19. November 2011

Eskalation

 

„So… wir machen mal weiter, wo wir beim letzten Mal stehengeblieben sind. Können Sie sich erinnern?“

„Nein.“

„Sie erzählten…warten sie…eine Sekunde…ich hab hier das falsche… (kramt auf einem kleinem, mit Zeitschriften und anderen Dingen überladenen Tisch neben seinem Sessel, findet schließlich ein Notizbuch, blättert darin)…also, sie haben laut meinen Unterlagen über den Urlaub mit ihrer Frau geredet.“

„Welchen Urlaub? Den letzten?“

„Das nehme ich an.“

„Wieso?“

„Ich denke, sie haben das erwähnt. Das verlängerte Wochenende in der Bourgogne.“

„Nein, ich meine, wieso habe ich überhaupt über den Urlaub geredet? Bringt mich das irgendwie weiter?“

„Nun, wenn sie sich erinnern: Wir hatten uns entschlossen, zunächst die Phase unmittelbar vor der Trennung von ihrer Frau aufzuarbeiten. Ich denke, es ist wichtig, zu verstehen, was passiert ist...und sich erst dann dem….den Gründen zuzuwenden?“

„Gründe?  Sie meinen, es gibt mehrere? Da sind sie auf dem Holzweg. Da gibt es glasklar nur ein einzigen.“

„Ja…das mag aus ihrer Sicht so stimmen. Erfahrungsgemäß ist es aber…“

„Nicht nur aus meiner Sicht. Das ist objektiv so.“

„….“

„….“

„Gut, ich denke dennoch, dass wir uns noch einmal mit diesem Wochenende in der Bourgogne befassen sollten. Vielleicht erzählen sie einfach einmal, wie dieser Urlaub vonstatten gegangen ist.“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen.“

„Tun sie’s trotzdem.“

(seufzt) „Also gut. Wir sind da hin. Mit dem Auto, meine ich. Ein paar Stunden Fahrt, keine Probleme soweit. Ganz schön eigentlich. Irgendwann kamen wir in diesem Ort an…Vezenet…Vezelet…keine Ahnung, wie das Kaff hieß. Ein winziges Städtchen. Auf einem Hügel gelegen. Kleine Läden, kleine Restaurants, lauter Frösche in den Läden und in den Restaurants. Und in den kleinen Gässchen. Wir kamen da an und sind erst mal zu diesem Hotel, das sie ausgesucht hatte.“

„Mit Frösche meinen sie Franzosen?“

„Natürlich.“

„Ihre Frau hat das Hotel ausgesucht?“

„Immer. Bei uns hat sich Céline um diese Sachen gekümmert. Das musste alles immer hübsch geplant sein. Bloß keine Überraschungen. Ich meine, nicht dass ich Überraschungen liebe. Ich hasse Überraschungen. Wenn ich es recht bedenke, hasse ich sowohl Überraschungen als auch die Abwesenheit von Überraschungen.“

„…“

„…“

„Gut, sie kamen also im Hotel an. Ein schönes Hotel?“

„Das Hotel war gut, absolut. Klein, idyllisch, mit einem Innenhof, in dem ein Baum rumstand. Mittelalterliche Bausubstanz, aber innen total durchrenoviert. Das hatte natürlich seinen Preis. Das habe ich später gemerkt. Diese verfluchten Froschfresser haben meine Karte radikal leergeräumt, das kann ich ihnen sagen. Aber gut, egal…war ja Urlaub.“

„Sie haben eingecheckt, haben ihre Sachen auf ihr Zimmer gebracht, nehme ich an, und dann? Wie ging es weiter?“

„Sie wollen wirklich eine minutiöse Darstellung? Soll ich das jetzt alles eins zu eins nacherzählen? Wozu? Wegen diesem Scheiß-Trip hat sie mich nicht verlassen.“

„Das glaube ich ihnen, Herr Stremmer.“

„Und warum dann dieses Rumhacken auf der Bourgogne, wenn ich fragen darf? Céline ist abgehauen, weil diese Idiotin sich  verliebt hat – und zwar nach dem Urlaub. Ein totaler Langweiler. Gott, was für ein Langweiler.“

