Scharfer Blick auf aktuelle Konfliktlagen

 

Viele schöne, seltsame und kuriose Gewerbe gehen zunehmend verloren. Scheckbetrüger, Heiratsschwindler, Hoteldieb und Hochstapler. Oder haben sich die Berufsbilder nur gewandelt, hat die Gesellschaft lediglich neue Termini gefunden? Die beiden Hochstapler-Hefte des stets lobenswerten Magazins Kultur & Gespenster gehen diesen Fragen nach. Friedemann Sprenger auch …

 

Die zentrale europäische Figur zum Thema ist natürlich Walter Serner, dessen Verlag seine Werke – die man dringend wieder, wieder und wieder lesen soll – damit bewarben, sie seien „verfaßt von dem kontinental berüchtigten internationalen Hochstapler Dr. Walter Serner“. Serners Beiträge zur Geburt des Kriminalromans aus dem Geiste des Dadaismus und Surrealismus sind kaum zu unterschätzen. Enno Stahls kompaktes und kluges Porträt mit dem schönen Titel: „Die Welt will betrogen sein, gewiss. Sie wird sogar ernstlich böse, wenn du es nicht tust. WALTER SERNER – Presse Blague, Hochstapelei und der Nihilismus des l’ennui“ spart Berge von Besinnungsaufsätzen zum Thema, und setzt Serner genau in die Kontexte, die heute noch so aktuell sind wie 1910: Serner hat immer wieder die „umfassende Sinnlosigkeit aller humanoiden Betätigungen herausgestrichen“ und ist damit zu den ersten Ansätzen einer „außermoralischen Ethik“ gelangt, die in letzter Konsequenz dazu führt, dass man sich „die Zeit in der Leere angenehm (…) vertreiben“ sollte. Sehr menschlich, sehr subversiv, sehr brauchbar, wenn man sich die Geschichte der Kriminalliteratur und ihre Sinnerzwingungsmaschinchen mal andersrum anschauen möchte.

 

Von Dada zu Alfred Jarry und Père Ubu ist es logischerweise nicht sehr weit und insofern ist es auch systematischerweise nur folgerichtig, dass Robert Ohrt ein paar Fallstudien zu aktuellen Hochstaplern (mit Schwerpunkt auf einer Dame, die die dänische Kunstszene jahrelang geblufft, düpiert und vermutlich sehr hübsch ausgeplündert hat) „Herr Ubu mit blonden Zähnen“ übertitelt. Ohrt zieht natürlich konsequent die Linie von den marginalisierten Hochstaplern in den Schönen Künsten (von Arthur Cravan bis – überraschenderweise – Francis Picabia) hin zu den „etablierten Hochstaplern“ – den Politikern, den Experten, den Houdinies der Finanzwelt.

 

Auch dieser feine Aufsatz hat im Konzept der beiden Hefte seine logische Fortsetzung, die evidentermaßen zu Bernie Madoff (siehe auch SiK vom 04.7.09) führt und den 65 Billionen (!!!!) Dollars, die dieser absolut erfolgreichste Geldvernichter aller Zeiten in den Sand gesetzt hat. Das ist groß – wie und warum es funktioniert, hat Harald Nicolas Stazol mit ein paar interessanten Seitenblicken auf Tom Ripley unter dem Titel „IMPOSTORS REVISITED – oder warum Hochstapler hochstapeln“ rekonstruiert.

 

Um jetzt nicht in die Gefahr zu geraten, die beiden Hefte von hinten bis vorne zu referieren und auch noch die sehr gelungenen Bildstrecken zu loben (warum ist so oft Joseph Beuys in verschiedenen Zusammenhängen zu sehen?), noch zwei Hinweise:

 

Erstens auf eine schöne Hommage von Michael Glasmeier an den Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend: „Erkenntnis und Bilder. Paul Feyerabend“, wobei natürlich die Aufnahme Feyerabends in den Kontext der Hochstapelei ein sehr ironischer Reflex auf die Reaktionen des offiziellen Wissenschaftsbetriebs ist, der, als 1975 „Wider den Methodenzwang“ erschien, einen ziemlich heftigen Geifer-Ausstoß hatte.

 

 

Zweitens auf den Artikel von Daniel Künzler: „COUPÉ DÉCALÉ: Ostentativer Konsum im Dunstkreis von Betrug und Bürgerkrieg.“ Coupé Décalé ist ein spezifischer Mix aus Rap, kongolesischem Rumba, ivorischem Zouglou und anderen Einschüssen, der sich in Paris in afrikanischen Discos und Klubs formiert hat.

 

Konstitutiv für Coupé Décalé ist aber der lifestyle, die Statussymbole – teure Uhren, Kaviar, Zigarren etc. –, deren Herkunft so ostentativ unklar sein muss wie ihre ostentative Pratz-Funktion. Die Ursprünge liegen in den killing fields Westafrikas, in der Côte d’Ivoire, in Liberia und anderen Gegenden, wo traditionelle Eliten von Warlords abgelöst worden sind und wo sich Kleptokratie sozusagen als Medium des sozialen Aufstiegs jenseits althergebrachter Familien-Strukturen den Weg frei geschossen hat. Die ambianceurs, wie die Aficionados und Heroen des Coupé Décalé heißen, sind die notfalls waffenstarrenden Hochstapler und Parvenus, die von „herkömmlichen Formen der sozialen Mobilität ausgeschlossen sind“ und ihre neuen Wege zum sozialen Erfolg in eine Musikkultur überführt haben, die man als Popmusik der „Kriegsgewinnler“ bezeichnen könnte.

 

Fazit: Die beiden Hochstapler-Hefte pflegen den scharfen Blick auf die wirklich interessanten Konfliktlagen unserer Tage. Wie gute Kriminalliteratur.

 

Friedemann Sprenger

 

 

Robert Ohrt et al: Hochstapler I/II (= Kultur & Gespenster 8 und 9). Hamburg: Textem Verlag 2009. 231 und 247 Seiten. jeweils 12,00 Euro

 

 

titel Magazin, Dezember 2009

 

 

 

 

Die Spannung des Nicht-Wissens

 

VERSCHÜTTETE MÖGLICHKEITEN

 

TV-Soaps oder Klassik: Die "Naturphilosophie" von Paul Feyerabend verbindet Realität, Medium und Wahrheit

 

VON CORD RIECHELMANN

 

Das Magazin Kultur und Gespenster leistet sich in seiner aktuellen, dem Hochstapler gewidmeten Ausgabe einen subtilen Witz. "Erkenntnis und Bilder", der erste Text des Heftes, ist dem Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Paul Feyerabend (1924-1994) gewidmet.

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Paul Feyerabend gilt mit seinem Schlagwort vom "Anything goes" als einer der Stichwortgeber postmoderner Theorie- und Praxisbildung. Den einen, in der Regel Künstler und sich anarchistisch gerierende Studenten, wurde er damit zu einer Art Säulenheiligen. Anderen aber, in der Regel sich seriös dünkenden Philosophieprofessoren und Wächtern über die strenge und korrekte Lehre der Wissenschaften, erschien Feyerabend als Scharlatan und der entscheidende Türöffner von Geistlosig- und Beliebigkeit nicht nur an den Universitäten. Unrecht hatten beide Seiten, das zeigt der Autor des Textes "Erkenntnis und Bilder", der Bremer Kunstwissenschaftler Michael Glasmeier, argumentativ so einleuchtend, wie man es sich nur wünschen kann.

Unbearbeiteter Rest

Feyerabend ging es mit seinem Plädoyer für einen Methodenpluralismus um eine Wiedergewinnung des Möglichkeitssinns in der Entscheidungsfindung. Da jede Entscheidung, ob staatspolitisch oder individuell, mit dem Ausschluss anderer Möglichkeiten arbeiten muss, bleibt immer ein unbearbeiteter Rest. "Wir untersuchen einige dieser Möglichkeiten - andere verwerfen wir einfach ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung, denn allen weisen Menschen aller Zeiten ist es noch nicht gelungen, auch nur zu beginnen mit einem vollständigen Studium aller möglichen Lebensgeschichten", schreibt Feyerabend in "Wissenschaft als Kunst" 1984.

Das heißt, jede Entscheidung verschüttet Möglichkeiten, und dem kann man nach Feyerabend nur mit einem bedingungslos demokratischen Kulturverständnis antworten. " … ich sagte, Die Kunst DES Volkes sei Dallas oder Jerry Cotton und daß man erst diese studieren müsse, wenn es einem daran gelegen sei, Kunst und Volk ein wenig näher zu bringen", erläutert Feyerabend seine Position in einem Brief an den Ethnologen Hans Peter Duerr. In der von Duerr herausgegebenen Anarchozeitschrift Unter dem Pflaster liegt der Strand fasste Feyerabend in einem Essay sein Programm im Titel zusammen: "Wie die Philosophie das Denken verhunzt und der Film es fördert".

