6. Oktober 2011

Der Wille zum Lesen

 

Rechtzeitig zum hundertsten Todestag Friedrich Nietzsches erschien vor elf Jahren das von Henning Ottmann, nunmehr emeritierter Professor für Politische Wissenschaft an der LMU München, herausgegebene Nietzsche-Handbuch, das jetzt in einer preiswerten kartonierten Sonderausgabe angeboten wird. Ob kartoniert oder nicht: Gerade dieses Nietzsche-Handbuch ist ein hervorragendes Abkürzungsmedium. Nicht dass es dem Leser die Lektüre abnähme. Aber manche Nietzsche-Textausgaben vermögen dem Leser noch nicht einmal zu sagen, ob sie vertrauenswürdig sind. Und einmal mehr wird klar, dass Familienangehörige nicht notwendigerweise das Zeug zum Publizisten haben.

 

Aber vor allem inhaltliche Fragen lassen sich spielend klären: Was zum Beispiel hat es mit der bedrohlichen Bezeichnung der „blonden Bestie“ auf sich? War Nietzsche Antisemit? Wie lässt sich sein Verhältnis zum Judentum beschreiben? Und was verbirgt sicih hinter dem Titel Der Wille zur Macht? Vor allem das dritte Kapitel dieses Handbuchs zu Begriffen, Theorien und Metaphern in Nietzsches Werk ist jedem ans Herz zu legen, der sich mit Nietzsche beschäftigt. Alle key-words finden hier eine befriedigende Klärung. Alphabetisch geht es von „Antisemitismus“, „Aphorismus“, „Apollinisch-dionysisch“ usw. über „Ewige Wiederkehr“ und „Herrenmoral-Sklavenmoral“ zu „Rasse: Rassenreinheit, Herrenrasse“, „Umwertung der Werte“ bis hin zu „Züchtung“. Als Anhänger Lamarcks (weniger Darwins) versteht Nietzsche den Begriff der Züchtung eher im erzieherischen Sinn, also mehr pädagogisch als biologisch.

 

Das erste Kapitel ist Nietzsches Zeit und seiner Person gewidmet (Schwerpunkt Wagner), das zweite stellt die Werke in chronologischer Reihenfolge vor (einschließlich der notwendigen Betrachtung zu Nietzsches Nachlass). Das vierte Kapitel geht Nietzsches Lektüren, Quellen und Einflüssen nach (hier zeigt sich, dass Nietzsche nicht nur französisch las), und das letzte Kapitel bietet Aspekte der Rezeption und Wirkung. Gerade hier wird deutlich, dass jede Zeit ihren Nietzsche liest. Und manches, was der Philosoph selbst als non plus ultra anbot, etwa die Lehre von der ewigen Wiederkunft, lockt einem heutigen Leser kaum ein Gähnen hervor. Was damals wohl vor allem ein starkes Therapeutikum war, stellt heute nur noch ein belangloses Kapitel Artistenmetaphysik dar, das allenfalls verspätete Nietzsche-Adepten wie Philippe Sollers (der in diesem Handbuch allerdings nicht erwähnt wird) in die Happy-few-Hermetik zwingt.

 

Aber irgendwann muss man auch dieses Handbuch aus der Hand legen und mit der eigentlichen Arbeit und dem eigentlichen Spaß beginnen. Denn Friedrich Nietzsche ist der einzige Philosoph, der diese beiden Zustände spielend vereint.

 

Dieter Wenk (08-11)

 

Henning Ottmann (Hg.) Nietzsche Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (Sonderausgabe), Stuttgart, Weimar 2011 (Metzler)

 

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