„Mir geht es gar nicht so sehr um ihre Frau. Ich denke, wir sollten herausfinden, wie sie sich gefühlt haben in ihrer Beziehung. In der Spätphase ihrer Beziehung. Es geht hier um sie, Herr Stremmer. Und aus diesem Grund fände ich es schön, wenn wir versuchten, diese letzten Tage mit ihrer Frau ein wenig genauer zu betrachten. Was passiert ist, was zwischen ihnen passiert ist.“

„Zwischen uns ist gar nichts passiert. Ich meine, nur das übliche. Es gab keinen Streit oder so. Ich denke, es war alles halbwegs ok.“

„Als sie in ihrem Zimmer waren. Was haben sie dann getan?“

„Was glauben sie? Dass ich erst einmal ganz romantisch über sie hergefallen bin? In diesem tollen altmodischen französischen Bett?“

„Das wäre eine Option.“

„Aber nicht meine…Nicht unsere…Wir haben die Koffer abgestellt und sind gleich wieder raus. Schön die kleinen Gässchen abklappern. Es war ja schon beinahe Abend und da waren jede Menge Restaurants. Ich glaube, wir sind bestimmt eine Stunde durch die Gegend getrottet, bis wir uns schließlich für eines entschieden hatten. Ein ultrafranzösischer Laden, aber mit leichtem Bio-Anstrich. Das kommt da ja jetzt auch: Weine aus ressourcenschonendem Anbau, Fleisch von freiwillig verstorbenen Kälbern, usw. Aber ansonsten, wie gesagt, französisch bis ins Mark. Die Käseauswahl im fünfzehnten Gang kam auf einer Art Teewagen herangerollt.“

„Haben sie das Essen genossen?“

„Ja…das war in Ordnung. Allerdings sind mir Genüsse insgesamt fremd.“

„So?“

„Ja.“

„…“

„…“

„Über was haben sie sich mit ihrer Frau unterhalten? Können sie sich noch erinnern?“

„Oh Gott…Ich glaube, ich konnte mich selbst während des Gesprächs nicht erinnern.“

„Aber sie haben geredet?“

„Klar. Wir haben immer geredet. Das heißt, bei uns war das eher so: Erst hat sie etwas erzählt, was mich nicht die Bohne interessierte, von ihrem Job, zum Beispiel, und dann habe ich mich mit einem Vortrag über…was weiß ich…Fußball...revanchiert. Dann wieder sie, dann wieder ich. Aber gut, ich stelle das vielleicht im Nachhinein zu negativ dar. Auf jeden Fall haben wir uns unterhalten. Wissen sie was: Diese Pärchen, die irgendwo sitzen, im Restaurant oder so, und die eine halbe Stunde lang keine Mucks von sich geben. Diese Leute werden ja im Allgemeinen bemitleidet. Alle sagen: Oh Gott, wie schrecklich! Schaut nur, die haben sich ja überhaupt nichts mehr zu sagen. Die sitzen da nur noch schweigend in der Ecke und mampfen. Aber ich sage: beneidenswert! Ich beneide die. Wie herrlich ist es, irgendwo  einfach was zu essen und dabei nicht andauernd quasseln zu müssen. Wie erholsam.“

„Finden Sie.“

„Finde ich.“

„Aber wäre es dann nicht besser, gleich allein zu essen?“

„Natürlich wäre das besser. Das wäre quasi der Königsweg. Aber wenn sie im Urlaub sind, wenn sie mit ihrer Frau in einem kleinen romantischen Restaurant in einer romantischen, hochgradig französischen Stadt herumsitzen, ist das keine Option, verstehen sie.“

„Das verstehe ich.“

„…“

„Wie würden sie die Stimmung zwischen ihnen beschreiben?“

„Entspannt. Die Stimmung war ok. Wir haben Scherze gemacht über die anderen Leute in dem Restaurant.“

