19. August 2011

Im Kaufhaus des Frühlings

 

Eine flache Mauer aus Feldsteinen. Eine Wiese dahinter. Und hinter der Wiese Wald. Schwarze Tannen, unter einem grauen Himmel. Leute, die so etwas produzieren – was wollen die eigentlich? Auf der nächsten Doppelseite eine dunkelhäutige Frau in einer cremefarbenen Wohnzimmerlandschaft. Die Frau liest ein Buch. Hinter ihr brennt Kaminfeuer. Schon besser. Schon viel besser. Ich blättere weiter; ich blättere vor und zurück. Küchen. Attraktive Küchen mit all diesem Zeugs da drin. Intelligente Badezimmerschränke. Kreative Beistelltische. Herrgott, wo sind die Betten geblieben? Ich werde nicht in Regalsystemen schlafen. Wieder die Mauer mit der Wiese. Jetzt sind da sogar Kühe. Die stehen im Dunkeln, nahe bei den Bäumen. Suchen Kühe die Nähe von Nadelwäldern? Es könnte sein, dass sich hier...

 

„Monsieur?“

 

Ich schaue hoch. Ein Mann steht vor mir. Der Mann sagt: „Monsieur, das ist der Katalog vom letzten Jahr.“

 

„Was?“

 

„Sie haben da“, sagt er, „den Katalog vom letzten Jahr. Einige Modelle da drin sind nicht mehr erhältlich. Aber vielleicht könnte ich ihnen weiterhelfen.

 

„Sind sie der neue Katalog?“

 

Er schaut mich an. Sein Beratergehirn arbeitet. Dann bricht ein Lächeln durch irgendwie schwulstige Lippen. Ich habe absolut keine Lust, diese Lippen zu küssen, obwohl sie eventuell ziemlich weich sind. Er lächelt jetzt eindeutig.

 

„Wenn sie so wollen. Und was ich nicht hier habe“, er deutet auf seinen Kopf, „ist da drin“. Er deutet auf einen Computer, der auf einem Stehtisch… steht. Ein Computer steht auf einem Stehtisch, und ist womöglich Teil des Gehirns eines Verkäufers, der direkt vor mir steht und gleichzeitig ein Katalog sein könnte.

 

„Alors“, macht er einfach weiter, „womit kann ich ihnen weiterhelfen?“

 

„Ich suche eine Matratze“, antworte ich. „Und einen Lattenrost.“

 

Es folgt eine ausladende, ironische Geste. Er macht mich auf die Umgebung aufmerksam. Und richtig, wir sind umgeben von Matratzen. Irgendeine Kraft hat mich, obwohl das Bettenkapitel aus meinem Katalog verschwunden ist, an die richtige Stelle geführt. Ich schaue über seine Schulter hinein in ein Matratzenuniversum. Ein junger Mann liegt gerade Probe. Er trägt ein enganliegendes, Pailletten-übersätes T-Shirt und er wird von einem anderen, nicht mehr jungen Mann beobachtet. Die suchen vermutlich eine Matratze. Irre, womit Verkäufer bereits frühmorgens konfrontiert werden - bevor die Familien kommen, die Idiotenpärchen, die lebendigen Toten. Bevor die Hölle losbricht. Wir, die beiden Schwulen und ich, wir sind das Aufwärmprogramm.

 

„Bevorzugen sie Federkern oder Schaumstoff?“, erkundigt er sich.

 

„Federkern“, lüge ich.

 

„Und die Größe? Wir haben momentan leider nicht alle Modelle in allen Größen auf Lager.“

 

Ich zucke mit den Schultern. Muss ich mir jetzt über so etwas Gedanken machen? Es gibt Gründe, warum ich hier bin. Warum ich seit gestern kein gottverfluchtes Bett mehr habe. Alles hat Gründe. Alles hängt mit allem zusammen, sagen sie. Aber das heißt nicht, dass ich mir über alles gleichzeitig den Kopf zerbrechen muss. Der Verkäufer begreift das. Er schlägt mir vor, mich in Ruhe umzuschauen. „Probieren sie doch einfach mal“, fügt er aufmunternd hinzu, „ein paar von unseren Modellen aus.“

 

