Zeitschriftenschau

 

In der elften Ausgabe von Kultur & Gespenster geht es um Drogen. Dem Heftschwerpunkt vorangestellt ist die unbedingt lesenswerte Abschiedsvorlesung "Gymnasiale Kulturhistorie als Weg in die Soziologie" des in diesem Jahr 75jährig verstorbenen Katastrophenforschers Lars Clausen, die 2003 erstmals im Mitglieder-Rundbrief der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft erschien. Clausens Anliegen ist es, den Kieler Erstsemestern vor seiner Emeritierung vor dem Hintergrund seiner soziologischen Laufbahn und doch konkret und nahezu leiblich nachvollziehbar zu machen, wie es sich anfühlte, 1948-54 in Hamburg Teenager zu sein, und welche Erfahrungen wie und vor welchem Hintergrund für ihn (und seine Kohorte) bedeutsam waren, ihn geprägt haben. "Knickende Gewissheiten" ist ein Kapitel überschrieben, untergliedert in "Gar kein Führer mehr", "Weder Deutschland noch Reich", "Ohne Preußen", "Hanseatische Alternative".

Karla Schneider schrieb mir neulich über ihr neues Kinderbuch-Projekt: "Mein Anliegen ist in etwa, den Kindern der ferngeheizten Wohnungen und der Autos mit Klimaanlage von der eisschranklosen Hitze der Sommer damals zu erzählen. Und von den Wintern mit 17 Grad Kälte in so gut wie ungeheizten Wohnungen. Den Kindern der Supermärkte von der Rationierung praktisch aller Dinge des Lebens zu erzählen. Und wie wenig 'behütet', verglichen mit heute, man damals als Kind lebte. Dass stundenlanges unbeaufsichtigtes Streunen normal war, ebenso die Ansicht, Kinder unterschiedlichen Alters könnten sehr wohl auf sich selbst aufpassen. Dass Finden tausendmal erhebender war als Geschenktkriegen. Auf welcher anderen Basis die Genussfähigkeit stand. Dass man, wenn man sein Herz an jemanden hängte, man total ungeleitet (d.h. ohne Fernsehszenen als Vorbild) liebte, phantasievoll und eigentlich ganz ohne Erwartung von Gegenleistung. (Ich meine natürlich vor der Pubertät!)" - so muss man sich auch Clausens Vorlesung vorstellen, freilich ins Intellektuelle gewendet und für ein junges akademisches Publikum.

 

Am Erker, Heft 60

 

 

Genie und Drogen

 

...

 

Dass die damit verbundene Debatte, ob nicht die kreative Entfaltung durch Rauschmittel zwangsläufig zum Persönlichkeitsverlust führen müsse, in diesen Wochen neuen Auftrieb erfährt, dürfte sich nicht zuletzt mit dem jüngsten »Kultur & Gespenster«-Heft aus dem Hamburger Textem-Verlag erklären: »Drogen & Drogen«. Allein die Liste der beteiligten Autoren und Künstler, darunter Diedrich Diederichsen, Hubert Fichte und der bekennende Grasraucher und Koksdiskurser Tim Stüttgen, spricht Bände.

Zusammengestellt hat das längst in jedem gut sortierten Laden konsumbereit, gleichwohl nur mit einer ungefährlichen Mineralien-Leckstelle versehene Quartal-Magazin kein Geringerer als Hans-Christian Dany (in Kooperation mit Max Hinderer), der unumstrittene Drogen-Papst unter den deutschen Kunstjournalisten. Die Pop-Literaten – von Rainald Goetz bis zu Benjamin von Stuckrad-Barre – plänkeln bekanntlich seit knapp 20 Jahren mit dem Drogen-Thema.

Ein uralter Stoff. Der scheint zur Zeit neu zu wirken, weil sich das gesellschaftliche Umfeld verändert hat. Schniefte und/oder spritzte sich der existenzielle Draufgänger noch in den Achtzigern nicht selten in die Abhängigkeit und häufig in den sozialen Abstieg, scheint mittlerweile das Gros der Drogen, ob illegal oder legal, allgemein verfügbar, zum Freizeitprogramm einer im Kulturellen berufstätigen Szene zu gehören.

 

...

 

www.lindinger-schmid.de/documents/KUNSTZEITUNG_11_2010_Titelstory.pdf

 

 

 

Textem-Autoren

 

Den Textem-Verlag muss man allein schon mögen, weil er eine Zeitschrift mit dem wundervollen Namen „Kultur & Gespenster“ herausgibt. Aber auch Bücher erscheinen bei den Hamburgern, gleich zwei davon kann man nebst ihren Autoren jetzt kennenlernen: die Schriftstellerin, Foto- und Audiografin Gabi Schaffner (Foto) liest aus ihrem Erzählband „Narzissen“ und der Diplompsychologe Roger Künkel aus seinem Geschichtenband „Heft Grün“.

 

Afrika-Haus, Mi 10.11., 20 Uhr, 3 €

 

Zitty Berlin, November 2010

 

 

Ahoi

 

Als die Koreanerin Kyung-hwa Choi Anfang der 90er Jahre nach Deutschland kam, hängte sie bald den Seemansgruss „Ahoi“ an ihren Nachnamen, dessen Klang sich die Menschen in ihrem neuen Umfeld sonst nie merken konnte. Choi-Ahoi wurde ihr Künstlername. Sie studierte Kunst in Hamburg und begann um das Jahr 2000 herum ein leichtes, in der Konsequenz aber monumentales Projekt: Sie nahm sich vor, jeden Tag eine Zeichnung zu machen, jeden Tag in ihr Tagebuch zu schreiben. Etwa 5000 Blätter entstanden so im Laufe der Zeit. Es kann ein Becher mit „reiner Buttermilch“ sein, der für einen Tag einsteht, ein Entenschwarm, ein abstraktes Sternemuster oder eine clowneske Traumszene.