„Sie würden sagen, dass zu diesem Zeitpunkt alles in Ordnung war zwischen ihnen? Hatten sie so ein Gefühl?“

„In gewisser Hinsicht schon. Andererseits: Mit Frauen kann einfach nicht alles in Ordnung sein. Das sind immer nur…Annäherungen. Aber wahrscheinlich haben sie Recht… an dem ersten Abend in Vezelay gab es nicht viel herumzumeckern. Das war völlig in Ordnung.“

„Nach dem Restaurant, was passierte danach?“

„Wieder ein wenig durch die Gassen. Wir haben irgendwo noch einen Whiskey getrunken. Aber dann machte da auch schon alles zu und wir sind zurück zum Hotel.“

„Und dann?“

„Wie ‚und dann‘? Nach zweiundzwanzig Gängen, zwei Flaschen Rotwein, von denen ich mindestens zwei Drittel hatte, und dann noch Whiskey?...Ich meine, wozu sind Langzeitbeziehungen da? Haben sie darüber schon einmal nachgedacht? Warum gibt es diese Hölle eigentlich? Meine Antwort ist: wegen solcher Abende. Damit nach einem solchen Abend einfach nichts passiert. Das geht nur in Beziehungen. In langjährigen Beziehungen…Oh Gott, wenn ich daran denke, was mir jetzt wieder bevorsteht.“

„Sie sind also ins Hotel zurückgekommen und haben sich sofort schlafen gelegt.“

„Exactement.“

„Denken sie, dass ihre Frau eventuell etwas anderes erwartet hat?“

„Ich dachte, es geht hier um meine Gefühle?“

„Das tut es.“

„Was interessieren dann die Erwartungen von Céline?“

„Erwartungen, speziell solche, die sich nicht erfüllen, können Gefühle auslösen. Auf beiden Seiten.“

„Das ist wahr. Aber, wie ich eben schon sagte, genau aus diesen Gründen hat Karl Marx die Langzeitbeziehung erfunden. Das Wort Ehe ist eigentlich griechischen Ursprungs und bedeutet grob übersetzt: Ohne Sex einschlafen und zum Ausgleich auch ohne Sex wieder aufstehen…und sich nicht mehr darüber wundern. Ich meine, Herrgott, sind sie nicht auch verheiratet? Sie wissen doch selber, wie das läuft. Eine Beziehung, die länger als… 5 Tage dauert, verändert ihren Charakter. Ihre Funktion. Ein gute, eine ideale Langzeitbeziehung definiert sich dadurch, dass man vergisst, dass es so etwas wie Sex, wie Frauen oder so, dass es das überhaupt gibt. Wenn man das vergessen hat, ist man glücklich verheiratet.“

„Waren sie glücklich verheiratet?“

„Ja.“

„War ihre Frau auch glücklich verheiratet?“

„Meine Frau war nicht verheiratet.“

„…“

„…“

„…“

„…“

„Hören sie, tut mir Leid für das. Ich weiß, ich sollte etwas konstruktiver sein.“

„Konstruktiv… Offen, ich würde sagen, sie sollten sich bemühen, sich vielleicht etwas mehr zu öffnen.“

„Ich bin offen.“

„Sind sie das? Sind ihre Gedanken von eben das einzige, was sie zu diesem Abend in… wo war das?“

„Vezelay. Diese Franzosenstadt hieß Vezelay.“

„Also, ist das wirklich alles, was in ihnen vorgeht, wenn sie an diesen Abend in Vezelay denken? Immerhin haben sie mir ja schon geschildert, dass ihre Frau sie unmittelbar anschließend, direkt nach diesem Urlaub, verlassen hat. Denken sie manchmal, sie hätten das verhindern können?“