In Glasmeiers Text wird daraus eine Beschreibung der Arbeitssituation des Philosophen. Während Feyerabend an "Wissenschaft als Kunst" arbeitet, laufen zeitweilig zwei Fernseher, auf denen US-amerikanische Shows und Soaps zu sehen sind, daneben liegt ein Prachtband über die Impressionisten. In Glasmeiers Annäherung wird die in Fernseh- und Filmkonsum sich austobende Bildersucht Feyerabends aber nicht zu einem augenzwinkernden Bekenntnis zum Kitsch, den Intellektuelle sich leisten können. Sie wird zu einem Erkenntnismodell, das sich, wie auch die Philosophiegeschichte, den Fragen von Realität, Medium und Wahrheit stellen muss. Methodenpluralismus ist für Feyerabend also nichts anderes als der Versuch, der Sackgasse der einseitigen Entscheidung zu entkommen. Trash und Soaps stehen dabei neben dem klassischen griechischen Theater, ohne das eine der Optionen die andere dominiert oder ausschließt. Wobei der Ausschluss zum Schreckgespenst Feyerabends überhaupt wird.

Deshalb wehrt er sich bereits als Philosophieprofessor in den 60er-Jahren in Berkeley gegen Kapazitätsbeschränkungen in den Seminaren und benotet alle Studenten prinzipiell mit "sehr gut". Deshalb auch wird ihm der Dadaismus in den Sechzigerjahren zum Erkenntnisinstrument. Dada war im Unterschied etwa zum Surrealismus keine Schule, sondern eine Bewegung. Und Bewegungen unterscheiden sich von Schulen dadurch, das sie keine reine Lehre vertreten und in der Folge auch auf Ausschlussverfahren und Tribunale verzichten können. Und das die von Glasmeier im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft aufgespannten pluralistischen Maximen Feyerabends überhaupt nichts mit Beliebigkeit oder "Anything goes" zu tun haben, kann man jetzt an seiner aus dem Nachlass veröffentlichten Naturphilosophie studieren. Es ist nicht übertrieben, Feyerabends Naturphilosophie als sein bestes und aktuellstes Werk zu bezeichnen. Es geht darin um eine Darstellung der Denkformen über die Natur von der Steinzeit bis heute.

Scheinbare Ruhe

Das Werk ist so bildgesättigt, wie man es nach Glasmeiers Essay nur erwarten kann. Es enthält eine knappe, aber präzise Darstellung der archaischen Kunstformen und eine Kritik ihrer Deutungen. Dass Tierbilder eine magische Funktion haben, Abbildungen von schwangeren Tieren oder Frauen eine Rolle in Fruchtbarkeitsriten spielen oder nicht identifizierbare lange oder rundliche Gegenstände sexuell konnotiert sind, wie es die deutende westliche Wissenschaft behauptet, hält Feyerabend weder für richtig noch für beweisbar.

Denn "der Kreis der Vorstellungen einer Menschengruppe ist viel umfassender, als was sich aus ihren Kulturspuren allein ermitteln läßt", heißt es in der Naturphilosophie. Das meint: Es ist prinzipiell unmöglich, eine Lebenswelt, an der man nicht teilhat, angemessen zu beurteilen. Die alten Griechen wussten das noch. So wird bei Homer und Hesiod die Welt ein aus vielen kleinen Ereignisreihen zusammengesetzter gigantischer Prozess, in dem die Ruhe nur scheinbar ist, weil sie nur das Ergebnis von Tendenzen ist, die kurzzeitig und vorübergehend ein Gleichgewicht schaffen. Es ist in diesem naturmythischen Denken also immer alles in Bewegung, und - das ist Feyerabends Pointe - die Natur schließt hier immer auch die Gesellschaft ein. Die Trennung von Natur und Gesellschaft erfolgt bei den Griechen mit Parmenides, der der Natur mithilfe mathematischer Beschreibungen die Bewegung nimmt, in dem er sie mit ruhenden und zur Veränderung grundsätzlich unfähigen Prinzipien erklärt. Die Trennung von Natur und Menschengeschichte hat hier ihren Ursprung und bleibt bis ins 19. Jahrhundert das bestimmende Paradigma von Wissenschaft und Geschichte, das sich in der Floskel von den "ewigen Naturgesetzen" Ausdruck verschafft.

Im 19. Jahrhundert aber, mit Darwin zum Beispiel, beginnen sich Natur und Begriffe wieder in der Geschichte zu bewegen. Sie fließen sozusagen und bieten die Möglichkeit einer Kombination moderner Wissenschaft mit dem Gedankengut steinzeitlicher Philosophen und Wissenschaftler. Und wie die aussehen könnte, davon handelt der Philosoph Michael Hampe im "Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte". "Nach Feierabend" heißt das Periodikum und widmet sich aktuell dem Nichtwissen. Wobei Nichtwissen für Hampe zu einem wesentlichen Movens existenzieller und wissenschaftlicher Revolutionen wird. Nur da, wo man nicht weiß, wie man mit etwas umgehen soll, das in der Welt passiert, entsteht ein Veränderungsdruck auf die relative Geschlossenheit wissenschaftlicher oder persönlicher Systeme. Nur in der Spannung von Nichtwissen und einem Außendruck wird die Entwicklung neuer individueller Stimmen von Personen oder Disziplinen notwendig. Die Lage an den Universitäten und in der Gesellschaft scheint gerade neue Töne gebrauchen zu können, und die drei Texte sind Werkzeuge, mit denen die ewige Perpetuierung der angeblichen Alternativlosigkeit derzeitiger Handlungsmuster sehr gut aufgehoben werden kann.

 

Kultur & Gespenster Nr. 9: "Hochstapler". Textem, Hamburg 2009, 247 S., 12 Euro

 

tageszeitung, 28. 11. 2009

 

 

 

 

"Ich habe mich verkauft"

 

Sie ist jung und Kunststudentin, also braucht sie Geld und weiß: Sex sells. Für Verena Issel, 27, zogen zwölf Kommilitonen blank. Im Interview erklärt sie, was ihr Aktkalender mit der Wirtschaftskrise zu tun hat, warum ein Hase verstört reagierte - und wer ihr Favorit unter den "ArtBoys" ist.

 

SPIEGEL ONLINE: Sie haben einen Kalender mit nackten Hamburger Kunststudenten gestaltet. Wozu braucht die Welt das?

 

Verena Issel: Der Kalender ist ein Kommentar zur Wirtschaftskrise. Für uns Künstler hat sich die Situation verschärft: Der Kunstmarkt ist eingebrochen. Viele von uns müssen jetzt Aufträge annehmen, die sie innerlich ablehnen. Auch ich, als Künstlerin, die normalerweise Reliefs und Installationen gestaltet, habe mich mit dem Kalender verkauft: Er ist ein direktes, massenvermarktbares Produkt. Sex sells.

 

SPIEGEL ONLINE: Sie haben den Kalender "ArtBoy 2010" für die Hochschule für bildende Künste in Hamburg entworfen.

 

Issel: Er gehört zu meinen Jahres-Arbeiten. Ich habe mich aber entschlossen, nur ihn auszustellen. Ich habe den Kalender nicht - wie es üblich gewesen wäre - im Kunstraum präsentiert.

 

SPIEGEL ONLINE: Sondern?

 

Issel: Ich habe ihn verkauft. Im Uni-Flur.

 

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Ihre Professoren darauf reagiert?

 

Issel: Sie waren die ersten Kunden, besonders die weiblichen haben zugegriffen. Sie fanden die Idee gut.

 

SPIEGEL ONLINE: Es ist beileibe nicht der erste Kalender mit nackten Studenten, in den vergangenen Jahren gab es etliche davon. Warum waren die Professoren trotzdem von Ihrer Idee angetan?

 

Issel: In dem Kalender geht es nicht nur um Hintern, sondern auch um Kunst. In den Bildern verstecken sich Hinweise auf die Kunstgeschichte, etwa auf den toten Hasen von Beuys und das schwarze Quadrat von Malewitsch im Aprilmonat.

 

SPIEGEL ONLINE: War es schwer, die männlichen Modelle zu überzeugen?

 

Issel: Die meisten waren sofort einverstanden. Sie haben ein entspanntes Verhältnis zu ihren Körpern.

 

SPIEGEL ONLINE: Wie war's bei den Shootings?

