19. November 2011

Detail und Zusammenhang

 

Ob nun als Geschichte oder als Wissenschaft, beide Studiengänge haben es mit Kunst zu tun und geben sich so als eminent westliche Veranstaltungen zu erkennen. Das schließt natürlich überhaupt nicht aus, dass sich Künstler auf nicht-westliche Kulturereignisse beziehen. Kunstwissenschaft, so könnte man dialektisch sagen, ist eine aufgehobene Kunstgeschichte: Sie ist reflektierter als ihre Vorgängerin, und sie hat ihr Spektrum erweitert, aber auch nicht wieder so, dass sie sich ganz zu einer Bildwissenschaft verwandelt hätte.

 

Überfliegt man die in diesem Lexikon bearbeiteten Lemmata, so stößt man auf ganz traditionelle Kategorien wie „Decorum“ oder „Nachahmung“ oder „Ut pictura poesis“, daneben aber auch auf neue Begriffe wie „Visual Cultural Studies“, „Neuronale Kunstwissenschaften“ oder „Postkolonialismus“. Zur zweiten Auflage sind ca. 20 Begriffe neu hinzugekommen. Erstaunlich aber, dass man das Lemma „Impressionismus“ findet, nach „Expressionismus“ aber vergeblich Ausschau hält. Das ist ein wenig seltsam und wird auch nicht im Vorwort erklärt. Vielleicht wollte man nicht zu kunstgeschichtlich werden. Die Artikel sind meist chronologisch unterteilt – hier folgt man den gängigen Unterteilungen in Antike, Mittelalter, Neuzeit, Moderne, Postmoderne – Querverweise zu anderen Lemmata finden sich erfreulicherweise gebündelt am Ende des Artikels, wo auch weiterführende Literatur verzeichnet ist.

 

Interessant ist, dass sich bei der Lektüre bestimmter Artikel der Effekt einer parallelen Kunstgeschichte ergibt, es tauchen die gleichen Namen auf, gleiche Probleme, nur eben ein wenig anders angeschnitten. Das kann man dann die Substanz einer Epoche bezeichnen, an der man sich abarbeiten kann. Auf einer solchen Ebene ist es schon wieder egal, ob man methodisch substanzialistisch oder konstruktivistisch ausgerüstet ist, an bestimmten Daten kommt man nicht vorbei. Aber auch das Detail, das hat Daniel Arasse in einem eigenen Buch vorgeführt, verfügt über ganz eigene Erkenntnispotenziale. Bereits im späteren 19. Jahrhundert versuchte G. Morelli über Details Zuschreibungsprobleme zu klären. Er richtete das Augenmerk auf Details, „die seiner Ansicht nach unveränderlich in stets gleicher Formulierung im Werk einzelner Künstlerpersönlichkeiten wiederkehren (Wiedergabe von Händen, Ohren, Nasen, Augen usw.). Dieses nicht zufällig einem damals neuartigen Zweig der Kriminalistik ähnelnde Vorgehen fand als Morelli-Methode Verbreitung...“

 

Es sind solche temporalisierten Verknüpfungen, die die Lektüre vieler Artikel nicht nur lohnen, sondern auch spannend machen. Man kommt aus der Verzeitlichung nicht heraus. Das immer wieder klar zu machen ist eine der Stärken dieses Lexikons, das erfreulicherweise wissenschaftsjargonfrei geschrieben ist.

 

Dieter Wenk (11-11)

 

Ulrich Pfisterer (Hrsg.), Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe, 2. erweiterte und aktualisierte Auflage, Stuttgart, Weimar 2011 (Metzler)

 

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