Ich sage „Ok“, und während er zu seinem Stehtisch zurückkehrt, mache ich mich auf den Weg zur nächstbesten Matratze. Dort irgendwie angekommen, lasse ich mich fallen und fühle mich sofort gut. Ein ausgezeichnetes Produkt. Von dieser Matratze geht Frieden aus. Vor ihr muss keine Kuh der Welt in den Wald flüchten. Ich lege mich auf den Bauch, probiere verschiedene Positionen. Neben mir, auf der Nachbarmatratze, hat es sich der jüngere der beiden Schwulen bequem gemacht. Wir schauen uns an. Ich wage ein Lächeln, worauf er sich auf die andere Seite dreht, dort wo sich sein Partner aufgebaut hat. Warum legt der sich nicht hin? Schläft der auf dem Boden? Ein Rückenleiden, dass ihn Nacht für Nacht auf das polierte Parkett nagelt, während der noch lebenshungrige Marc-Antoine stundenlang an die Stuckdecke starrt. Weinen tun die beiden schon lange nicht mehr. Weinen nützt ohnehin nichts. Also drehe ich mich auch um. Dort hinten ist der Verkäufer. Der Verkäufer berät schon wieder, er blättert in seinem Gehirn herum, sein Leben ist weitergegangen, und eine halbe Stunde später sitze ich vor einem Kaffee in einem Möbelhausrestaurant und ich habe tatsächlich einige Kaufentscheidungen getroffen. Der Kaffee dampft. Ich gieße Milch dazu. Die Stimme in meinem Telefon will wissen, wie alles gelaufen ist. Ich erzähle von den Matratzen. Von den Katalogen, mit denen ich heute schon gesprochen habe. Es ist nicht so, dass ich Lust hätte, Witze zu machen, aber ich mache Witze. Kleine Scherze. Der Kaffee hat jetzt eine andere Farbe. Ich reiße ein Zuckertütchen auf und schütte den Inhalt dazu. Die Stimme erzählt irgendetwas. Sie war vor kurzem, vor sehr kurzem genau dort, wo ich jetzt bin. Wir hätten uns über den Weg laufen können. Ich frage, warum wir nicht gleich zusammen einkaufen gegangen sind. Die Stimme verwandelt sich in bitteres Lachen. Demnach habe ich, während ich durch diese riesige Fensterfront nach draußen schaute, schon wieder einen Scherz gemacht. Der Verkehr wird dichter. Die Pärchen und die Familien sind im Anmarsch. Ein Flugzeug taucht in die Wolken ein. Die sind gerade gestartet, denke ich, obwohl es überflüssig ist, das zu denken. Wie weit ist der Flughafen von hier entfernt? Drei Kilometer? Die Maschine befand sich im Steigflug. Flugkapitän Frank Peterson, einer der erfahrensten Männer der Airline, beobachtete abwechselnd die Instrumententafel und seinen jungen Co-Piloten Marc-Antoine Pinget, der die 737 an diesem bewölkten Aprilmorgen fehlerlos in die Luft gebracht hatte. Pinget stellte sich schon ziemlich gut an: Richtige Entscheidungen, zum richtigen Zeitpunkt, keine Nervosität. Dieser plötzlich einfallende Seitenwind auf der Runway war überhaupt kein Problem gewesen. Von dem hatten sie hinten wahrscheinlich gar nichts mitbekommen. Der Startvorgang wurde ja ohnehin von den meisten unterschätzt. Die Passagiere nahmen den heutzutage gar nicht mehr ernst. Für ihn, Peterson, war Fliegen hingegen nach wie vor ein Wunder. Selbst nach Millionen von Flugkilometern hatte er sich den Respekt bewahrt, dieses Staunen, wenn der Vogel tatsächlich abhob. Eigentlich war alles immer noch genau so wie an jenem klaren Oktobernachmittag, als ihn sein Vater zum ersten Mal mit nach Heathrow genommen hatte.

 

Zwanzig Minuten später glänzten auf ihren von einem geisteskranken lettischen Designer entworfenen Uniformhemden die Pailletten im Sonnenlicht. Pinget hatte die Boeing auf Reiseflughöhe gebracht und wieder dieses Lied zu pfeifen begonnen, auf dessen Titel Peterson schon gestern nicht gekommen war. Etwas französisches, so viel stand fest. „Bon“, sagte der seit einer Ewigkeit in Genf beheimatete Engländer deswegen in einem übertrieben französischen Tonfall, „dann wollen wir mal.“ Anschließend drückte er den Mikrophonknopf und versorgte die Passagiere mit einigen Informationen zur Flugdauer und -route sowie zur aktuellen Wetterlage in Madrid. Pinget hatte unterdessen seinen Chanson unterbrochen. Er liebte es, Frank zu lauschen, seiner sonoren Stimme, seinen routinierten Späßen. Wie die einhundertzweiundvierzig Fluggäste an diesem Morgen spürte er jene unerschütterliche Sicherheit, die der immer noch attraktive Zweiundfünfzigjährige scheinbar ohne jede Anstrengung ausstrahlte.

 

Nach seiner kleinen Ansprache lehnte sich Peterson zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Erneut tasteten seine Augen die Cockpitdecke ab, wo hinter der Verkleidung Hunderte, vielleicht Tausende von Kabeln verliefen. Weiter hinten musste der Schwelbrand bereits losgegangen sein. Dieses winzige Feuer, über dessen idealen Ausbruchsort er monatelang gegrübelt hatte, brannte jetzt. Doch bis etwas gravierendes passierte, bis die ersten Sensoren anschlagen würden, blieb noch einiges an Zeit. Er hatte sich vorgenommen, so viel wie möglich an sie zu denken. Er hatte sich sogar schon ein letztes Bild zurechtgelegt, ein Stillleben für die Sekunden vor dem Aufschlag: Sie in diesem riesigen Bett, nackt und auf dem Bauch liegend, unter ihr ein zerwühltes Laken. Damals hatte sie immer auf dem Bauch gelegen, und das Bett hatten sie in der Nähe der Place Neuve gekauft, bei diesem finnischen Ausstatter, der tausendmal teurer war als der Laden, in dessen Restaurant ich jetzt sitze und einen Kaffee trinke und das Display meines Telefons beobachte. Die Stimme berichtet plötzlich von Dingen, die dazu geführt haben könnten, dass ich heute Morgen auf einer am Fußende mit dicker Plastikfolie überzogenen Probematratze eingeschlafen bin. Der Verkäufer hat mich geweckt. Auf beinahe sanfte Art und Weise hat er mich am Fuß berührt. Das war nett, obwohl ich andererseits noch Stunden hätte schlafen können. Federkern – ich bin eindeutig ein Federkern-Mann. Der Mann hat mich aufgeweckt und wir sind zu seinem Computer gegangen. Vor dem Fenster füllt sich der Parkplatz. Mein Mund füllt sich mit süßem Kaffee. Ich stecke das Telefon mit der Stimme in meine Hosentasche. Ein neues Flugzeug taucht auf und verschwindet in den Wolken, über denen Peterson und Pinget irgendwann an diesem Vormittag explodieren werden. Vor mir, in meinem Katalog, die Frau in ihrer cremefarbenen Wohnzimmerwelt. Das Feuer im Kamin brennt immer noch. Es brennt schon länger als ein Jahr.

 

Christoph Höhtker