 

Issel: Überhaupt nicht peinlich. Wir haben darauf geachtet, dass es pietätvoll abläuft, haben vorher lange über alles gesprochen. Es gab Pausen, Decken und Bademäntel. Wir hatten wenig Zeit, nur sieben Tage, sind erst einen Tag vor der Ausstellung fertig gewesen. Zwei Freundinnen haben mir geholfen: Kathrin Brunnhofer hat die Fotos geschossen, Julia Gordon die Grafik gestaltet. Wir haben in Werkstätten und Ateliers der Kunsthochschule fotografiert, unter freiem Himmel und in einer Metallschlosserei.

 

SPIEGEL ONLINE: Und haben sich die Studenten geschickt angestellt?

 

Issel: Sehr gut. Den einzigen Trubel hat ein Hase veranstaltet, den ich für die Aufnahmen gemietet hatte. Er war verstört, dass ein nackter Mann in seiner Nähe war, und hat ihn gekratzt. Mit Möhren haben wir ihn ruhig gekriegt.

 

SPIEGEL ONLINE: Wie erotisch ist der Kalender?

 

Issel: Das darf jeder für sich selbst entscheiden. Gute Kunst schreibt den Leuten nicht vor, was sie sehen sollen. Humor, Ironie ist ein zentrales Element des Kalenders. Wir haben bei den Posen oft gelacht.

 

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie keine Angst, jetzt als Erotik-Künstlerin abgestempelt zu werden?

 

Issel: Ich bin daran gewöhnt, dass man als Künstler oft falsch verstanden wird. Das halte ich aus. Es ist aber meine vorerst letzte Arbeit in der Richtung. Danach widme ich mich wieder meinen Installationen.

 

SPIEGEL ONLINE: Also wird es keinen "ArtGirl"-Kalender geben?

 

Issel: Nein. Der wäre sowieso witzlos. Nackte Frauen gibt es in der Öffentlichkeit viel zu viele. Deshalb habe ich mich in dem Kalender auf Männer fokussiert.

 

SPIEGEL ONLINE: Haben Sie einen Lieblings-Boy?

 

Issel: Ja, das Dezember-Modell. Der ist mein Freund.

 

 

SPIEGEL ONLINE, Dezember 2009. Das Interview führte Merle Schmalenbach

 

ArtBoy Kalender 2010, Textem Verlag 2009, 21 Euro

 

 

 

 

"PROJEKTIONSFLÄCHE FÜR PHANTASIEN" (copy 1)

 

Die Hamburger Kunststudentin Verena Issel, 27, hat zwölf ihrer männlichen Kommilitonen für ihr Kalenderprojekt "Art Boy 2010" ausgezogen. Ein Gespräch über Erotik, Kunst und die Krise.

 

// ALAIN BIEBER, HAMBURG

 

Frau Issel, ist Ihr Kalender Kunst, Gag oder Masturbationsvorlage?

 

Verena Issel: Kunst ist theoretisch immer eine Art Masturbationsvorlage – für Sammler wie für alle Betrachter. Und wenn mein Kalender nicht ernst genommen wird, dann habe ich damit auch kein Problem: Das werden viele andere Künstler auch nicht. Ich finde, Kunst darf Spaß machen. Sie kann trotzdem etwas Ernstes oder Weitergehendes transportieren. Das ist für mich eines der Merkmale von Kunst. Aber ich meine das wirklich ernst mit dem Kalender. Für mich ist das eine künstlerische Arbeit. Kunst ist ein Seismograph, der auf die Gegenwart reagieren sollte. Und das tun die Art Boys.

 

Nackte Studenten als Gesellschaftskritik?

 

Der Aufhänger war für mich die Wirtschaftskrise. Ich wäre wahrscheinlich vor zwei Jahren nicht drauf gekommen. Und ich beschäftige mich in meinen sonstigen künstlerischen Arbeiten auch nicht mit Erotik. Aber der Kunstmarkt hat die Krise sehr deutlich gespürt. Viele von meinen Freunden haben ihre Galerien verloren, verkaufen keine Werke mehr. Und deshalb müssen sich die Künstler jetzt ausziehen, im übertragenen Sinne! Die einzige Branche in Deutschland, der es noch relativ gut geht, ist die Erotikbranche. Also warum sollte ich mich jetzt hinsetzen und kleine Bildchen malen? Ich sehe den Kalender als einen konzeptuellen Kommentar zur Gegenwart.

 

Eignen sich Künstler überhaupt für sexuelle Phantasien?

 

Alles und nichts taugt für sexuelle Phantasien. Es gibt wahrscheinlich auch Menschen, die finden Helmut Kohl erotisch. Aber Künstler bieten schon eine große Projektionsfläche, weil sie selbst Phantasien entwickeln und durch ihre Arbeit die Phantasie anregen. Und auch als Mensch: Bestimmt denken viele, das ist so ein Freigeist, der ist bestimmt viel offener.

 

Im Pressetext heißt es: "Dem männerdominierten Kunstmarkt sei hiermit ein Kalender hinzugefügt, der vieles erklärt und geraderückt." Was genau rückt der Kalender denn gerade?

 

Ich komme eigentlich aus Norwegen, dort ist man viel gleichberechtiger. Man kann eine stark geschminkte Politikerin sein und tiefe Dekolletés tragen, ohne dass sich daran jemand stört. Ich bin keine Feministin im wörtlichen Sinne, habe aber einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Und an der Hochschule sind wir bestimmt rund 70 Prozent Studentinnen. Aber wenn man sich den Kunstmarkt anschaut, dann gibt es nur sehr wenige Künstlerinnen. Deshalb wollte ich mal etwas für uns Frauen tun. Und deshalb würde ich auch keinen "Art Girl"-Kalender machen. Das würde an Biss verlieren. Als Frau ist man sowieso schon viel öfters in der Rolle des Objekts. Aber ich wüsste gar nicht, wo ich mir in Hamburg eine geschmackvolle Wichsvorlage besorgen könnte.

 

Und wer ist nun eigentlich der erotischste Künstler Deutschlands?

 

Das ist natürlich mein Freund, der auch Kunst an der HFBK studiert. Er ist übrigens der Dezember-Boy.

 

ArtBoy Kalender 2010, 12 Kalenderblätter, 4-farbig, Wire-O-Bindung, 4-farbig, 21 Euro, Textem Verlag 2009

 

 

art Magazin, Dezember 2009

 

 

 

 

Hochstapler

 

Roberto Ohrt, der Situationismus-Experte aus Hamburg, hat die neue Ausgabe von Kultur & Gespenster zusammengestellt, die sich dem Thema Hochstapler widmet, aber nicht einfach so, sondern „I/II“. Ob man dabei (wie der Rezensent) ein braunes Cover mit dem jungen Schmalz-Elvis oder ein graues Cover mit dem alten Fett-Beuys erwischt, ist eine Sache des Zufalls.

Es soll Leute geben, die das Wort Hochstapler hören können, ohne dabei sofort an Walter Serner zu denken. Ihnen, aber auch den altgedienten und hart gesottenen Serner-Fans zu Freud und Frommen beginnt das Heft mit einem Auszug aus Letzte Lockerung. Ein Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen, einem Buch der Tricks und Finten, aber auch des Handwerksstolzes und des aufrechten Gangs trotz diebisch züngelnder Gaunerfinger. Das Buch, spätestens seit Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte als ein zentraler Text der klassischen Moderne kanonisiert, wird vom zunehmend unentbehrlichen Enno Stahl heiter kommentiert, ehe Frank Apunkt Schneider über den „Fake als künstlerische Strategie“ schreibt und dann – auch mit Roberto Ohrt – über Georg Paul Thomann plaudert, einen „von der Wien-Graz-Bamberger Gruppe monochrom erfundenen österreichischen Großkünstler, dessen Weg durch das späte 20. Jahrhundert markante Punkte und Positionen der Gegenkulturgeschichte sowie der künstlerischen Avantgarde miteinander verbindet“. In diesem turbulenten Gespräch purzeln die Erkenntnisperlen nur so aufs mit schwarzer Auslegeware geschmückte Diskursparkett: „Also Thomann [so Schneider] kann sich immer auf alles beziehen, was wir wissen. Und ich finde diese Art von investigativer 70er- und 80er-Jahre-Kunst auch gut, aber es fehlt immer der Spaß dabei. Bei einem Günter-Wallraff-Buch kann man ja kaum lachen. – Du meinst diesen humorlosen politischen Ansatz [so Roberto Ohrt], vorneweg geht es um Aufklärung, und die unfreiwillige Komik bei Wallraff ist kein Thema, die Selbstporträts, die man dann kennt: Klebt sich einen Bart an, sieht aus wie Günter Grass, kann sich dann einschleichen mit ’nem Käppi auf – das sieht doch alles ganz lustig aus. Gelten soll aber nur die Aufklärung.“

Einmal mehr überzeugen die Bildbeiträge der neuen Ausgabe, vor allem die sechzehn spannungsvollen Parallelporträts aus dem Video „Elvis Beuys“ von Manuel Zonouzi, die die beiden Herren in sich oft verblüffend gleichenden Posen und Settings zeigen, als würden sie bloß erstaunlich ähnliche öffentliche Erwartungshaltungen bedienen, was bei Beuys stärker überraschen mag als bei Elvis. Sehr schön auch Thorsten Passfelds Comic „Ulrike und die Anderen“, ein Lebensdrama, das im Kreißsaal beginnt, wo die lieben Mitgeborenen Sätze wie „Ich bin aus reinem Gold!“, „Ich kann fliegen!“ oder „Ich kann Karate!“ ausstoßen, während es bei Baby Ulrike nur zu „Oje. Ich habe nichts und kann auch noch nichts. Am besten stell ich mich schlafend“ reicht.