„Also, zunächst einmal…nur für´s Protokoll: Ich denke ständig eine Million Sachen gleichzeitig. Verstehen sie, in meinem Kopf hämmern etwa hunderttausend Gehirne nebeneinander. Und das ist das Problem. Sehen sie meinen Kopf? Er ist nicht größer als ihrer….Eher kleiner, würde ich sagen. Behaarter, aber durchaus kleiner. Also, hunderttausend Gehirne in einem relativ normalen Nicht-Wasserkopf – was bedeutet das? Richtig, diese Hirne müssen winzig sein. Hier (fasst sich an die Stirn) sind Tausende von Lurchgehirnen vernetzt. Lurche sind nicht besonders schlau. Und zehntausend Lurche zusammen sind genau so schlau wie einer. Meine Frau war mit zehntausend Lurchen verheiratet und kein einziges von diesen Viechern hätte jemals verhindern können, dass meine Frau irgendwann einmal davon genug haben würde. Das war ohnehin klar. Warum sollte ich also noch darüber nachdenken, wie genau es dazu gekommen ist. Verstehen sie? Da gibt es nicht viel zu verstehen. Was ich brauche sind ein paar Tipps für jetzt. Praktische Sachen.“
„Tipps? Warum meinen sie, dass sie jetzt Hilfe brauchen.“

„Warum ich Hilfe brauche? Ist das nicht offensichtlich? Haben sie das nicht gelesen, was ich ihnen letzte Woche gegeben habe? Nee, war sogar schon vorletzte Woche.“

„Sie meinen ihren Text?“ (wirft einen Blick auf den Zeitschriften- und Bücherstapel auf dem Tischchen neben sich)

„Ja, genau: ‚Tag 54‘. Haben sie den Scheiß jetzt endlich gelesen?“[1]

„Nein.“

„Sie haben das Ding nicht gelesen? Scheiße, warum nicht? Wofür bezahle ich sie eigentlich? Ich meine, sind sie jetzt mein Agent oder nicht?“

„Wie würden sie den Inhalt dieses…‘Fragments‘…zusammenfassen? Warum glauben sie, dass ich das unbedingt lesen sollte?“

„Weil da drin steht, warum ich hierherkomme, herrgottnochmal.“

„Sie haben aufgeschrieben, warum sie hierherkommen? Versuchen sie einmal, die Gründe zu beschreiben.“

„Morgendliches Zittern, Weinattacken, dann rasch eintretende Abstumpfung (Stimme nimmt einen leiernden Tonfall an), hysterische Sportanfälle, Zigaretten-, Alkohol-, Lebensmittel-, Drogen-  sowie Wetter, Pflanzen und Bazillen und Molekülmissbrauch, fanatische Fahrradanfälle, Thai-Massagesucht… berufliche Demotivation, sexuelle De- und Übermotivation, Unterhaltungen mit Hunden am Straßenrand, Unterhaltungen mit Katzen am Straßenrand, sprechendes Obst, zappelnde Kühlschränke…spionierende Topfpflanzen… Das sind einige der Gründe, warum ich herkomme und ihnen Franken in ihren obszönen Rachen stopfe.“

„Hrrmm (räuspert sich)…nun…eine sehr interessante Auflistung…Aber sind sie nicht eigentlich hier, weil ihre Partnerin sie verlassen hat und sie Wege suchen, das zu verstehen und zu verarbeiten?

„Nein, deswegen komme ich absolut nicht hierher.“

„Nein?“

„Nein.“

„Warten sie…(beginnt wieder, in seinem Notizbuch zu blättern, klappt es dann aber zu)…Ich kann mich erinnern, dass wir bei ihrem ersten Besuch genau diese Zielsetzung festgelegt haben.“