 

Die Tagebuchtexte verfasst sie auf Deutsch, einer Sprache, die sie erst lernte und die sich ihrem Zugriff zuerst sträubend verweigerte. Nach und nach entwickelte Choi-Ahoi jedoch eine eigene sprachliche Kreativität, so kann ein Tag bei ihr „nasenspitzig kalt“ sein oder das Bett „linkswändig“ voller Sachen liegen.

 

Aus allen Blättern und Texten der letzten zehn Jahre legt sie nun eine Auswahl vor, die so gewählt ist, dass Einträge aus verschiedenen Jahreszeiten so hintereinander geschnitten sind, dass sie wie ein einziges Jahr ablaufen. Wir lernen Choi-Ahoi im tiefsten Winter kennen, in ihrem ersten 12 Quadratmeter grossen Wohnheimzimmer, in dem sie lebt und arbeitet. Wir können ihrer Integration in das neue Land quasi zukucken, beobachten, mit wen sie sich anfreundet und können sie auch bei ihrem ersten europäischen Kuss begleiten, bei dem die ungewöhnlich lange Nase ihres Gegenübers neue technische Herausforderungen stellt. Mit Nikos, einem griechischen Künstler, kommt schliesslich die Liebe in ihr neues deutsches Leben. Dieses kleine Künstlerbuch ist also gleichzeitig Tagebuchroman und erzählerisches On Kawara-Projekt, berührt uns jedoch auch als Dokument einer Annäherung an Europa.

 

Nina Zimmer, Basler Zeitung 24. September 2010

 

Kyung-hwa Choi –Ahoi, »Augenarzt und Uhrmacher«, hrg. von Troittoir, Redaktion Nora Sdun, Textem Verlag, 16 Euro www.textem-verlag.de

 

 

„Zeigen, verletzen, queere Bewegungen“

 

"Visuelle Lektüren / Lektüren des Visuellen" ist ein Bilderlesebuch in vielfacher Hinsicht. Das von Hanne Loreck und Katrin Mayer herausgegebene Buch, 2009 im Textem Verlag und im Material Verlag Hamburg erschienen, arbeitet auf verschiedenen Ebenen an der Materialität visueller Repräsentationen und will sich auch so lesen lassen. Denn „Bild-Praktiken, Bild-Prozesse, Bild-Verhältnisse“ (Einleitungstitel) werden auf der Ebene der ausgewählten Texte ebenso wie auf der Ebene ausgewählter visueller Arbeiten analytisch verhandelt. Zudem thematisiert auch die Buchgestaltung Flo Gaertners (visuelle) Prozesse des Herstellens von Bedeutung. Die programmatische Einleitung der Herausgeberinnen positioniert das Buch in einem deutschsprachigen Feld spezifisch. Sie plädiert für „eine der Intertextualität vergleichbare Intervisualität oder Interikonizität“ und dafür, aufmerksam zu sein für „die für jeden kritischen Bilddiskurs notwendige Durchkreuzung des Feldes des Sichtbaren mit den Differenzkategorien Geschlecht, Ethnie, des Sozialen, Sexuellen, Kulturellen und Medialen“. Damit richtet sie sich explizit gegen die in den letzten Jahren im deutschsprachigen wissenschaftlichen Feld voranschreitende Etablierung eines „neue[n] kulturelle[n] Leitparadigma[s] Bild“, die so tut, als hätte es queer-feministische, antirassistische und poststrukturalistischen Kritiken und Theorien visueller Repräsentation nie gegeben.

 

Mich hat eine Dimension des Buches speziell interessiert: „Zeigen, verletzen, queere Bewegungen“ ist ein Untertitel des Texts Ulrike Bergermanns über das „Ausstellen von Dis/Ability“, der die Überlegung aufgreift, dass jeder verletzende Sprechakt wiederholt werden muss, um mit ihm umzugehen, und es dabei eine Form zu finden gilt, die das Verletzungspotenzial nicht neuerlich bekräftigt sondern bricht. Sabine Ritters Text „Misreading Sarah Baartman“ schreibt davon, wie „die Präsentation der Bilder von der ,Hottentottenvenus‘ in rassismuskritischer Absicht sich durch fehlende Kontextualisierung nahezu ins Gegenteil ihrer ursprünglichen Intention verkehren kann: Statt Wahrnehmungsmuster aufzubrechen, werden diese bloß reproduziert“. Das lesend, beschäftigt mich die grafische/gestalterische Entscheidung, bei den beiden für das Buch ausgewählten Texten, die präzise die rassistische Geschichte unseres visuellen Archivs thematisieren – Ritters Text und Kerstin Brandes Text über „Exotismus, Elitismus und die Grenzen des Erträglichen“ –, die besprochenen Bilder aus dem Textzusammenhang zu lösen und als eigenen Bildteil dem Text hintan zu stellen. Die Beiträge inszenieren somit das Dilemma exemplarisch: Wie das Verletzende, Beleidigende, Gewalttätige thematisieren, ohne es zu wiederholen? Denn warum wird an dieser Stelle ein kritisches Bildhandeln an die nur scheinbare Neutralität eines wissenschaftlich-aufklärerischen Herzeigegestus abgeben? Am Ende des visuellen Teils des Beitrags Sabine Ritters, der aus auf Briefmarkengröße verkleinerten Bildern besteht, steht ein überraschendes Bild – leider ebenso klein reproduziert wie die gewalttätigen visuellen Beleidigungen davor: Einer Installation von Carla Williams, „Untitled“, aus „How to read Character“, 1990 – 91 (Gelatine Silbedrucke und Fotokopie, Goldrahmen), die auf der visuellen Ebene Rassismus zitiert, benennt, verschiebt und bricht – paradigmatisch!

 

Weitere Bild- bzw. Textbeiträge von Michala Melián, Katrin Mayer, Sandra Schäfer, Elfe Brandenburger, Mareike Bernien, Kerstin Schrödinger, Elke Zobl, Eske Schlüters, Eva Meyer, Hanne Michaela Ott, Marie-Luise Angerer, Andrea Seier, Claudia Reiche und Michaela Wünsch.