 

Am Erker, Zeitschrift für Literatur

32. Jahrgang 2009. Nr. 58

 

 

 

Lesestunde der Allrounderin

 

 

Hanne Loreck, Katrin Mayer (Hg.): „Visuelle Lektüren, Lektüren des Visuellen“

 

Ralph Findeisen

 

 

Die Anzeichen mehren sich. Das Künstlerbuch bekommt endlich die verdiente Aufmerksamkeit. Schließlich lud im September sogar das Berliner KW Institute for Contemporary Art zu „Miss Read“ ein, einer Plattform, auf der internationale Verleger ihre Künstlerbücher vorstellen und einen breit gestreuten Einblick in dieses Segment des Kunstmarktes und der Kunstproduktion geben konnten. Dort, wo Text und Bild zugleich am Werk sind, verwandeln sich diese vermeintlich hybriden Gewächse vielfach in visuelle Lektüren, die Texte als Bilder und Bilder als Texte generieren und so die klassische Trennung beider unterlaufen. Zweifellos sind diese Bücher sexy. Obwohl sie – und das wäre eine These – jenseits von Genderzuweisungen auf den Plan treten. Und eigentlich asexuell, multisexuell oder androgyn sind. Auf jeden Fall sind diese zeitgenössischen Exemplare nicht mehr das Produkt eines weißen, heterosexuellen Mannes ohne Computer.

Vor diesem Hintergrund operiert die bei Textem erschienene Publikation „Visuelle Lektüren, Lektüren des Visuellen“, die sich einer recht paradoxen Herangehensweise bedient: Denn hier wird der Gegenstand der Analyse mit seinem eigenen Objekt analysiert. Einfach formuliert: Die hier angestrebte feministische Bildkritik findet mit Wort und Bild zugleich statt, Bilder werden nicht nur in Texte, sondern wiederum auch in andere Bilder übersetzt. So erscheint die Publikation einem Künstlerbuch nicht unähnlich, ist aber Resultat eines Symposiums an der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Es fand im Rahmen des hochschulübergreifenden Graduiertenkollegs „Dekonstruktion und Gestaltung: Gender“ statt und stellt ideologisch die Beschränktheit des männlichen Blicks zur Disposition, aber auch fragwürdige Performances weiblicher Protagonistinnen mit vermeintlich feministischen Positionen.

Eindringlich verweisen die Herausgeberinnen Hanne Loreck und Katrin Mayer darauf, dass hier nicht „populären Parolen“ wie „visuelles Zeitalter“ und „Bilderflut“ das Wort geredet werden soll. Der Umstand, dass die sogenannte Bilderflut mehr oder weniger als „natürliche Katastrophe“ hingenommen werde, die „aus einer Naturalisierung des Mensch-Maschine-Konnexes hervorgeht“, könne keine fraglose Akzeptanz finden. Denn Interdisziplinarität sei zwischen einzelnen Kultur- und Naturwissenschaften selbstverständlich, nicht jedoch innerhalb der Kulturwissenschaften selbst. Von daher wäre nach einer neuen akademischen Disziplin zu suchen, worin die Bildwissenschaft mit der geschlechtertheoretischen, mit der feministischen Kunst- und Kulturwissenschaft verknüpft würde. Diese Disziplin soll von feministischen Allrounderinnen vertreten werden, die – wie im Falle der Symposiums-Teilnehmerinnen – Wissenschaftlerin, Künstlerin und Kuratorin in einer Person sind. So kommen in diesem Band Protagonistinnen zu Wort, die bereits in ihrer eigenen Praxis den Umgang mit jenen Mischdiskursen, also visuellen Lektüren, verkörpern und beherrschen, die sie hier nun mit dem feministischen Blick von außen erst noch in ihre Einzelbestandteile zerlegen wollen.

Thematisch und visuell eingeleitet wird der Band mit Bildessays von Michaela Melián und Katrin Mayer. Melián verhandelt in ihrer Fotografie- und Zeichnungsserie A Trip to Eros 433 mit einem Verweis auf die Liebesgeschichte von Heloisa und Abaelard Begehrensstrukturen, während Mayer in Self Self Self Creation anhand von Collagen und vorgefundenen Fotografien Frauenbilder zur Disposition stellt. Dann überrascht es auch nicht, wenn sich Hanne Loreck mit zwei Künstlerinnen beschäftigt, die das Spiel mit Verkleidung, mit Rollen auf ganz unterschiedliche Weise perfektioniert haben: nämlich Madonna und Cindy Sherman. Loreck analysiert das Verhältnis beider als dasjenige von Schwestern, um auf das Motiv der Ähnlichkeit zu verweisen, das beide Figuren durch die „Metamaskerade“ miteinander verbindet.

Michaela Ott übt Kritik an einem spezifischen weiblichen Rollenklischee, dem der Kriegerin im zeitgenössischen Film. Die strategische Funktion von Figuren wie Lara Croft (Angela Jolie) oder „der Braut“ (Uma Thurman) in „Kill Bill“, so Ott, „beschränkt sich nicht mehr auf ihren vom feministischen Diskurs beklagten Fetischcharakter als Objekt männlicher Schaulust.“ Vielmehr gefielen sich diese Frauenfiguren jeweils auch als „abgründiges Mysterium“, das als übermenschlicher Alleskönner mit dem hybriden Charakter neuer digitaler Techniken einhergeht. Ott beklagt, dass so ein neues Klischee geschaffen würde, denn die „reizvolle Bejahung von Verwandlungsprozessen, werden diese zu einem medial gestützten umfassenden Gestaltungsprinzip, (bieten) keinen Raum mehr für unvereinnehmbar widerständiges Singuläres.“

Die Autorinnen grasen in quasi-feministischer Detektivarbeit das Feld der Kultur ab und sind immer darum bemüht, feministische Klischees aus dem Weg zu räumen. Mit erhöhter Präzision wird politische Kritik am eigenen Selbst geübt, wenn etwa Elke Zobl in ihrem Beitrag zur Geschichte der „Grrrl Zines“ (selbständig produzierte Magazine, auch „Fem Zines“ genannt) moniert, dass die „meisten Riot Grrrls weiße Studentinnen aus der Mittelschicht“ sind, die in ihren Publikationen ihre eigenen Privilegien nicht kritisch reflektieren. Nichtsdestotrotz würde gerade eine jüngere Generation die Zines dazu verwenden, um Abstand zu nehmen von „Konsum in Richtung Produktion“ und um ein „politisches Engagement“ zu etablieren, „das mit traditionellen Rahmen und Bildern bricht.“

„Visuelle Lektüren / Lektüren des Visuellen“ ist, von der Gestaltung abgesehen, eine ausschließlich von Frauen gemachte Publikation. Sie bezieht Positionen, die klar feministisch intendiert sind und auf einem Mischterrain zwischen Kulturwissenschaften, Bildwissenschaft und Soziologie innovative Perspektiven suchen. So leistet Claudia Reiche mit ihrer Analyse neuer Klitorisbilder einen Gegenbeitrag zur Phallozentristik, befragt Sabine Ritter die Rezeption des Lebens von Sarah Baartman, die im frühen 19. Jahrhundert als „Hottentotten-Venus“ in Europa zu Ruhm kam und das Bild der exotisierten und erotisierten Frau par excellence verkörpert, und versucht Kerstin Brandes, den politisch korrekten Widerstand gegen eine Werbung zu dechiffrieren, in der Geschlechterrollen vermeintlich sexistisch eingesetzt werden.

