25. Juni 2011

Tag 54

 

Dieses Blau sehen, mit noch geschlossenen Augen. 8:07, Sonntag, Aufstehen. Sofort auf den Balkon gehen und ihre Pflanzen gießen. Bereits den Sommer riechen. In der Küche das Radio einschalten. Jemand sprechen lassen. Kaffee kochen. Frühstück machen. Mit dem Kaffee und den anderen Sachen  zum Schreibtisch gehen. Den Laptop hochfahren. Dasitzen. Einen Schluck Kaffee nehmen. Das Ding beim Hochfahren beobachten. Essen. Passwörter eingeben. Eine Menge Optionen nicht bemerken. Irgendwas suchen. Wochen alte Emails lesen. Wochen alte Emails nochmal lesen, aber nicht löschen. Meine Antworten anschauen. Weiteressen. Dem Mann im Radio in der Küche zuhören.  Vom Büro aus den Mann im Radio in der Küche nicht wirklich verstehen.

 

Eine Stunde später, oder zwei oder drei Stunden später, hinunter nach Bout du Monde laufen. Die erste Runde drehen, am Ufer der Arve. Auf einem Rasenstück eine Bikini-Frau in der Sonne liegen sehen. Runde zwei, Runde drei, in jeweils acht Minuten Abstand gierig ihre Rückseite betrachten. Bemerken, dass sich ihre Position nicht verändert hat. Sie für eine Tote halten.  Sich nach der Wirkung von Sonne auf tote Haut fragen. Die Haut meines Arms prüfen. Ein Insekt ausspucken. Schweiß in die Augen rinnen lassen. Irgendetwas anderes aus der Nase rinnen lassen. Es gut finden, momentan solche Probleme zu haben. Einen Jogger, der mir entgegenkeucht, nicht grüßen. Den nächsten Jogger grüßen. Runde  vier drehen. Aus dem Augenwinkel beobachten, wie sich die Frau aufrichtet. Ihr Alter taxieren. Sie älter als ihren Körper finden, aber noch nicht zu alt. Den Lauf abrupt beenden, hingehen und ein Gespräch beginnen. Über das Wetter. Über den Frühling. Über das glühende Stück Kohle hinter meinen Augen. Über den Mann im Radio. Sie zum Lachen bringen. Dann ganz leicht, nur mit den Fingerkuppen den Saum ihrer Bikinihose entlangfahren. Ihr dabei zuschauen, wie sie mir dabei zuschaut. Das alles nicht tun. Runde fünf beginnen. Die Energiezufuhr vom Frühstück vollständig aufbrauchen. Reserven angreifen. Die Reserven hinter den Reserven angreifen. Wie ein Irrer auf irgendwelche Hormone warten.

 

Wieder vor dem Rechner sitzen. Noch nicht duschen gehen. Am Stuhl kleben. In die Tastatur tropfen. Den Nachmittag beginnen.  Den ersten Teil des Tages verabschieden. Generell: Tage in Teile zerlegen. Die Teile vergleichen. Eine neu eingetroffene Email bemerken, aber nicht lesen, aber trotzdem eine Antwort schreiben. Sich  immer verrückter fühlen. Den ersten Alkohol-Hunger ignorieren. Wissen, dass das nicht mehr lange klappen wird. Vom Rechner aufstehen und ins Bad gehen. Unschlüssig vor der Badewanne stehen. Durch den milchigen Duschvorhang starren. Dann sogar wirklich duschen. Salz von der Haut spülen. Hautprozesse registrieren. Den eigenen Körper objektiv bewerten. Haare waschen. Jetzt sauber sein. Vor dem Spiegel stehen. Gar keine Meinung mehr haben. Ein Gesicht, ein Oberkörper – das so weit normal finden. Mit Zahnseide normale Zahnzwischenräume leerräumen. Das Leergut auf dem Faden anschauen und dann beinahe essen. Den Faden in die Toilette werfen. Nicht spülen.

 