 

 

Loreck, Hanne/Mayer, Katrin (Hg.): Visuelle Lektüren \ Lektüren des Visuellen. Hamburg: Textem Verlag, Material Verlag 2009. 2. Band der Schriftenreihe „querdurch“ der Hochschule für bildende Künste Hamburg. www.textem.de/index.php

 

Johanna Schaffer, Malmoe 2010 (Printausgabe 50)

www.malmoe.org/artikel/erlebnispark/2069

 

 

 

Visuelle Lektüren

 

VL: Wie ein Logo stechen die Großbuchstaben auf dem Cover aus zwei veilchenblauen diagonalen Streifen hervor – auf der Rückseite, komplementär: LV. Bereits der Blick auf den Buchumschlag verrät, dass hier die Relationen zwischen Textuellem und Visuellem veranschaulicht werden sollen.

Der Band geht aus dem gleichnamigen Symposium hervor, das hochschulübergreifend durch das Graduiertenkolleg „Dekonstruktion und Gestaltung: Gender“ an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg Ende 2006 initiiert wurde. Konzipiert als eine Auswahl der Vorträge in Kombination mit künstlerischen Beiträgen und ergänzenden Texten, zeichnet VL\LV die sich derzeit akkumulierende Beschäftigung mit visueller Kultur nach und legt zugleich die Werkzeuge der eigenen Untersuchung offen. Die Einleitung der Herausgeberinnen fasst zunächst einige Diskursetappen seit dem Pictorial Turn zusammen, die den Themen- und Problemkomplex Bild/Visualität & Text/Verbalität begleiten. Verfolgt werden hier jene wissenschaftspolitischen Debatten, die dies- und jenseits des Atlantiks das „Bild“ zum neuen „kulturellen Leitparadigma“ werden ließen, um es schließlich als Lemma für eine neue Reihe von transuniversitären Sonderforschungsbereichen und Exzellenzzentren emporzusteigen zu lassen. Entgegen einem anthropologischen Verständnis vom Bild spürt der Band der nachhaltigen Produktivität von repräsentationskritischen Differenztheorien nach und entgeht somit sowohl der Tendenz zum Universaldenken als auch dem Versuch, zu einer Ontologisierung des eigenen Forschungsobjekts zu gelangen, wie sie etwa mit der Frage „Was ist ein Bild?“ (Gottfried Boehm) beschworen wurde.

Stattdessen betonen die Herausgeberinnen ihre Auffassung vom Lesen wie Sehen als Wahrnehmungsperformanz, die den Vorrang des Visuellen insofern zu problematisieren vermöge, als dass dadurch Bilder selber als Teilnehmer und (Co)Produzenten gesellschaftlicher Prozesse verstanden werden. Hierbei werden Modi des Bilder-Lesens vorgeschlagen, die „ihr Objekt als Bestandteil einer oder mehrerer (Wissens- und ästhetisch-medialer) Kultur(en) begreifen“. Wie lässt sich nun dieses Programm aus den ausgewählten Beiträgen des Bandes ablesen?

Für Symposien aufbereitende Publikationen eher unüblich sind zunächst einmal die visuellen Beiträge, die die LeserInnen zu einem eingehenden Durchblättern animieren. Visuell verhandelt werden hier Grenzen und Reibungen zwischen Repräsentation und Alltagserfahrung. Als assoziative Zusammensetzung von Bildern heterogener Herkunft entwickelt sich etwa Katrin Mayers Beitrag Self Self Self Creation. Entlehnt ist der Titel dem gleichnamigen Buch von Dr. George Weinberg, einem Psychologen und Psychotherapeuten, der 1978 zur eigenen Konstruktion des Selbst aufrief. Das beschwörungsvolle Cover von Weinbergs Bestseller ist eingebettet in Mayers Bildkonstellation, die es mit einer Folge historischer Aufnahmen u.a. zur Beinbemalung mit Kaffeeersatz (in Ermangelung von Nylonstrumpfhosen) und Bildern einer eigenen Performance kombiniert und bricht. Im Beitrag drawing the curtains spannt die Künstlerin Eske Schlüters einen Bogen des Zeigens und Verbergens. Er reicht von filmischer Rahmung (Kadrierung) über borromäische Knoten als Anordnung von nicht abschließbaren Ringen – die Lacans Veranschaulichung der Trias von Realem, Symbolischem und Imaginärem in Erinnerung ruft – bis hin zur filmischen Darstellung des als Frau geborenen Jazzmusikers Billy Tipton (in The Invisible Man, 1933).

In Mareike Berniens und Kerstin Schroedingers Es handelt sich um eine Verwechslung. Gute Nacht steht der Text im Vordergrund: zweispaltig auf Linienblatt gefasst, suggeriert er insofern aber zugleich eine visuelle Lektüre, als dass er, wie in einem Drehbuch, Dialoge mit Kameraanweisungen kombiniert. Auf dieser Weise veranlasst er, den eigenen Film im Kopf zu drehen. Mit Passing the Rainbow war Sandra Schäfer und Elfe Brandenburger 2008 ein Film gelungen, der über Handlungsfähigkeit von Frauen in Kabul nach dem Talibanregime redet und dabei zugleich sein eigenes Entstehen reflektiert. Auf diesen doppelten Sachverhalt verweist auch der schöne Untertitel Staging Gender in Kabul. Gewährt werden Einblicke sowohl in die sich bei den Dreharbeiten entwickelnden zwischenmenschlichen Beziehungen als auch in die sukzessive Teilhabe afghanischer Frauen am öffentlichen Leben. Die Bild- und Textfolge bietet einen Blick hinter die Kulissen und gibt z.B. Auskunft darüber, mit welchen filmstilistischen Mitteln Szenen verfremdet wurden, um die Identität eines im Film mitspielenden Mädchens zu verbergen. Spürbar wird v.a. beim Reenactment einer Demonstration, wie die Grenzen zwischen Rolle und eigenem Leben verwischen, zumal die Schauspielerinnen/Bewohnerinnen oft in den eigenen Wohn- und Arbeitsorten Kabuls agierend gefilmt wurden. Gerade durch solche „entangled histories“ bietet dieser Beitrag einen überzeugenden Gegenentwurf zur Praxis des „Othering“, der Festschreibung des Anderen als identitätsverstärkende Differenz zum Eigenen.