Leider erfüllt das Buch nicht, was es verspricht. Denn das angestrebte Ziel, „Beziehungen zwischen der Geschichte der Bilder, ihrer Medien und ihrer Interpretation in Bewegung zu versetzen“, wird hier nicht erreicht. Vielmehr hat man es mit einem Band zu tun, der – von seiner Erscheinungsform einmal abgesehen – sich von anderen kulturtheoretischen und kritischen Sammelbänden nicht wesentlich unterscheidet. Mehr noch: Mit der Kritik von feministisch überzogenen Positionen aus den 1970er- und 1980er-Jahren scheint der ideologische Vorsprung gegenüber dem in der Krise befindlichen männlichen Blick dahinzuschmelzen. Ohnehin muss man fragen, ob angesichts der im medialen Raum versammelten hybriden Gesellschaftsmuster von „gender“, „race“ und „sexuality“ die klassische Abgrenzung der Rollenbilder und Geschlechtszuschreibungen überhaupt noch als Ansatz dienlich ist.

 

12. November 2009  Hanne Loreck, Katrin Mayer (Hg.): „Visuelle Lektüren, Lektüren des Visuellen“, Broschur, 270 Seiten. Textem, 2009. ISBN-10: 3941613014, EUR 16,90

 

 

 

Schuld und Bühne

 

Wirtschaft als das Leben selbst

 

Ein Jahr, bevor Christoph Schlingensief an Krebs erkrankte (worüber er dann ein Buch veröffentlichte), drehte Cordula Kablitz-Post einen Dokfilm über das Verhältnis von Leben und Kunst bei dem Theatererweiterer. »Die Piloten« heißt dieser Film. In einer Szene liegt Schlingensiefs Vater »ganz real im Sterben«, wie der Zeitschrift Polar, Heft 2/2009, zu entnehmen war. »Auch dies wird in eine mediale Inszenierung überführt: Schlingensief streichelt in der Talkshow die Hand eines Schauspielers, der seinen Vater darstellt. Nach der Sendung ist er vom Gedanken an den sterbenden Vater, aber auch über den Zynismus seiner Inszenierung zu Tränen erschüttert. Er weint. Ein Moment größter Wahrhaftigkeit. Doch Schlingensief schaut mit verheulten Augen ins Objektiv und sagt: ›Ja, das ist ja jetzt auch Scheiße. Mit der Kamera ist das auch nicht echt‹.«


Schlingensief will die Widerspiegelungstheorie beim Wort nehmen und bis an ihre Grenze gehen: »Talk to end all talk« war angeblich das »Motto« des Dokfilms. Fast noch »naturalistischer« hat das jetzt der schwedische Filmer Patrik Eriksson angepackt – die Trauer. Seine Freundin hat ihn verlassen, er sucht krampfhaft – über alle Medien – nach einer neuen. Dabei filmt sich der selbstmitleidige Regisseur selbst mitleidlos: »An Extraordinary Study in Human Degradation«. »Aufrichtig« nennt die Filmkritik das.

Schreiber ertappen sich in interessanten Situationen mitunter dabei, daß sie bereits mit dem Formulieren, also mit der Verwertung, beschäftigt sind. Sie hätten das gar nicht nötig, denn anders als bei Film oder Hörfunk können sie sich auf ihre Erinnerung verlassen, müssen keine Bilder oder O-Töne aufnehmen.

Seit dem Boom der Internet-Foren und der Handy-Fotografie sollen immer mehr reale Lebenssituationen durch den Einsatz von Medien etwas werden, das tatsächlich stattgefunden hat. Unweigerlich führt das zu einer »Krise der Wirklichkeit«, die immer mehr zu einer medialen wird. Die llusion wird das Reale.

Für Hochstapler gilt das schon lange, sagt der Publizist Thorsten Pannen, und zitiert Felix Krull: »Die wirkliche Welt ist in Wahrheit nur die Karikatur unserer großen Romane!« Pannen hat sich ausführlich mit den Spezialisten für Standesunterschiede befaßt: »Ingeniös beherrschen sie alle relevanten Vokabulare – und ob sich dahinter eine Wirklichkeit verbirgt, ist für sie völlig irrelevant. Sie setzen Realität!«

Die allgemeine Medialisierung ist auch an Pannens Hochstaplern nicht spurlos vorübergegangen. In der neuen Ausgabe der Zeitschrift Kultur & Gespenster über »Hochstapler« schreibt Pannen: »Der postmoderne Hochstapler ist keiner mehr, weil er sich seiner Täuschung nicht mehr bewußt werden kann. Er ist die Täuschung, und sie ist der Kern seiner täglichen Arbeit, sein Material, an dem er sich professionell und verdienstvoll abarbeiten kann.«

Für alle Hochstapler gilt: »Die Täuschung (das Vortäuschen der Zugehörigkeit zu einer höheren sozialen Schicht, H.H.) muß immer weiter gehen als der Verdacht« (La Rochefoucauld).

Umgekehrt verfahren die »Tiefstapler«; eine interessantere, aber auch seltenere soziale Spielart, weil sie viel mehr abverlangt. So meinte zum Beispiel der Hochstapler Gert Postel in einem späteren Interview, er »hätte ja nicht die Rolle des Bäckers spielen können«, weil er dabei sofort aufgeflogen wäre. Aber als falscher Psychiater und Weiterbildungsbeauftragter der Ärztekammer konnte er sich sogar »Krankheitsbegriffe« ausdenken: »Keiner da traut sich, eine Frage zu stellen.«

 

Junge Welt, Helmut Höge, 27.10.2009 / Feuilleton / Seite 12

 

 

 

 

"PROJEKTIONSFLÄCHE FÜR PHANTASIEN"

 

Die Hamburger Kunststudentin Verena Issel, 27, hat zwölf ihrer männlichen Kommilitonen für ihr Kalenderprojekt "Art Boy 2010" ausgezogen. Ein Gespräch über Erotik, Kunst und die Krise.

 

art, 23. 10. 2009 ALAIN BIEBER, HAMBURG

 

Frau Issel, ist Ihr Kalender Kunst, Gag oder Masturbationsvorlage?

 

Verena Issel: Kunst ist theoretisch immer eine Art Masturbationsvorlage – für Sammler wie für alle Betrachter. Und wenn mein Kalender nicht ernst genommen wird, dann habe ich damit auch kein Problem: Das werden viele andere Künstler auch nicht. Ich finde, Kunst darf Spaß machen. Sie kann trotzdem etwas Ernstes oder Weitergehendes transportieren. Das ist für mich eines der Merkmale von Kunst. Aber ich meine das wirklich ernst mit dem Kalender. Für mich ist das eine künstlerische Arbeit. Kunst ist ein Seismograph, der auf die Gegenwart reagieren sollte. Und das tun die Art Boys.

 

Nackte Studenten als Gesellschaftskritik?

 

Der Aufhänger war für mich die Wirtschaftskrise. Ich wäre wahrscheinlich vor zwei Jahren nicht drauf gekommen. Und ich beschäftige mich in meinen sonstigen künstlerischen Arbeiten auch nicht mit Erotik. Aber der Kunstmarkt hat die Krise sehr deutlich gespürt. Viele von meinen Freunden haben ihre Galerien verloren, verkaufen keine Werke mehr. Und deshalb müssen sich die Künstler jetzt ausziehen, im übertragenen Sinne! Die einzige Branche in Deutschland, der es noch relativ gut geht, ist die Erotikbranche. Also warum sollte ich mich jetzt hinsetzen und kleine Bildchen malen? Ich sehe den Kalender als einen konzeptuellen Kommentar zur Gegenwart.

 

Eignen sich Künstler überhaupt für sexuelle Phantasien?

 

Alles und nichts taugt für sexuelle Phantasien. Es gibt wahrscheinlich auch Menschen, die finden Helmut Kohl erotisch. Aber Künstler bieten schon eine große Projektionsfläche, weil sie selbst Phantasien entwickeln und durch ihre Arbeit die Phantasie anregen. Und auch als Mensch: Bestimmt denken viele, das ist so ein Freigeist, der ist bestimmt viel offener.

 

Im Pressetext heißt es: "Dem männerdominierten Kunstmarkt sei hiermit ein Kalender hinzugefügt, der vieles erklärt und geraderückt." Was genau rückt der Kalender denn gerade?

 

Ich komme eigentlich aus Norwegen, dort ist man viel gleichberechtiger. Man kann eine stark geschminkte Politikerin sein und tiefe Dekolletés tragen, ohne dass sich daran jemand stört. Ich bin keine Feministin im wörtlichen Sinne, habe aber einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Und an der Hochschule sind wir bestimmt rund 70 Prozent Studentinnen. Aber wenn man sich den Kunstmarkt anschaut, dann gibt es nur sehr wenige Künstlerinnen. Deshalb wollte ich mal etwas für uns Frauen tun. Und deshalb würde ich auch keinen "Art Girl"-Kalender machen. Das würde an Biss verlieren. Als Frau ist man sowieso schon viel öfters in der Rolle des Objekts. Aber ich wüsste gar nicht, wo ich mir in Hamburg eine geschmackvolle Wichsvorlage besorgen könnte.