„So, hatten wir?“

„Ja.“

„Ich bin also in diese Praxis marschiert und habe ihnen verkündet, dass ich beabsichtige, hunderte, nein tausende von Franken zu verbrennen, Franken, die mir meine Versicherung selbstverständlich  nicht erstatten wird, nur um mit ihnen zu klären, warum Céline sich aus dem Staub gemacht hat? Sind sie sicher, dass sie mich nicht verwechseln? Ich meine, von meiner Sorte laufen dort draußen Millionen herum. Billionen von Larven, die tagtäglich in ihre Büros kriechen. Ich sage ihnen, ohne mein tolles Frühstücksritual am Vormittag hätte ich schon lange den Löffel abgegeben. Ich mische jetzt Koks mit Sojamilch, und kippe mir alles übers Müsli, dann lasse ich das Müsli quellen und gehe währenddessen joggen. Sehr gut für die Verdauung. Sehr sehr gut...und neulich fahre ich mit einem der Trader in den Fünften, dort wo die ihre Verbrechen begehen und wo die Geschäftsleitung sitzt. Er sagt: Stremmer, Du siehst Scheiße aus. Ich sage: Na und? Er: Was ist los? Ich: Frau abgehauen. Er: Das ist alles? Ich: Ich hasse meinen Job. Er: Du arbeitest? Ich: Keine Ahnung. Er: Ich: Er:….Ich meine, verstehen sie?“

„Offen gestanden nicht.“

„Was ich sagen will ist: Klar, Céline ist weg. Das ist unter gewissen Gesichtspunkten nicht schön. Aber das ist nicht der Grund, warum ich hier bin, warum ich einige kleinere Problemchen habe. Ich würde eher sagen, der Abschied dieser gottverdammten Zicke ist ein weiteres Symptom, eines unter vielen, aber nicht die Ursache.“

„Können sie andere…Symptome…beschreiben?“

„Aber sicher. Also, warten sie…Scheiße, es gibt Millionen davon. Ich meine…haben sie schon mal versucht, Gurken zu rauchen? Eingelegte Gurken. Diese verdammten Cornichons? Oder sie gehen zur Arbeit und auf einmal riecht alles nach Zwiebeln. Zwiebeln, Gurken, vielleicht will mir das Schicksal damit etwas sagen? Oder ich laufe durch die Stadt und ich höre all diese Stimmen und all diese Sprachen und dann kriege ich so einen Sprachen-Koller.“

„Sprachen-Koller?“

„Na ja, sie wissen schon: Genf, die Sprachen, dieses ganze gottverdammte Chaos. Ich meine, wenn ich nach Babylon gewollt hätte, wäre ich dorthin gezogen, oder? Aber ok, was soll’s? Auf jeden Fall habe ich Symptome wie Sand am Meer. In meinen Zellen gluckert Symptomwasser. Ich bin eine Figur aus einem von Céline’s superintelligenten Träumen.“

„Ihre...diese Symptome, wie sie es nennen, hatten sie die schon, als ihre Frau noch bei ihnen war?“

„Natürlich. Das war damals sogar noch schlimmer als jetzt.“

„Ach ja?“

„Sicher. Weil ich jetzt mehr trinke. Grob geschätzt sind 50% bei uns Symptomtrinker.“

„Was ist ein Symptomtrinker?“

„Das sind Leute, die, wenn sie nicht ab und zu therapeutisch einen Alkoholteich auslöffeln, durch die Gegend spazieren und anderen Leuten die Kehle herausbeißen würden. Oder die Rue du Rhone brandroden, diese scheißteuren Boutiquen dort. Die sich in die gottverdammten Range Rover ihrer Frau setzen, sich dann in aller Ruhe die Sportnachrichten anhören, um schließlich mit 150 über den Quai Gustav-, Scheiße, wie heißt das Ding?...“

„Meinen Sie den Quai Gustav-Ador?“

„Exactement. Die mit 250 Sachen über den Quai Gustav-Froschauge-Ador straight in den See krachen würden. Diese Leute sedieren sich mit Alkohol. Zum Beispiel mit Alkohol.“

„Und sie zählen sich auch dazu?“

„Wozu?“

„Zu der Gruppe der Symptomtrinker.“

„Selbstverständlich.“

„Könnte es sein, dass ihre Frau damit ein Problem gehabt hat?“

„Meine Frau hatte mit allem ein Problem.“

„Aber damit im Speziellen?“

„Womit jetzt? Mit den Symptomen oder mit dem Trinken?“

„Vielleicht mit beidem?“

„Mit den Symptomen kann sie gar kein Problem gehabt haben, denn höchstwahrscheinlich – darauf bin ich neulich erst gekommen – war sie selber eins.“