Die vielschichtige Einbettung vorhandener Bilder in neue Konstellationen im Band VL\LV verdeutlicht, wie die Bildpräsentation – Layout inklusive – Bedeutung produziert bzw. eine signifikante aber potentiell unabgeschlossene Lesart konstituiert. Die ausführlichen Bildnachweise bzw. Textfolgen, die die visuellen Beiträge begleiten und diese explizit einem kulturellen, technisch-medialen bzw. sozialpolitischen Diskurs zuordnen, eröffnen weitere Deutungsebenen.

Ganz im Sinne des im Titel enthaltenen Chiasmus gewinnt die Publikation an vergleichenden Lesarten, wenn durch die Textbeiträge in den Blick genommen wird, auf welcher Weise Bildpraktiken an gesellschaftlichen Lesarten teilhaben. Nicht unähnlich den Visual Culture Studies untersuchen viele kultur- und medienwissenschaftlich orientierten Beiträge Modi der Bildlektüre: in Werbung (Kerstin Brandes), Literatur (Eva Meyer), Fernsehen (Andrea Seier, Ulrike Bergermann) sowie im Bereich Film (Michaela Ott, Michaela Wünsch).

In Bezug auf Lifestyle-TV-Formate bezeichnet die Medienwissenschaftlerin Andrea Seier etwa televisuelle Formen der Selbstführung als „Fernsehen der Mikropolitiken“, womit sie die These eines wechselseitigen Konstitutionsverhältnisses von Selbst- und Medientechnologien untermauert. Diese These ist reizvoll, zumal sich Seier hiermit gegen die (auf einem repressiven Machtmodell basierende) These einer Invasion der Medien in die Privaträume von ZuschauerInnen richtet – und so auch gegen die medienwissenschaftlich vertretene Version einer Entgrenzung von Öffentlichkeit und Privatheit.

Kerstin Brandes Beitrag beschäftigt sich mit der 2005 gestarteten Hörzu-Anzeigenkampagne Irgendwann nimmt man nicht irgendwas, deren Untertitel lautete: „Machen Sie keine Kompromisse, auch nicht am Kiosk“. Die von vielen als rassistisch bzw. sexistisch wahrgenommene Kampagne löste eine heftige Protestaktion aus. Insbesondere das Bild, auf dem ein weißer Mann in Manager-Anzug eine dunkelhäutige Frau in Sari-Seidenkleid samt Halsschmuck und Unterlippenplatte im Arm hält, sorgte für Ärger. Brandes erörtert, wie prekär Grenzen sind, die „zwischen dem Aufmerksamkeitsauftrag von Werbung und der Wahrung eines ethisch Vertretbaren sowie zwischen Regimen normalisierender Bedeutungsproduktion und den Bedingungen ihrer Kritik und Subversion verlaufen“.

Es sind diese Ambivalenzen, auf die bereits Graham Huggan mit dem Terminus der „global alterity industry“ hingewiesen hatte. Sie liegen darin begründet, dass postkoloniale Konzepte wie Hybridität, Subalternität und kulturelle Differenz konsumgängig geworden sind, und eben auch Werbe- und Marketingabteilungen von ihnen profitieren. Als ideales Pendant zu Brandes Beitrag bietet sich sodann der Text der Sozialwirtin und Kriminologin Sabine Ritter Misreading Sarah Baartman an. Hier werden historische Bildpraktiken als Missdeutungen der sog. Hottentottenvenus, die seit Ende des 18. Jh. als Projektionsfläche sexistischer Lust und rassistischer Neugier diente, rezeptionsästhetisch verfolgt.

Einen lebendigen Eindruck aus der Welt alternativer feministischer Magazine bietet Elke Zobl in ihrem vielstimmigen Bericht über „Zines“. Unbürokratischer als andere Publikationsformen erlauben die selbstständig produzierten Grrrl- bzw. Fem Zines kritische Perspektiven, die ‚sie zu „‚messy’ Orten des spielerischen und selbstermächtigenden Ausprobierens“ an der Grenze zwischen Repräsentation und Realem machen.

Anhand der Begriffe „Auto&Biografie“ (Renate Berger) und Geschwisterbeziehung (Juliet Mitchell) behandelt Hanne Loreck die (a)symmetrische Beziehung zwischen der Popikone Madonna und der Kunstikone Cindy Sherman. Loreck betrachtet autobiografisch gefärbte Erzählmomente in der Vita beider Frauen(figuren), und zwar ausgehend von deren Kindheit im Amerika der Eisenhower-Ära. Sie nimmt eine explizite Lektüre des Visuellen vor, wenn sie ein Foto der beiden „peers“ analysiert, das Madonna und Sherman im MoMA anlässlich Shermans Ausstellung der kompletten Untitled Film Stills im Jahre 1997 zeigt. Dieses Foto ist brisant: Die Ausstellung Shermans war erst durch eine hohe Spende Madonnas ermöglicht worden. Die Betrachtung der Beziehung der beiden im Horizont einer Schwesternschaft (sisterhood) oder „Wahlverwandtschaft“ ermöglicht, sie als zwischen „Mimesis, Zuneigung, Aneignung und Rivalität“ schwankend zu denken. Das Spiel der Wiederholungen und Variationen im Bilderset der gegenseitigen An- und Enteignung wird – aus dem für die Autobiografie als Maskenspiel typischen „Geben und Nehmen von Gesichtern“ (Paul de Man) – bei Sherman und Madonna geradewegs zu einer „Metamaskerade“ (Loreck), die sich zwischen Kanon und Fiktion bewegt.