 

Und wer ist nun eigentlich der erotischste Künstler Deutschlands?

 

Das ist natürlich mein Freund, der auch Kunst an der HFBK studiert. Er ist übrigens der Dezember-Boy.

 

"Art Boy 2010", 12 Kalenderblätter, 4-farbig, 21 Euro, Textem Verlag 2009. Idee und Konzept: Verena Issel; Fotografie: Kathrin Brunnhofer; Fotografie des Oktobermodells: Fabienne Mueller; Gestaltung und Druckproduktion: Julia Gordon

 

www.art-magazin.de/szene/23645/art_boy_2010_nackte_kunststudenten

 

 

 

Hochstapler - Marionetten des Status quo

 

WDR, 20. 10. 2009, Mario Angelo

 

Die Nummern 8 und 9 des famosen Magazins "Kultur & Gespenster"

Version 1.0

 

 

Autor

Wir sind uns schon lange nicht mehr sicher. Ständig fragen wir

 

Ton 1

(Diverse Stimmen:) Echt? / Wirklich? / Jetzt echt? / Tatsächlich? / Ne? Echt? / Wirklich wahr? / Echt? / Jetzt wirklich, oder? / Echt? / Echt?

 

Autor

Nachdem die Welt dank technischer Entwicklung und Eskalation ein fortgeschrittenes Stadium ihrer technischen Reproduzierbarkeit erreicht hat, ist uns die Idee und Empfindung des "Echten" abhandengekommen, hat buchstäblich an Bedeutung verloren. Der kürzlich enttarnte Analogkäse imitiert mit seinen Pflanzenfettbestandteilen das genuine Milchprodukt. Echt? - Nein, dafür immerhin analog. Auto- und Maschinenbauer, Baumeister und Statiker prüfen die Materialsicherheit ihrer Konstruktionen in der virtuellen Realität von Computersimulationen. Echt? - Ja, einfach mal angenommen. Auf dem Buchmarkt reüssieren erfundene Tatsachenberichte. Echt ausgedacht. Wer eine fremde Gegend wie seine Westentasche kennt, muß nicht zwangsläufig (körperlich) dort gewesen sein.

 

Mit den zunehmenden Verwandlungsmöglichkeiten der dinglichen Welt haben sich auch deren Bewohner Camouflagen zugelegt, die Selbstschönfärbern und Selbstzweckdienern Überlebensgelegenheiten in Gestalt fingierter Existenzen eröffnen. So mancher Eigenartgenosse entpuppt sich als charaktersimulierender Möchtegern. Wer an sich selbst glaubt, muß nicht zwangsläufig der sein, den er uns glauben macht.

 

Blender, Bluffer und Bauernfänger, Hasardeure, Heiratsschwindler und Hochstapler sind geläufige Figuren, die die Wirklichkeit und ihre Abbilder in reicher Zahl bevölkern. In mannigfaltigen Masken pflegen sie den Betrug in Handel und Wandel. Unstudierte Ärzte und Rechtsanwälte, geschichtenlose Abenteurer, ahnungslose Anlageberater nähren sich eindrucksvoll von dem Umstand, daß der Schein unser Sein bestimmt. Die Welt will betrogen sein, sagt der Volksmund.

 

Ton 2

Was mich daran reizte, war, daß wie weit man Menschen kriegen kann, derartige Geschichten zu glauben und jeder hätte wissen müssen, das kann nicht sein.

Jürgen H., Hochstapler

 

Autor

Nun macht eine ungewöhnliche Zeitschrift darauf aufmerksam, daß die Facetten der Individualitätssimulation über das schnöde Betrugswesen hinausreichen und erzählt von den Gespenstern, "die am Rand der Medien die Kontrolle über ihre Identität riskieren, ob nun vorsätzlich oder unfreiwillig, als Kriminelle oder Doppelgänger, durch offizielles Photo-Shop-Lifting oder als virtuelle Investition."

 

Das dreimal jährlich in dickem Buchformat erscheinende essayistische Periodikum "Kultur & Gespenster" widmet jede seiner Ausgaben - streng und schräg, poetisch und sachlich, witzig und gehaltvoll - einem einzigen Thema. Manchmal wuchern die Ideen und Stimmen der ins Visier genommenen Gegenstände und die Herausgeber des extravaganten Magazins breiten ihr Thema über zwei Hefte aus. Die neue (und neunte) Ausgabe von "Kultur & Gespenster" setzt das (in der im Frühjahr erschienenen Nummer acht) begonnene Thema fort: Hochstapler.

 

Keiner kurzatmigen Aktualität verpflichtet, flanieren Autoren aus Literatur, Kunst und Kulturwissenschaft, Fotografen, Bildende Künstler, Comic-Zeichner durch das weite Terrain der Vortäuschung des Andersseins. Die beiden "Kultur & Gespenster"-Buchhefte addieren sich zu einem 480 Seiten starken Kompendium der Posen, Masken und Fassaden inszenierter Selbstbehauptungen.

 

Ton 3

Ich hatte nie ein Produkt. Ich hab nur Luft verkauft wie einen Traum.

Marc Z., Hochstapler

 

Autor

Roberto Ohrt erzählt in seinem Essay "Herr Ubu mit den blonden Zähnen" die Geschichte der ersten Direktorin des 1996 eröffneten Kopenhagener Kunstmuseums "Arken". Anna Castberg wurde 1948 in der dänischen Kleinstadt Holbaek geboren, ihr Vater war ein weltberühmter Atomphysiker namens Jörgensen, der in die USA auswanderte. Sie studierte in Oxford und an der Sorbonne. Sie promovierte in London in Kunstgeschichte, in Kopenhagen machte sie ihren zweiten Doktor. Anna Castberg beriet die Regierung der Tschechoslowakei bei Kunsteinkäufen, geriet im faschistischen Spanien Francos ins Gefängnis und wurde eineinhalb Jahre lang gefoltert und vergewaltigt. Nach der Freilassung heiratete sie einen amerikanischen Millionär und beriet als kundige Kunsthistorikerin die großen Londoner Auktionshäuser. Die dänischen Behörden waren von ihrer Biographie und ihren zahlreich vorgelegten Empfehlungsschreiben beeindruckt und kürten sie 1993 zur Herrin über das neue Museum ohne eigene Kunstbestände. Anna Castberg sollte mit ihrem ganzen Fachwissen und ihren glänzenden Kontakten in der internationalen Kunstwelt eine eigene gewichtige Kunstsammlung aufbauen.

 

Im Sommer 1996, kurz nach der Eröffnung des Hauses, kündigte der Museumsvorstand seiner autoritär und unnahbar regierenden Direktorin, weil sie nach drei Jahren noch immer keine greifbaren Ergebnisse vorweisen konnte. Anna Castberg, deren Aussehen alle, die mit ihr zu tun hatten, an Meryl Streep erinnerte, holte sich noch schnell zwei, drei Munch-Bilder aus dem nationalen Kunstdepot und verschwand spurlos. Der Ankaufsetat des Museums auch. Ihre Biographie hielt der Überprüfung nicht stand und löste sich in allen Details in Luft auf.

 

Ohrt entdeckt in der Geschichte der Museumsdirektorin Parallen zu anderen öffentlichen Figuren, die nach ihrer Ermächtigung auf die Bedingungen ihrer Vollmachten nicht mehr reagieren. Und er spannt in seinem Text einen Bogen von der Politik des bundesrepublikanischen Kohl-Systems und Alfred Jarrys "König Ubu" bis zu den konturlosen, ins Ungefähre strahlenden Politikern von heute und zu jenen deutschen Schauspielern, die vorwiegend Vertreter der Staatsgewalt spielen und bei Filmpremieren erzählen, wie sehr sie doch die Rolle aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz gestalten konnten, um am Ende die modernen Hochstapler als "mehr oder weniger Marionetten des Status quo" einzuordnen.

 

Ton 4

Ich war ja auch mal Arzt und da konnt' ich über alles mitreden. Und ich hab aber überhaupt keine Ahnung von Medizin, aber ich hab mal ein medizinisches Buch gelesen, ein medizinisches Fachbuch.