„Ihre Frau war ein Symptom?“

„Das kann und will ich nicht ausschließen.“

„Nun, das dürfte sie anders gesehen haben.“

„Das kann und will ich nicht ausschließen.“

„...“

„...“

(eine altmodische, aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende stammende Wanduhr schlägt  den Ton zur halben Stunde. Danach kehrt wieder Ruhe ein) „Also...ich denke…ich denke,  wir sollten uns nochmal auf wenig ihren letzten gemeinsamen Urlaub konzentrieren. Den in der Bourgogne.“

 

 

Ende

 

 

 

 

 



[1] „Tag 54“, Textfragment, Mai 2011, unveröffentlicht:  „Dieses Blau sehen, mit noch geschlossenen Augen. 8:07, Sonntag, Aufstehen. Sofort auf den Balkon gehen und ihre Pflanzen gießen. Bereits den Sommer riechen. In der Küche das Radio einschalten. Jemand sprechen lassen. Kaffee kochen. Frühstück machen. Mit dem Kaffee und den anderen Sachen  zum Schreibtisch gehen. Den Laptop hochfahren. Dasitzen. Einen Schluck Kaffee nehmen. Das Ding beim Hochfahren beobachten. Essen. Passwörter eingeben. Eine Menge Optionen nicht bemerken. Irgendwas suchen. Wochen alte Emails lesen. Wochen alte Emails nochmal lesen, aber nicht löschen. Meine Antworten anschauen. Weiteressen. Dem Mann im Radio in der Küche zuhören.  Vom Büro aus den Mann im Radio in der Küche nicht wirklich verstehen.

 

Eine Stunde später, oder zwei oder drei Stunden später, hinunter nach Bout du Monde laufen. Die erste Runde drehen, am Ufer der Arve. Auf einem Rasenstück eine Bikini-Frau in der Sonne liegen sehen. Runde zwei, Runde drei, in jeweils acht Minuten Abstand gierig ihre Rückseite betrachten. Bemerken, dass sich ihre Position nicht verändert hat. Sie für eine Tote halten.  Sich nach der Wirkung von Sonne auf tote Haut fragen. Die Haut meines Arms prüfen. Ein Insekt ausspucken. Schweiß in die Augen rinnen lassen. Irgendetwas anderes aus der Nase rinnen lassen. Es gut finden, momentan solche Probleme zu haben. Einen Jogger, der mir entgegenkeucht, nicht grüßen. Den nächsten Jogger grüßen. Runde  vier drehen. Aus dem Augenwinkel beobachten, wie sich die Frau aufrichtet. Ihr Alter taxieren. Sie älter als ihren Körper finden, aber noch nicht zu alt. Den Lauf abrupt beenden, hingehen und ein Gespräch beginnen. Über das Wetter. Über den Frühling. Über das glühende Stück Kohle hinter meinen Augen. Über den Mann im Radio. Sie zum Lachen bringen. Dann ganz leicht, nur mit den Fingerkuppen den Saum ihrer Bikinihose entlangfahren. Ihr dabei zuschauen, wie sie mir dabei zuschaut. Das alles nicht tun. Runde fünf beginnen. Die Energiezufuhr vom Frühstück vollständig aufbrauchen. Reserven angreifen. Die Reserven hinter den Reserven angreifen. Wie ein Irrer auf irgendwelche Hormone warten.