Der Beitrag der Kommunikationswissenschaftlerin Marie-Luise Angerer zählt – trotz seiner komplexen psychoanalytischen, neurowissenschaftlichen und philosophischen Bezüge – aufgrund seiner diagnostischen Schärfe zu den besonders aufschlussreichen Lektüren dieses Bandes. Dokumentiert wird das zunehmende Interesse an einer Lektüre von Affekten und Emotionen z.B. in der Begegnung mit Videoinstallationen. Begriffen wird dieses Interesse nicht nur als modischer Trend, sondern als Symptom für eine Neuorientierung im Denken des Humanen, das – weit über das (kultur-/medien-)theoretische Interesse am Affekt hinaus – von einer Ausweitung der Kampfzone des Manipulierbaren des Körpers zeuge, an der, so Angerer, die Neurobiologie und plastische Chirurgie zusammen mit der Kognitionspsychologie arbeiten. Der Körper des optimierten Menschen soll über seine Affekte nachhaltig gesteuert werden. Es ist nur verständlich, dass Angerer diese neue Begeisterung für das Affektive mehr als skeptisch gegenübersteht.

Das große Themenspektrum der medien- und kulturkritischen Beiträge ist eine der Stärken des vorliegenden Bandes, auch wenn bisweilen deren für Tagungsbände gewohnte Disparatheit den LeserInnen Einiges abverlangt. Dennoch eröffnet die Anthologie auch visuell eine Vielzahl von anregenden Bezügen und zeigt exemplarisch, wie Wahrnehmung im Grenzbereich zwischen Bildproduktion und visueller Kultur durch technische Medien, Apparate und symbolische Ordnungen modelliert wird. Als Diskursformation begriffen, repräsentieren Bilder also immer mehr als nur sich selbst. Entgegen dem Gemeinplatz, Bilder würden mehr als Tausend Worte sagen, profitieren repräsentations- und herrschaftskritische Bildanalysen nach wie vor von semiotisch bzw. linguistisch geprägten Ansätzen. Erwähnenswert ist daher die Konsequenz, mit der der Band durchgängig das Feld kultureller Differenzproduktion – u.a. durch eine genderspezifische Perspektive – hervortreten lässt, was in der deutschsprachigen Bild(kultur)wissenschaft leider oft zu kurz kommt.

 

Elena Zanichelli, „Rezension zu Visuelle Lektüren\Lektüren des Visuellen“, in: FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur, Heft 49, Juni 2010, S. 88-90

 

http://www.frauenkunstwissenschaft.de/

 

 

 

Keine Macht den Drögen

 

Das Magazin "Kultur & Gespenster" untersucht Rauschmittel

 

Man könnte es als das Vereinsblatt des kulturwissenschaftlichen Prekariats bezeichnen: "Kultur & Gespenster" versammelt bereits seit vier Jahren so intelligente wie überraschende Texte neben Modestrecken, Comicstrips und - nur als Beispiel - geschmackvollen Schwarzweißfotografien ländlicher Puffs in Deutschland. Was das vierteljährlich erscheinende Magazin vor allem auszeichnet, ist der verschwenderische Umgang mit den Ressourcen Zeit und Platz. Alle Beitragenden, unter ihnen auch renommierte Autoren wie Diedrich Diederichsen, Kathrin Röggla und Jörg Schröder, arbeiten unentgeltlich. Im Gegenzug dürfen sie sich frei von Genrevorgaben ausbreiten. Das führt, neben dem stark schwankenden Umfang, dazu, dass der geneigte Leser es bei jeder Ausgabe mit einer reichlich gefüllten Wundertüte zu tun bekommt. Denn jenseits aktueller Beiträge fördern die Herausgeber mitunter vergessene Schätze wie ein 1986 geführtes Interview mit dem für seine konsequente Interviewverweigerungshaltung bekannten Thomas Bernhard zutage.

 

Anders als in den vorangegangenen Ausgaben zu eher voraussetzungsreichen Themen wie "Literarische Hermeneutik" oder dem Schriftsteller Georges-Arthur Goldschmidt hat man für die Sommerausgabe einen vergleichsweise populären Gegenstand gewählt: Drogen. Ein funkelndes, für Lesarten zwischen Kulturgut und Schreckgespenst offenes Thema, folgerichtig ist der Schriftzug "Kultur & Gespenster" auf der aktuellen Ausgabe durch "Drogen & Drogen" ersetzt. Das dazugehörige Titelbild, eine psychedelische Kugelschreiberzeichnung, macht allein vom Hinsehen ganz high.

 

Inhaltlich wurde das Magazin in der Vergangenheit mitunter der Humorlosigkeit bezichtigt - ein Irrtum. So kommt das Editorial schon mal als eine mit Strichlinien und mit "Die Redaktion" versehene leere Seite zum Selbstausfüllen daher oder kündigt, wie im aktuellen Heft, eine (dann leider doch nicht) enthaltene Leckstelle an, mit deren Hilfe der Leser durch Einspeicheln seinen Mineralstoffhaushalt ausgleichen könne. Auch ein mit Amphetaminen getränkter Quadratzentimeter wäre denkbar gewesen - und hätte die Verkaufszahlen in womöglich nie dagewesene Höhen getrieben.

 

Das im kleinen Hamburger Textem-Verlag erscheinende Magazin ist einzigartig offen für thematische Ausfransungen und textliche Mischformen, die sich weder als rein akademisch noch als genuin literarisch bezeichnen lassen und deswegen in keinem anderen deutschen Kulturmagazin denkbar sind. Von dem Briten John Barker etwa liest man einen Marx zitierenden und postfordistisch argumentierenden Erlebnisbericht aus dem Arbeitsleben eines modernen Tagelöhners, der Kokain als das Mittel der Wahl für die heute in der Kulturproduktion geforderte Leidenschaft beschreibt.