Torsten S., Hochstapler

 

Autor

In einer Fotogalerie der ersten "Hochstapler"-Ausgabe von "Kultur & Gespenster" montiert der Künstler Manuel Zonouzi Standfotos aus seinem Video "Elvis Beuys": Elvis Presley und Joseph Beuys in ähnlichen Mienen, Haltungen und Show-Posen parallell nebeneinander gesetzt: Elvis mit Teddybär, Beuys mit totem Hasen / Elvis als US-Soldat, Beuys in Wehrmachtsuniform / Elvis spielt Gitarre, Beuys formt eine Fettecke und so weiter. Zwei, die Kontrolle über ihre Identität auszuüben schienen und dabei einander verblüffend glichen.

 

 

Ton 5

Und das ist wichtig, wenn Sie betrügen wollen: Sie müssen die Geschichten einfach erzählen, nicht verkomplizieren. Die Geschichte muß einfach und logisch sein. Oder extrem unlogisch.

Marc Z., Hochstapler

 

Autor

Frank Apunkt Schneider von der österreichischen Künstlergruppe "monochrom" erzählt, wie er und seine Mitstreiter den fiktionalen Künstler und Schriftsteller Georg Paul Thomann kreierten, der als nicht-existierender Kulturschaffender in den Strukturen des Kunstmarktes beachtliche Bekanntheit erlangte und 2002 die Republik Österreich auf der Sao Paulo-Kunstbiennale in Brasilien vertreten durfte.

 

In einem Essay wird der größte Profiteur der gegenwärtigen Finanzkrise, der amerikanische Investmentbanker Bernie Madoff, der 65 Milliarden Dollar vernichtete, mit Alkibiades, einem Geliebten des Philosophen Sokrates in Beziehung gebracht, der sich ebenso wichtigtuerisch wie unnahbar in Szene setzte, goldene Sandalen trug und große Auftritte liebte, bis man ihn zum Oberbefehlshaber der griechischen Flotte ernannte - was deren Untergang zur Folge hatte. Der Autor dieses Textes kommt nach solchen und anderen Abschweifungen in die Geschichte des Persönlichkeitsplagiats zum finalen Verdacht: "Ist das Hochstapeln wohl - gehen wir zu weit? - ein Negieren der Sterblichkeit?"

 

Und zwischen solchen ausufernden und blitzgescheiten Essays aus dem Hier und Jetzt finden auch verblichene Autoren ihren Platz im Heft: Der Dadaist Walter Serner und sein "Handbrevier für Hochstapler und solche, die es werden wollen" zum Beispiel. Oder der österreichischen Erzähler und Publizist Karl Emil Franzos mit einem 1897 veröffentlichten Bericht über Peter von Boor, einem vermögenden Kaufmann und Kunstmäzen, der als geschätzter Freund Kaiser Franz Josefs und als hochangesehener, dem Gemeinwohl verpflichteter Bürger das österreichische Sparkassenwesen begründete und am Ende seines Lebens - im Alter von 71 Jahren - als lebenslanger Banknotenfälscher demaskiert wurde, dessen Tun erst auffiel, als er fast erblindet weiter fälschte und die Qualität seiner Blüten nachließ.

 

Jörg Schröder, der Gründer des März-Verlages und unverwüstliche Erzähler selbsterlebter Räuberpistolen, steuert der monumentalen "Hochstapler"-Doppelausgabe eine launige Geschichte aus der bundesrepublikanischen Unterwelt der 1970er Jahre bei: "Die Doktormacher". Er schildert die fantastische Karriere zweier Knastrologen und ihren schwunghaften Handel mit falschen akademischen Titeln, deren Urkunden tatsächlich auf den Maschinen der Gefängnisdruckerei in Butzbach verfertigt wurden.

 

Ton 6

Jeder hätte das überprüfen, jeder hätte das in Erfahrung bringen können: […] Es ist Kasperletheater, schlichtweg Kasperletheater. Aber das haben die Kunden nicht getan.

Jürgen H., Hochstapler

 

Autor

Die Texte in "Kultur & Gespenster" sind festen redaktionellen Rubriken mit kryptopoetischen Titeln zugeordnet: "Die Lust und die Notwendigkeit", "Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels" oder "Die sinnliche Gewißheit". Sie stammen - aus ihrem Zusammenhang gerissen - aus Hegels "Phänomenologie des Geistes".

 

Aus solchem Assoziationsmaterial läßt sich ablesen, daß die Zeitschrift von einem offenen Kultur- und Wissenschaftsbegriff lebt: Hochkultur und Trash genießen dieselbe Wertschätzung, theoretische Schwere darf in aller Fußnotenfestigkeit leicht daherkommen, akademischer Nuanciertheit ist Poesie gestattet. Und so läßt sich über die beiden wuchtigen "Hochstapler"-Themenausgaben sagen, was schon für die vorausgegangenen Hefte dieses unterhaltsamen Dickbrettbohrer-Organs galt: Sie sind ab- und vielseitig gehaltvoll, gründlich und streng, ausufernd und leidenschaftlich, klug und witzig, unterhaltsam und geistreich; und nicht zuletzt visuell modern, im besten Sinne graphisch unaufgeregt, abwechslungsreich, anmutig und ansprechend gestaltet. Die Texte sind allesamt sehr gut geschrieben, die meisten sogar saugut und in ihren frei flottierende Argumentationslinien immer wieder überraschend und dabei gleichermaßen triftig wie frappant.

 

Ton 7

Auf der anderen Seite macht es mir natürlich Angst, weil es zeigt, daß mein Umfeld, die Welt, in der ich bin, eine Welt ist, die auf keinem realistischen Boden mehr steht.

Jürgen H., Hochstapler

 

 

Autor

Die ungelernten Hochstapler von einst seien heute die flächendeckend agierenden Fachhochstapler, die in biederer Seriosität ihren Geschäften nachgehen, schreibt einer der Kulturgespenster-Autoren, Hochstapelei sei mittlerweile "krudes Expertentum und eben nicht mehr das große Theater."

 

Der steigende Grad von Virtualität und Fiktionalität, der das System der Bewertungen, die Übereinkünfte über die Bedeutung von Vertrauen und Mißtrauen verändert hat, zwingt uns, die eigene Identität und Persönlichkeit ständig in Frage zu stellen und geschmeidig den neuen Gegebenheit anzupassen. "Damit", notiert der Autor, "wurden die Fähigkeiten des Hochstaplers gleichsam aus der Illegitimität überführt in die Anforderungsprofile für das moderne Management, der Wunsch, ein anderer zu sein, ist übergegangen in die Aufforderung, immer anders zu sein."

 

Wie gesagt: Wir sind uns schon lange nicht mehr sicher. Ständig fragen wir

 

Ton 1 (Reprise)

(Diverse Stimmen:) Echt? / Wirklich? / Jetzt echt? / Tatsächlich? / Ne? Echt? / Wirklich wahr? / Echt? / Jetzt wirklich, oder? / Echt? / Echt?

 

(Die Originaltöne 2 – 7 stammen aus dem Presskit des 2006 vom Bayrischen Rundfunk produzierten Fernsehdokumentarfilms “Die Hochstapler“ von Alexander Adolph. Die Musikfragmente sind aus John Williams Filmmusik von Steven Spielbergs “Catch me if you can“)

 

 

 

 

Kalender der Woche

 

 

Es geht auf Ostern bzw. Weihnachten zu, Geschenkedanken gewinnen täglich an Dringlichkeit, auch steht schon Neujahr vor der Tür: Insofern scheint die Zeit reif, den Kalender der Woche zu küren.

Blicken wir in den großen Katalog namens eBay, so finden wir mehr als 11000 Angebote; die Jury hat es alles andere als leicht. Soll es 2010 der Schnuffelbären-Wandkalender sein? Der Frettchen-Fotokalender? Oder gar der vampürierte Zwielicht-Kalender - zum Umblättern, bevor es hell wird?

Zum Glück strömt in dem Moment der Verwirrung eine E-Mail von textem.de herein. Der »kleinste und unbekannteste Verlag« Deutschlands bringt zwölf ArtBoys, das Motto lautet krass: »Studierende der freien Künste geben sich die Blöße.« Die Künstler orientieren sich an Motiven von Barnett Newman, Franz Erhard Walther, Malewitsch oder Picasso. Im Bohrmaschinenmaschinisten des Monats Mai glauben wir die Mona Lisa wiederzuerkennen, aber wir können uns natürlich täuschen.