Im  Rechner Nachmittagsoptionen checken. Mich für eine leichte Form von Prostitution noch nicht ganz entscheiden. Nachrichten lesen. Nachrichten nicht interessant finden. Gar nichts interessant finden. Sich deswegen einem Anfall nähern. Diesen abwenden. Eine Nummer wählen. Einem Freizeichen zuhören. Einer Stimme lauschen. Etwas antworten. Sich beim Antworten belauschen. Eine wildfremde Frau mit fremdländischem Akzent ist bereit, mich in kaum zwei Stunden zu empfangen – sich darüber freuen. Allerdings Unwohlsein wegen der Warterei empfinden. Zwei Stunden plötzlich als sehr lange Zeit empfinden. An die Zeit denken, die beginnt, wenn die Zeit, die nach den zwei Stunden kommt, vorüber ist. Den kommenden Anfall jetzt deutlich spüren. Daher endgültig vom Rechner aufstehen. Herumwandern im Apartment. Über das  Apartment nachdenken. Sich das sofort verbieten. Plötzlich Liegestütze pumpen. Danach heftig atmen. Wieder auf die Uhr schauen. Vier Minuten und siebenundzwanzig Sekunden als absolviert verbuchen. Einhundert fünfzehn Minuten und dreiunddreißig Sekunden als Herausforderung begreifen. Überhaupt nichts begreifen. An mein Fahrrad denken. Das Fahrrad als Lösung identifizieren. Etwas anziehen. Die Schlüssel in die Hosentasche stecken, die Zigaretten in den Rucksack, dieses Buch, den Fotoapparat. Sich über den Fotoapparat wundern. Ihn trotzdem im Rucksack lassen. Eine Reihe einfacher Entscheidungen treffen. Davon ermutigt die Wohnungstür öffnen. Im Dämmerlicht des Hausflurs auf den Aufzug warten. Hinunter in die Garage fahren. Mein Fahrrad sehen. Es begrüßen. Über die Tiefgaragenrampe nach draußen schießen. Auf die Straße einbiegen. Nicht einmal die vage Idee eines Ziels haben. Deswegen erneut an die Nutte denken. Die Fahrzeit zu ihr überschlagen. Sich beruhigen. Halb beruhigt herumfahren. Den Anfall im Hintergrund spüren. Sich nicht darum kümmern. Stattdessen den warmen Fahrtwind genießen. Den glatten Asphalt genießen. Die Arbeit der Muskeln. Alles gut finden, was momentan passiert. Einhundertzehn Minuten später vor einer schmucklosen Wohnungstür  stehen. Auf dem Klingelschild „Studio Lanna“ lesen. Diesen Namen als professionell erachten. Den Zeigefinger in slow motion Richtung Klingel schweben lassen. Den Knopf berühren. Auf einen Blitzschlag warten. Einen Blitzschlag nicht empfangen. Trotzdem die Klingel betätigen. Zehn Sekunden verstreichen lassen. Überhaupt nichts gegen die Warterei einzuwenden  haben. An der Wohnungstür lauschen. Nichts von drinnen hören. Nochmals schellen. Mit dem Scheitern der Mission rechnen. Sich zum Weggehen fertigmachen. Die Herzfrequenz  herunterdimmen.  Sich umdrehen. Sich nochmal umdrehen, damit praktisch eine 360°-Drehung vollziehen. Durch den Türspalt ein skeptisches Gesicht erblicken. Etwas sagen. Etwas hören. In eine fremde Wohnung eintreten.  Eine Massage-Wohnung unter die Lupe nehmen. Ein Zimmer betreten. Im Zimmer allein sein. Aus anderen Zimmern Frauenstimmen hören. Ein Glas Wasser gereicht bekommen. Das Wasser trinken. Eine „Entspannungsmassage“ bestellen. Und  bezahlen. Sich beinahe vollständig entkleiden. Sich auf einen Futon legen. Asia-Esoterik-Musik plötzlich wahrnehmen. Hände auf meinem Rücken spüren. Die Hände in einem medizinischen Sinne geschickt finden. Deswegen beinahe wegdämmern. Wieder aufmerksam werden. Veränderungen bemerken. Einen Mund zwischen Schulterblättern spüren. Solche Dinge geschehen lassen. Eine oder mehrere Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Sich aufgrund dessen irgendwelche Gedanken machen. Diese Gedanken verdrängen. Halb erregt nicht bei der Sache sein. Das gut finden. Die Situation als solche annehmen. Auf ihr Geheiß sich umdrehen. Den Busen dieser Frau studieren. Die Frau meine Hand auf ihre Brust legen lassen. Diese Geste als ungewöhnlich bewerten. Ihr ernstes Gesicht betrachten. Der Musik folgen. Verschiedenes fühlen.

 

Auf dem Fahrrad durch die Gegend fahren. Wieder schwitzen. Die Temperatur schätzen. Durst haben. Bei einem Café am Fluss haltmachen. Mich in die Sonne setzen. Das Grün des Wassers als Flaschengrün klassifizieren. Deswegen eine Flasche Bier bestellen. Auf das Bier warten. Das Bier erhalten, bezahlen und in mich hineinlaufen lassen. Gutgebaute Burschen von der Pont de Sous-Terre in den Fluss springen sehen. Plötzlich auch schwimmen wollen. Neue Bierschlucke nehmen. Dem Kellner ein Zeichen geben. Den Kreislauf von neuem beginnen. UV-Licht mit der Sonnenbrille filtern. Dem Gespräch vom Nachbartisch lauschen. Sich an die Frau von eben erinnern. Den Versuch einer Interpretation der bisherigen Ereignisse anstellen. Infolgedessen ein neues Bier ordern. Auf die Wirkung des ersten warten. Die Augen hinter der Sonnenbrille schließen. Die Sonne auf meine Haut brennen lassen. An die Fische unten im Fluss denken. Deren Probleme imaginieren. Mit meinen Problemen vergleichen. Das zweite Bier in Empfang nehmen. Dem Bier danken. Der Sonne danken.

 

Immer weiter durch die Stadt fahren. Fünf Biere in mir spüren. Der Sonne unterzugehen erlauben.  Im Parc des Bastions irgendwie anhalten, das Rad umkippen und mich auf den Rasen fallen lassen. Zwei jungen Frauen in der Nähe bemerken. Ihr französisches Lachen hören. Auf dem Rücken liegen und in den Himmel starren und die Sonnenbrille abnehmen und weiter in den Himmel starren. Den Hunger ignorieren. Ein Vibrieren in der Hosentasche spüren. Das Handy herausziehen. Eine SMS lesen. Schlagartig ausnüchtern. Allerdings noch Zigaretten besitzen. Sofort rauchen. Eine der Frauen bei Aufstehen beobachten. Die Frau beim Auf-mich-Zukommen beobachten. Sie gut finden. Sie, als sie bei mir ist, absichtlich nicht verstehen. Ihr zwei Zigaretten geben.

Mich wieder auf den Rücken legen. Die neue Farbe des Himmels bewundern. An Sachen denken. Die Augen schließen. Sauerstoff aufnehmen. Blut in die Kapillaren transportieren. Es von dort wieder abholen. Ihm zuhören. Den Übergang zum Traum verpassen.

                                             

Christoph Höhtker