6. Dezember 2011

Running Time: 96 mins.

 

05:12

Auf dem Beifahrersitz liegen folgende Dinge: 
 1) Eine leere Mineralwasserflasche (Frizzante)

2) Ein Golftee (Grün)
 3) Eine ganze Toblerone (klein)
 4) Eine Handvoll Münzen (Euro)
 5) Eine DVD (Walt Disney’s „Das große Krabbeln“) 

Der Mann schiebt seinen Hintern am Sportsitz ein bisschen hin und her, greift zum Drehknopf und pfeift, als er sich etwas zurücklehnt. Er stellt den Rückspiegel ein, macht das Fenster auf und beobachtet, wie sein Kaugummi hinaus schießt und eine seichte Pfütze nur knapp verfehlt. Irgendetwas riecht nach Granny Smith Äpfeln. Er steckt seine Hand in das Türfach, findet aber bloß einen Kugelschreiber und ein paar verbrauchte Taschentücher. Das Letzte, das Allerletzte, das ihm Claudia gesagt hatte, als er sie im Dunkeln verließ war, Tu es nicht.

05:47

Sein Gesicht ist rot, wie nur ein Gesicht rot sein kann, das den ganzen Tag in der Sonne flucht und den ganzen Abend im Gasthaus hustet. Er ist Bauer, aber sehr gerne wäre er etwas Anderes—ein König, zum Beispiel. Jedenfalls jemand, der wenig arbeiten muss; jemand, der stets gut und variantenreich speist, jemand mit Pferden und Dienstleuten und einem gigantischen Bett, und ja, vielleicht sogar jemand mit einer Frau.

Das Morgenlicht findet nur mit großer Mühe seinen Weg in die Stube hinein. Zuerst muss es an den schlafenden Bäumen vorbei, deren dunkle Wipfeln schimpfen und kratzen, und hinter seinem Rücken flüstern. Danach wartet der Nebel, stur und misstrauisch, mit dem sich das Morgenlicht, egal ob es spät dran ist oder nicht, immer kurz und sinnlos unterhalten muss. Schließlich kommt das Stubenfenster, das mit seiner dicken Haut aus Staub und Fett und Spinnennetzen eher wie eine große Scheibe Graukäse aussieht. Der Bauer, der unter einer brennenden Glühbirne einsam in seiner Stube sitzt und Kaffee trinkt, mag Graukäse. 

05:51

Vorzugsweise klaut er dunkle Autos: Schwarz, dunkelblau, antrazit metallisé. Dieses hier, ein Seat Léon, ist weiß wie Aspirin. Er nimmt die Autobahn, bleibt bei unauffälligem Hundert/Hundertzehn, fährt zuerst in Richtung Salzburg, dann Berg hoch, am leblosen, kühlen Achensee vorbei, nach Norden. Spätestens in Bad Tölz wird er auf die Landstraßen wechseln, gegen sieben Uhr müsste er in München sein, dort kennt er jemanden. Die DVD, beschließt er spontan, wird er sich zum Spaß behalten. 

06:18

Er hasst Schwalben. Schwalben, so denkt er, sind nichts Weiteres als Parasiten, in etwa wie die Muscheln, die sich an manchen Walen ein Leben lang festhalten, ohne zu fragen. Er steht neben seinem Traktor, die Tür ist offen. Er raucht und beobachtet die Schwalben, die in seine Scheune rein- und rausfliegen und fröhlich quietschen, wie Volksschulkinder in der Pause. Der Bauer kratzt sich an jener namenlosen Stelle zwischen Achselhöhle und Schulterblatt. Für die Jahreszeit, denkt er, als er auf seine Gummistiefel spuckt, ist die Luft viel zu kalt. 

06:33

Manche Leute meinen, ein Seat sei in Wirklichkeit ein VW, bloß mit einem anderen Logo vorne drauf und zu einem deutlich günstigeren Preis. Spanisch. Auto emoción. Nett, wirklich, aber keines Wegs ein VW. Es ist die Kurvenlage, stellt er wieder Mal fest, in den Kurven macht sich der kleine Unterschied bemerkbar. Die Kurven und auch der Klang der Scheibenwischer. Der Mann hat die Landstraßen erreicht, der Nebel lichtet sich. 

06:48

Auf dem Feld liegen folgende Dinge: 

1) Eine leere Mineralwasserflasche (Frizzante)

2) Ein Golftee (Grün)

3) Eine halbe Toblerone (klein)
 4) Eine Handvoll Münzen (Euro)
 5) Eine DVD (Walt Disney’s „Das große Krabbeln“)
 6) Ein dunkelhaariger Mann in einem rosaroten Polohemd (bewusstlos)

Der Bauer fällt zuerst aus dem Traktor und dann auf seine Knie. Er schreit, Maria!, dreht sich zweimal dreihundertsechzig Grad, zieht mit beiden Händen an seinen schlappen Haaren, sagt leise, ach du Scheiße, und steigt wieder in den Traktor. Er fährt kurz rückwärts, auf das Feld, dann zurück zum Hof. Unter den dicken Reifen splittert und knistert die DVD-Scheibe wie frisches Zirbenholz am offenen Feuer. 

Als der Mann sich rührt, hört er den Traktor. Er denkt, Polizei. Sein Rücken schmerzt, er greift zu seinem Kreuz, seine Hand schmerzt. Es dauert Minuten, bis er es schafft, auf seine Seite zu rollen und schließlich so weit hochzukommen, sodass er an allen Vieren die kalte Erde unter seinen Händen spürt. Er schaut sich um. Seine Nase ist offenbar so groß wie ein kleiner Strandball geworden, denn sie pulsiert ganz gewaltig und blockierte ihm den Blick. Das Morgenlicht erwärmt sein Gesicht, die Toblerone klemmt zwischen seinen Zähnen, er holt noch einmal tief Luft. Das große Krabbeln fängt an.  

 

© Simon Wint 2009