 

Damit ist auch der rote Faden benannt, der sich durch den 330 Seiten starken Sammelband zieht: die Rolle von Drogen bei der Steigerung der Produktivkraft. Es geht viel weniger um die Modi des disparaten oder hedonistischen Ausknipsens, sondern um das genaue Gegenteil: Erwerbsarbeit. Nicht um "abgerissene Leute mit bleichen Gesichtern", sondern den "diskret Drogen nutzenden Leistungsträger" und beflissenen "Benutzer des pharmakologischen Werkzeugkastens", wie die beiden Kuratoren schreiben. Der eine, Max Hinderer, ist Künstler und Kunsttheoretiker, der andere, Hans-Christian Dany, ist Autor des Buches "Speed - eine Gesellschaft auf Droge" und damit ein Mann vom Fach.

 

Statt delirierender Reportagen aus den Clubs dieser Welt finden sich also Texte, die um die ökonomischen Aspekte des Rauschmittelkonsums kreisen und somit viel eher in mit Einheitsteppich ausgelegten Büroräumen spielen - ob nun Diedrich Diederichsen im Interview, ausgehend vom Prinzip des Eigenblutdopings, über neoliberale Produktionszusammenhänge spricht oder Aldo Legnaro über Drogen in der Kontrollgesellschaft schreibt, in der die Selbstkontrolle zum entscheidenden Produktionsfaktor wird. Von "drugs" im Sinne der angelsächsischen Bedeutung erzählt Astrid V. W. im Tagebuch einer Krebserkrankung, das über die Dauer von fünf Monaten akkurat sämtliche Symptome und Medikamenteneinnahmen auflistet.

 

Die Dichte der theoriegesättigten Texte wird durch eine stimmungsvolle Bildserie explodierender Blumenkästen aufgelockert, die von der Künstlerin Annette Wehrmann stammt. Etwas rätselhaft wirkt hier der Bezug zu den Rauschmitteln schon. Geht's um die Sprengkraft von Drogen? Oder sollte man das als Aufforderung nehmen, es mal wieder so richtig knallen zu lassen - was allerdings im Gegensatz zur sonstigen Ausrichtung der Ausgabe stünde?

 

Wenn dann der Betreiber des Coca-Museums im bolivianischen La Paz wie in einem Chemie-Oberstufenkurs eine halbe Seite lang über die chemischen Unterschiede zwischen pflanzlichem Coca und chemischem Kokain referiert, wird der Leser an den Umstand erinnert, dass das Wort "Drogen" vom niederländischen Wort "droog", trocken, abstammt. Und dass der Museumsmann wenig später für die chemische Verbesserung und Industrialisierung von Kokain wirbt, das ist nur eine der Volten, die dieses liebenswerte Magazin so gerne schlägt.

 

Da Drogen ja anscheinend alle angehen, gibt es die aktuelle Ausgabe dieses eigenwilligen, schlauen und ästhetisch ambitionierten Magazins erstmals am Kiosk zu kaufen. Was hoffentlich auch ohne MDMA-Gimmick (vulgo: Ecstasy) zu einer exorbitant wachsenden Leserschaft führt. ANNE WAAK

 

"Kultur & Gespenster", Heft 11, 12 Euro

 

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.08.2010, Nr. 34 / Seite 27

 

 

Lust und Notwendigkeit


"Kultur & Gespenster" ist auf Droge: Die elfte Ausgabe des Kunst-, Comic- und Theoriemagazins widmet sich in einem üppigen Schwerpunkt allerlei Sucht-, Betäubungs- und Arzneimitteln. Wie immer ein berauschendes Heft.


Sie haben es mal wieder geschafft: Die Macher des Hamburger Kunst- und Comic- und Theoriemagazins "Kultur & Gespenster" haben eine 326 Seiten dicke, schön gestaltete Ausgabe herausgebracht, die elfte insgesamt, und so feierten sie am Montagabend eine Release-Party im Golden Pudel Club.

Grund zum Feiern hatten sie allemal, denn für die vier Herausgeber Gustav Mechlenburg, Jan-Frederik Bandel, Nora Sdun und Christoph Steinegger ist "Kultur & Gespenster" ein halsbrecherisches Projekt. Nicht wegen seines immensen intellektuellen Anspruchs, sondern finanziell. Keiner der Beteiligten bekommt ein Honorar, wie viele der 2000 gedruckten Magazine wann verkauft werden, ist nicht vorhersehbar. Wirtschaftlich sei das Magazin meist ein Nullsummenspiel, sagt Mechlenburg, sie könnten "gut einen Sponsor gebrauchen".

 

Zum ersten Mal am Kiosk

 

Die elfte Ausgabe hat allerdings beste Chancen, ein Erfolg zu werden. Weil "Kultur & Gespenster" zum ersten Mal am Kiosk verkauft wird. Vor allem aber, weil über das Thema Drogen noch nie so offen in einem Magazin geschrieben worden ist. Um Kontrollgesellschaften und die dazu passenden Medikamente geht es, "aber auch um den modischen Wirbel, der speziell im Sektor der Kulturproduktion um den Konsum von Drogen gemacht wird", schreibt der Verlag in der Ankündigung.Der Künstler, Autor und Kurator Hans-Christian Dany und der Künstler und Kunsttheoretiker Max Hinderer sind für den Schwerpunkt verantwortlich. Beide haben sich seit Jahren mit dem Thema Drogen auseinander gesetzt. Dany zum Beispiel hat in seinem Buch "Speed - Eine Gesellschaft auf Droge" kritisiert, dass Amphetamin als Pharmazeutikum "die normalste Sache der Welt" sei, die Kinder und Soldaten legal zugeteilt bekommen würden, um "zu leisten, was von ihnen erwartet wird", und dass dasselbe Amphetamin, wenn es "Speed" heißt, als "Killerdroge" verrufen sei.Wie immer sind die Zwischenüberschriften im Heft Zitate aus Hegels "Phänomenologie des Geistes": Unter "Die sinnliche Gewissheit" sind Fotografien von Blumenkasten-Sprengungen zu sehen, angefertigt von der kürzlich verstorbenen Künstlerin Annette Wehrmann. Der thematische Schwerpunkt ist unter "Die Lust und die Notwendigkeit" zu finden.Dany und Hinderer analysieren in ihrem einführenden Text "Mittel & Wege" Gründe für den Drogenkonsum, schildern die Wünsche des Konsumenten und die Realität: Drogennutzung, um "eine zur Norm erklärte Bringschuld erfüllen zu können", also besser zu funktionieren.