 

Wieder vor dem Rechner sitzen. Noch nicht duschen gehen. Am Stuhl kleben. In die Tastatur tropfen. Den Nachmittag beginnen.  Den ersten Teil des Tages verabschieden. Generell: Tage in Teile zerlegen. Die Teile vergleichen. Eine neu eingetroffene Email bemerken, aber nicht lesen, aber trotzdem eine Antwort schreiben. Sich  immer verrückter fühlen. Den ersten Alkohol-Hunger ignorieren. Wissen, dass das nicht mehr lange klappen wird. Vom Rechner aufstehen und ins Bad gehen. Unschlüssig vor der Badewanne stehen. Durch den milchigen Duschvorhang starren. Dann sogar wirklich duschen. Salz von der Haut spülen. Hautprozesse registrieren. Den eigenen Körper objektiv bewerten. Haare waschen. Jetzt sauber sein. Vor dem Spiegel stehen. Gar keine Meinung mehr haben. Ein Gesicht, ein Oberkörper – das so weit normal finden. Mit Zahnseide normale Zahnzwischenräume leerräumen. Das Leergut auf dem Faden anschauen und dann beinahe essen. Den Faden in die Toilette werfen. Nicht spülen.

 

Im  Rechner Nachmittagsoptionen checken. Mich für eine leichte Form von Prostitution noch nicht ganz entscheiden. Nachrichten lesen. Nachrichten nicht interessant finden. Gar nichts interessant finden. Sich deswegen einem Anfall nähern. Diesen abwenden. Eine Nummer wählen. Einem Freizeichen zuhören. Einer Stimme lauschen. Etwas antworten. Sich beim Antworten belauschen. Eine wildfremde Frau mit fremdländischem Akzent ist bereit, mich in kaum zwei Stunden zu empfangen – sich darüber freuen. Allerdings Unwohlsein wegen der Warterei empfinden. Zwei Stunden plötzlich als sehr lange Zeit empfinden. An die Zeit denken, die beginnt, wenn die Zeit, die nach den zwei Stunden kommt, vorüber ist. Den kommenden Anfall jetzt deutlich spüren. Daher endgültig vom Rechner aufstehen. Herumwandern im Apartment. Über das  Apartment nachdenken. Sich das sofort verbieten. Plötzlich Liegestütze pumpen. Danach heftig atmen. Wieder auf die Uhr schauen. Vier Minuten und siebenundzwanzig Sekunden als absolviert verbuchen. Einhundert fünfzehn Minuten und dreiunddreißig Sekunden als Herausforderung begreifen. Überhaupt nichts begreifen. An mein Fahrrad denken. Das Fahrrad als Lösung identifizieren. Etwas anziehen. Die Schlüssel in die Hosentasche stecken, die Zigaretten in den Rucksack, dieses Buch, den Fotoapparat. Sich über den Fotoapparat wundern. Ihn trotzdem im Rucksack lassen. Eine Reihe einfacher Entscheidungen treffen. Davon ermutigt die Wohnungstür öffnen. Im Dämmerlicht des Hausflurs auf den Aufzug warten. Hinunter in die Garage fahren. Mein Fahrrad sehen. Es begrüßen. Über die Tiefgaragenrampe nach draußen schießen. Auf die Straße einbiegen. Nicht einmal die vage Idee eines Ziels haben. Deswegen erneut an die Nutte denken. Die Fahrzeit zu ihr überschlagen. Sich beruhigen. Halb beruhigt herumfahren. Den Anfall im Hintergrund spüren. Sich nicht darum kümmern. Stattdessen den warmen Fahrtwind genießen. Den glatten Asphalt genießen. Die Arbeit der Muskeln. Alles gut finden, was momentan passiert. Einhundertzehn Minuten später vor einer schmucklosen Wohnungstür  stehen. Auf dem Klingelschild „Studio Lanna“ lesen. Diesen Namen als professionell erachten. Den Zeigefinger in slow motion Richtung Klingel schweben lassen. Den Knopf berühren. Auf einen Blitzschlag warten. Einen Blitzschlag nicht empfangen. Trotzdem die Klingel betätigen. Zehn Sekunden verstreichen lassen. Überhaupt nichts gegen die Warterei einzuwenden  haben. An der Wohnungstür lauschen. Nichts von drinnen hören. Nochmals schellen. Mit dem Scheitern der Mission rechnen. Sich zum Weggehen fertigmachen. Die Herzfrequenz  herunterdimmen.  Sich umdrehen. Sich nochmal umdrehen, damit praktisch eine 360°-Drehung vollziehen. Durch den Türspalt ein skeptisches Gesicht erblicken. Etwas sagen. Etwas hören. In eine fremde Wohnung eintreten.  Eine Massage-Wohnung unter die Lupe nehmen. Ein Zimmer betreten. Im Zimmer allein sein. Aus anderen Zimmern Frauenstimmen hören. Ein Glas Wasser gereicht bekommen. Das Wasser trinken. Eine „Entspannungsmassage“ bestellen. Und  bezahlen. Sich beinahe vollständig entkleiden. Sich auf einen Futon legen. Asia-Esoterik-Musik plötzlich wahrnehmen. Hände auf meinem Rücken spüren. Die Hände in einem medizinischen Sinne geschickt finden. Deswegen beinahe wegdämmern. Wieder aufmerksam werden. Veränderungen bemerken. Einen Mund zwischen Schulterblättern spüren. Solche Dinge geschehen lassen. Eine oder mehrere Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Sich aufgrund dessen irgendwelche Gedanken machen. Diese Gedanken verdrängen. Halb erregt nicht bei der Sache sein. Das gut finden. Die Situation als solche annehmen. Auf ihr Geheiß sich umdrehen. Den Busen dieser Frau studieren. Die Frau meine Hand auf ihre Brust legen lassen. Diese Geste als ungewöhnlich bewerten. Ihr ernstes Gesicht betrachten. Der Musik folgen. Verschiedenes fühlen.

