24 Seiten lang & kosten pro Stück 2 Euro (plus Versand). Anspieltip: Carsten Klooks Reiseerzählung "Senna!"
MARC DEGENS, Satt.org 2005
Literatur in Hamburg
Jürgen Abel
Schon Anfang der 90er Jahre hat Klook seinen Roman, der nun im Textem-Verlag erschienen ist, fertiggestellt, lange bevor in den Feuilletons jede zweite Kritik eines neuen deutschen Romans einem „Familien- oder Entwicklungsroman“ gewidmet war. Heute kann sein „Korrektor“ als früher Vorläufer der zahllosen Familiengeschichten, die gegenwärtig erscheinen, gelesen werden.
JÜRGEN ABEL, LitinHH Oktober 2005
-
Elbe Wochenblatt
Carsten Klooks Roman ist eine Montage fataler Imagination und wütender Erkenntnisse. Er zerlegt, was sich nicht mehr herstellen läßt – die Geschichte. Carsten Klook liest aus seinem Familienroman, der sich in den späten 80er Jahren, kurz vor dem Mauerfall, mit seinem Helden Bernd Skomovski auf eine sprachverliebte Erinnerungsspur bis zurück in die 60er Jahre begibt.