 

Reise zu einem Schamanen

 

Die Künstlerin Ines Duojak schildert ihre Reise zu einem Schamanen in Peru, die Erfüllung ihrer Sehnsucht, den eigenen Körper hinter sich zu lassen, und etwas zu finden, was sie "wahrhaft außer sich" bringt. Berührend ist das sehr persönliche tabellarische Tagebuch einer krebskranken Frau, die über mehrere Monate jeden Tag notiert, welche Medikamente sie bekommt, wie ihr physischer Zustand ist und wie ihr psychischer, welche Gedanken und Hoffnungen sie hat.

Der Sozialwissenschaftler Aldo Legnaro schreibt über "Drogen im Szenario einer Kontrollgesellschaft", von der Queer-Theoretikerin Beatriz Preciado ist ein Textauszug aus "Testo Junkie. Sex, Drogen und Biopolitik" abgedruckt, und Max Hinderer spricht mit Diedrich Diedrichsen unter dem wunderbaren Titel "Sich mit sich selbst vollknallen" über Eigenblutdoping.Bleibt zu hoffen, dass die Lead-Award Auszeichnungen für "Kultur & Gespenster" und die Anerkennung der Feuilletons sich dieses Mal auf die Verkaufszahlen niederschlagen.

 

Kultur & Gespenster Nr. 11: "Drogen". Textem Verlag, Hamburg; 12 Euro.

 

Ingeborg Wiensowski, Spiegel Online, 24. 8. 2010

 

 

 

Die Veredelung des Menschen

 


Das 20. Jahrbuch des „Forums Hamburger Autoren“ gibt Einblicke in die Lyrik, Kurzprosa und Romane seiner Mitglieder

„Yip. Veredelung des Menschen. Entschuldigung, was schmunzeln Sie da?“ So lässt Nils Mohl seinen fiktiven Dialog mit einem Schriftsteller ausklingen, der – die Einwürfe des Gegenüber konsequent aussparend – in schöner Anmaßung eine Lanze bricht für die poetische Macht der Sprache und dabei Anleihen bei allerlei hochgestimmten künstlerischen Positionen nimmt, unter denen auch die Friedrich Schillers nicht fehlen darf. Offen bleibt indessen der Ironiehaushalt in diesen delegierten Bekenntnissen zu einer ästhetizistischen Kunstauffassung. Das ist kennzeichnend für die Beiträge dieser Anthologie, welche allesamt in einem Spiel von Distanzierung und Provokation das schriftstellerische Selbstverständnis zum Thema haben. Und – darüber hinausweisend – ist dies vielleicht symptomatisch für die prekäre Situation jenes Schriftstellers, der nicht mehr als Popliterat verstanden werden will, und sich nun, nach aller spektakulären, inzwischen ritualisierten Entzauberung seines Handwerks, umsieht nach den Resten einer Metaphysik der Kunst, welche ihm gestatten würde, sein Tun wieder mit Ernsthaftigkeit zu betreiben.

Die List der Vernunft ist es jedoch, die daran hindert, unverstellt Position zu beziehen. Die Angst vor der Pose à la „Tristesse Royale“ – jenem vielgescholtenen Manifest der Popliteratur – verbietet hier einen unbefangenen Umgang mit dem Thema und erzwingt den Rückzug auf den doppelten Boden der Ironie. Die meisten der versammelten Texte sind deshalb durchzogen von einem uneingestandenen Verhältnis zum literarischen Schaffen, woraus den Autoren der Vorwurf gemacht werden könnte, ihr Thema verfehlt zu haben. Nun handelt es sich aber nicht um Schulaufsätze, sondern um Literatur, und das Abschweifen ist durchaus willkommen. In dieser Hinsicht sind die präsentierten Texte äußerst vielfältig.

Martin Felder und Paula Coulin erzählen vom Verschwinden des Schreibers in der Schrift und nehmen damit einen schönen Umweg um die Frage nach dem Selbstverständnis des Schriftstellers. Felder stellt seinen Protagonisten vor die Aufgabe, einen Auftragstext über das Schreiben zu verfassen. Dem fällt dann auch prompt nichts Dienliches mehr ein. Stattdessen denkt er in der Badewanne liegend über seinen möglichen Tod nach, fragt den „Künstlernachbarn“ wegen des Schreibauftrags um Rat, um sich schließlich von einem Eichhörnchen den Wunsch auszubitten, im nächsten Leben als Vogel wiederzukehren. Ein Text bleibt ungeschrieben und ein Vogel bereitet sich zum Flug. Es sind diese knappen Bilder, welche der Erzählung lyrische Dichte und zuweilen hintergründige Komik verleihen.