 

Auf dem Fahrrad durch die Gegend fahren. Wieder schwitzen. Die Temperatur schätzen. Durst haben. Bei einem Café am Fluss haltmachen. Mich in die Sonne setzen. Das Grün des Wassers als Flaschengrün klassifizieren. Deswegen eine Flasche Bier bestellen. Auf das Bier warten. Das Bier erhalten, bezahlen und in mich hineinlaufen lassen. Gutgebaute Burschen von der Pont de Sous-Terre in den Fluss springen sehen. Plötzlich auch schwimmen wollen. Neue Bierschlucke nehmen. Dem Kellner ein Zeichen geben. Den Kreislauf von neuem beginnen. UV-Licht mit der Sonnenbrille filtern. Dem Gespräch vom Nachbartisch lauschen. Sich an die Frau von eben erinnern. Den Versuch einer Interpretation der bisherigen Ereignisse anstellen. Infolgedessen ein neues Bier ordern. Auf die Wirkung des ersten warten. Die Augen hinter der Sonnenbrille schließen. Die Sonne auf meine Haut brennen lassen. An die Fische unten im Fluss denken. Deren Probleme imaginieren. Mit meinen Problemen vergleichen. Das zweite Bier in Empfang nehmen. Dem Bier danken. Der Sonne danken.

 

Immer weiter durch die Stadt fahren. Fünf Biere in mir spüren. Der Sonne unterzugehen erlauben.  Im Parc des Bastions irgendwie anhalten, das Rad umkippen und mich auf den Rasen fallen lassen. Zwei junge Frauen in der Nähe bemerken. Ihr französisches Lachen hören. Auf dem Rücken liegen und in den Himmel starren und die Sonnenbrille abnehmen und weiter in den Himmel starren. Den Hunger ignorieren. Ein Vibrieren in der Hosentasche spüren. Das Handy herausziehen. Eine SMS lesen. Schlagartig ausnüchtern. Allerdings noch Zigaretten besitzen. Sofort rauchen. Eine der Frauen beim Aufstehen beobachten. Die Frau beim Auf-mich-Zukommen beobachten. Sie gut finden. Sie, als sie bei mir ist, absichtlich nicht verstehen. Ihr zwei Zigaretten geben.

Mich wieder auf den Rücken legen. Die neue Farbe des Himmels bewundern. An Sachen denken. Die Augen schließen. Sauerstoff aufnehmen. Blut in die Kapillaren transportieren. Es von dort wieder abholen. Ihm zuhören. Den Übergang zum Traum verpassen.