 

ArtBoy Kalender 2010

12 Kalenderblätter, 4-farbig, Wire-O-Bindung, 4-farbig, 21 Euro

Textem Verlag 2009

ISBN: 978-3-938801-85-7

textem.de/1865.0.html

 

DIE ZEIT Nr. 44, 22. Oktober 2009, Seite 22

 

 

Philosophische Light-Produkte

 

artnet, 17. September 2009

 

Michaela Ott / Harald Strauß (Hg.): „ÄSTHETIK + POLITIK. Neuaufteilungen des Sinnlichen in der Kunst.“ Querdurch – Schriftenreihe der Hochschule für bildende Künste Hamburg, Textem, Hamburg 2009, ISBN 978-3-941613-00-3, 250 Seiten, zahlreiche s/w- und farbige Abbildungen, 16,90 Euro

 

Jede Kritiker-Generation hat ihren Lieblings-Kritikerguru. Eine Zeit lang kam kein Autor, der sich philosophisch-psychoanalytisch rückversichern wollte, ohne den Namen Jacques Lacan aus. Dann wurde Giorgio Agamben mit seinen Konzepten der „Biopolitik“ und des „Nackten Lebens“ zum Stichwortgeber der politisch diskursbewussten Kunstszene. Seit einiger Zeit kommt diese Rolle dem 1940 geborenen Jacques Rancière zu. Sein Schlagwort von der „Aufteilung des Sinnlichen“ scheint den Zeitgeist zu treffen, obwohl nicht einfach zu verstehen ist – und wohl auch nicht von jedem verstanden wird –, was der Autor damit überhaupt meint.

Rancières eher komplizierte Diktion suggeriert gleichwohl das Versprechen, das immer wieder zur Debatte stehende Verhältnis von Kunst/Ästhetik und Politik auf fruchtbare Weise zu fassen: „Kunst ist weder politisch aufgrund der Botschaft, die sie überbringt, noch aufgrund der Art und Weise, wie sie soziale Strukturen, politische Konflikte oder soziale, ethnische oder sexuelle Identitäten darstellt. Kunst ist in erster Linie dadurch politisch, dass sie ein raum-zeitliches Sensorium schafft, durch das bestimmte Weisen des Zusammen- oder Getrenntseins, des Innen- oder Außen-, Gegenüber- oder in-der-Mitte-Seins festgelegt werden. Kunst ist dadurch politisch, dass sie einen bestimmten Raum und eine bestimmte Zeit aufteilt.“ In weniger abstrakten Worten: Kunst ist politisch, weil sie das, was Rancière unter Politik versteht, auf ästhetischer Ebene vollzieht, nämlich nicht Stabilisierung der herrschenden Mächte, sondern Angriff auf die herrschenden Einteilungen in Macht/Ohnmacht, Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit, eine Stimme haben/nicht gehört werden. Politik und Kunst sind für ihn dann „gelungen“, wenn sie die herrschende „Aufteilung des Sinnlichen“, die auch eine Herrschaft über die Wahrnehmung ist, erfolgreich konterkarieren.

Aber wie lässt sich Rancières Theorie sinnvoll und konkret auf die heutige Kunst beziehen? Dieser Frage ging ein Symposium an der Hochschule für bildende Künste Hamburg nach, das dem vorliegenden Band zugrunde liegt. Auch Rancière selbst kommt zu Wort und führt Beispiele von ihm geschätzter Kunst an. So rühmt er einen Film des Portugiesen Pedro Costa, der um eine Gruppe von Menschen in einem vorwiegend von kapverdischen Einwanderern bewohnten Stadtteil von Lissabon kreist. „Auch in dieser Arbeit ist die Verbindung von Kunst und Leben vermittelt durch die Kombination unterschiedlicher Formen der Textualität, verschiedener Räume, verschiedener Zeitlichkeiten“, so Rancière lobend.

Und wie sieht die Situation in Deutschland aus? Schlecht, wenn man Hans-Joachim Lenger glauben will. Als Beleg führt er eine Aktion der Hamburger Sparkasse an, die rote Liegestühle am Hauptbahnhof aufgestellt hatte, um damit für ihre Produkte zur Altersvorsorge zu werben. Allerdings ließen sich darauf genau die Menschen mit ihren Hunden und Flachmännern nieder, die dort ansonsten „herumlungern“ und aus allen Ver- und Absicherungssystemen herausfallen. Wer braucht die Kunst, so das Resümee von Lenger, wenn eine kraftvolle neue Aufteilung des Sinnlichen schon ohne jeden künstlerischen Eingriff durch das Zusammentreffen sozialer Kräfte an einem Ort entstehen kann?

Um die Sichtbarmachung von Tätigkeiten, die von Frauen verrichtet werden und auch immer noch aus der offiziellen Definition von Arbeit und Berufstätigkeit herausfallen, geht es im Beitrag Marion von Ostens. Sie verweist auf Helke Sanders vor dreißig Jahren produzierten Film Redupers. Die allseitig reduzierte Persönlichkeit, der anschaulich vor Augen führt, dass Frauen ökonomische Nachteile teilweise durch die „Selbstverwirklichung“ in „kreativen“ Berufen kompensieren und sich damit paradoxerweise freiwillig zusätzlich selbst ausbeuten. Hanne Loreck untersucht das Unterlaufen von Geschlechterrollen und die humoristische Vermummungsstrategie von Globalisierungsgegnern. So dient die Clownsmaske ihrer Meinung nach dazu, politischen Aktionismus gleichsam künstlerisch zu verkleiden. Der Clown stünde mit seiner Unberechenbarkeit für eine Form des politischen Hinterhalts und gilt ihr trotz seines rebellischen Charakters, „trotz seines subkulturellen Erfolgs“ als „das Symptom einer Wende von den kritischen Differenzdiskursen hin zur anthropologischen Sicht auf Kulturen und Gesellschaften und deren aktuelle Affektbezogenheit“. Spannend wäre es gewesen, dieser Diagnose mit Rancières Thesen konkret zu begegnen. So muss der Leser selbst den Anschluss suchen.

Und wenn Anna-Lena Wenzel als biedere Apologetin von Roger M. Buergel die „Aufteilung des Sinnlichen“ schließlich in der Neuaufteilung der Kasseler Ausstellungsorte auf der documenta 12 walten sah, könnte man bald auf die Idee kommen, auch verschiedene taktische Aufteilungen des Fußballfeldes mit Rancière zu begründen. Aber vielleicht weist schon die Herausgeberin Michaela Ott auf einen falschen Weg. In ihrer Einleitung untersucht sie Andreas Gurskys Fotografien von Massenveranstaltungen wie einem Rave oder dem Börsenparkett nach Rancière‘schen Kriterien. Gursky ließe zwar ansatzweise die Utopie einer kommenden Gemeinschaft aufscheinen, so Ott, aber durch die Aufsicht und Ausschnitthaftigkeit seiner Fotos bestätige er doch nur den kontrollierenden Blick, der nach Rancière die „Strategie der Polizei“ ist und gegen die sich das Streben nach Neuaufteilung und Ausdifferenzierung des Sinnlichen doch immer richten würde.

Aber lässt sich Rancières Theorie so einfach formanalytisch „anwenden“? Und hätte es ihrer bedurft, um die an den Bildern gemachten Beobachtungen sinnvoll zu begründen? Ähnliches gilt für das Foto eines benutzten Doppelbettes, das Felix Gonzalez-Torres wie ein Werbegroßplakat in Manhattan ausstellte und das Harald Wetzel in seinem Essay unter die Lupe nimmt: Es würde auf geniale Weise herkömmliche „Aufteilungen“ von Intimität und Öffentlichkeit durchkreuzen und durch die Abwesenheit der Menschen auch auf den Verlust eines Intimpartners durch Aids verweisen, die Krankheit, an der Gonzales-Torres selbst 1996 starb. Damit aber von Rancières philosophiegeschichtlich gesättigter Theorie mehr als ein paar beliebig anwendbare Schlagworte übrig bleiben, muss man sie auch so gründlich lesen, wie es die im Band vertreten Fachphilosophen Dieter Mersch und Harald Strauß getan haben, die Bezüge seines Denkens zu Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder Martin Heidegger herausarbeiten.

Erstaunlich ist, dass jemand, dessen Theorie sich zum Heruntertransformieren so wenig eignet, eine derartige Konjunktur als Modeautor des aktuellen Kunstdiskurses verzeichnet. Zumal Rancière zur heute besonders drängenden Frage des Ökonomischen im Verhältnis zu Kunst und Politik eher wenig zu sagen hat. Somit ist auch diese Publikation ein weiterer Beleg für die Tendenz vieler Kritiker, sich an philosophische Schwergewichte anzudocken, ohne deren Gedankengebäude wirklich durchmessen zu haben. Die vielleicht wichtigste Erkenntnis dieses Buches ist also, dass man auf „Rancière light“ gleich ganz verzichten kann.

 

Ludwig Seyfarth www.artnet.de

 

 

 

Kultur & Gespenster

 

Deutschlandradio Büchermarkt vom 29. 6. 2009

 

Hubert Winkels und Enno Stahl über das Magazin "Kultur & Gespenster"

 

http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2009/06/29/dlf_20090629_1610_4b868760.mp3