Coulin begibt sich auf die Reise durch eine indische Großstadt, die sich mit ihren Spiegeln, Schildern, Drähten und hektischen Taxifahrern in der Sonnenhitze zu einer dunstigen Atmosphäre verdichtet. Die Protagonistin drohte im Gewühl der Metropole verloren zu gehen, wäre da nicht ihre Gefährtin Bessie, mit der sie sich im stillen Einvernehmen auf den Weg macht in eins der Cafés, in denen es so europäisch temperiert, so glatt und gesittet zugeht, und das mit seinen schalldicht verglasten Fenstern ihr das Treiben da draußen vom Leib hält. Eine Tasse Milchkaffee bereitet ihre Wandlung vor und lässt sie schließlich in der stillen Ordnung, die sich nun zwischen dem Gewirr der Stadt abzuzeichnen beginnt, verschwinden.

Auch die Figur Andreas Münzners ist vom genius loci des Cafés erfasst. Der Autor lässt in „keine Geschichten, bitte“ seinen Helden, von Lektüreerlebnissen durch den Tag verfolgt, jenen Fäden nachspüren, die die Fantasie ihm durch den Alltag windet und ihn gelegentlich in amüsante Begebenheiten verstrickt. Dieser kleine Text kann als ironischer Selbstkommentar eines Schriftstellers gelesen werden, dem beständig ein Erzählzwang in die Wahrnehmung funkt und noch die disparatesten Erlebnisse wie von selbst und wider Willen zu Geschichten spinnt.

Sigrid Behrens nähert sich von anderer Seite dem Thema. Sie schildert jene Situation, welche sie zum Schreiben bringt: Alleinsein, der Blick durchs Fenster in die Ferne, Schreibzeug. „Drei gute Dinge“, grundiert von Klarheit, Langsamkeit und Konzentration – eine Stimmung, die in den Text selbst übergeht und dessen poetischen Wert ausmacht.

Der Schreibtisch unter dem Fenster ist auch für Oskar Sodux der bevorzugte Arbeitsplatz des Dichters, an dem die Welt jenseits der Glasfront herbeigeschrieben wird. In dieser kurzen Erzählung ist dies die überschaubare Welt des etwas verwilderten Vorgartens, in dem bald schon „Fricke“ erscheint – ein Störenfried in Gärtnermontur – und den Schreiber zur Unterbrechung seiner Arbeit auffordert. Man sei verabredet zur gemeinsamen Arbeit im Freien. Es entspinnt sich ein amüsanter Dialog zwischen beiden, in dem der Schreiber seiner Figur aufmunternd zuredet und gleichzeitig seine Charakterstudie verfasst. Reizvoll ist dieser Text deshalb, weil er mit wenigen Mitteln dem originellen Einfall Wirkung verleiht.

Etwas angestrengt wirkt dagegen der Prosatext „container“ von Nicolai Kobus, der sich in der Beschreibung einer Hafenlandschaft zu einem endlosen Gehäkel vage assoziierter Details auswächst und in seiner atemlosen Diktion an geläufige Slam-Poetry erinnert. Daran wäre nun nichts zu beanstanden, wenn nicht eben der Bezug zum Dargestellten völlig unklar bliebe.

Mit dieser Jahresanthologie eröffnet das „Forum Hamburger Autoren“ Einblicke in die Lyrik, Kurzprosa und Roman seiner Mitglieder. Aus den Reihen dieser Gruppe, die bereits seit 1989 unter wechselnder Besetzung in Hamburg besteht, sind einige Schriftsteller hervorgegangen, die inzwischen auch überregional Anerkennung fanden. Zum Glück sind die versammelten Texte längst nicht so bemüht, wie es das Geleitwort, in dem den Autoren „Kampfkraft gegenüber dem Literaturbetrieb“ gewünscht wird, zunächst vermuten lässt. Prägnanz und sprachliche Genauigkeit der beigetragenen Arbeiten bereiten eine unterhaltsame Lektüre, die auch in der Wiederholung noch fasziniert.

Nils Kasper, literaturkrititk.de

   
Sigrid Behrens / Nils Mohl / Andreas Münzner / Gunna Wendt / Wolfgang Schömel: Schreiben, das geht, aber Lesen, das halte ich nicht aus. Forum Hamburger Autoren.
Textem Verlag, Hamburg 2009.
128 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783941613102

 

 

Wir raten zu

 

Kultur & Gespenster

 

Sie wollen »mehr als eine Zeitschrift« sein, aber zugleich »noch kein Buch«, so haben es die Gründer von Kultur & Gespenster um Gustav Mechlenburg einmal formuliert. Wer sich also bereits genretechnisch bewusst zwischen die Stühle setzt, hat einen idealen Gestaltungsraum: Denn zwischen den Stühlen (die man in diesem Fall Theorie & Praxis, Kulturwissenschaft & Pop, Kunst & Literatur oder Text & Bild nennen könnte) schwebt man kurz, hat Luft zum Atmen, und direkt darunter ist, man beachte die Fallhöhe, der Boden der Wirklichkeit. Genau in diesem Zwischenreich entsteht jener »Diskurs-Pogo« (Enno Stahl) von Kultur & Gespenster, der dieses Zeitschriftenbuch zu einem der interessantesten deutschen Phänomene macht, die man abonnieren kann. Die aktuelle Ausgabe ist dem Thema »Hochstapler« gewidmet – und wie sich hier die Lust auf grafisches Spiel, rücksichtslose Intelligenz, grenzenlose Neugierde und stilistische Vielfalt auf 250 Seiten mischen, ist, um tiefzustapeln: zumindest erhebend. Es spricht für das Rhythmusgefühl von Kultur & Gespenster genauso wie für deren so weiten wie präzisen Kulturbegriff, wie hier nicht nur feinsinnige Bildstrecken auf grobkörnige Bleiwüsten folgen, sondern auch, wie historische Texte lässig und konsequent mit Zeitdiagnosen verknüpft werden. Es sind immer die interessantesten Phänome, die selbst ein neues Genre begründen. Wir raten dringend zum Abonnement.

 

DIE ZEIT, 12. 11. 2009, Florian Illies

 

Kultur & Gespenster Nr. 9/2009; Textem Verlag, Hamburg (www. textem.de); 246 S., 12,– € (Abo: 4 Hefte 45,– €)