1. Juni 2011

11/09

Bild: Jochen Fuchs

 

Jeder Mensch hat Grenzen, körperlich wie seelisch. Man muss beide ausreizen, auch wenn man von Zeit zu Zeit über die Klinge springt. Im schlimmsten Fall bleiben einem immer noch die Geschichten und das zeitverzögerte berauschte Lachen über den groben Unfug, irgendwann nach dem vierten oder zehnten Bier, gebeugt über einen halbvollen Aschenbecher in einer miesen Bar, der so gewissenhaft geleert wird, dass man sich echt anstrengen muss, das Ding vollzukriegen. Indem man sie erzählt, fasst man die Realität mit Samthandschuhen an und faltet sie wie Origami. Der Wahnsinn verliert seinen Stachel und macht, aus der Vergangenheit geraubt, für einen kurzen Zeitraum sogar einen Sinn. Die beste Geschichte wird erzählt vom größten Lügner.
Nachdem ich acht Stunden lang fast pausenlos frisch bezogene Betten auf die Krankenstationen und mit Blut, Scheiße und Urin verschmierte Dreckbetten in die hauseigene Wäscherei geschoben hatte und im Anschluss noch zu einer Gegenüberstellung geladen wurde, da jemand der mir ähnlich sah einem Patienten im Foyer eine Kopfnuss verpasst hatte, waren mir Geschichten scheißegal. Ich kam heim, schaltete den Fernseher ein und machte mir eine Flasche Rotwein auf. Ein paar Verrückte hatten gegen Mittag Passagierflugzeuge entführt und ins Pentagon und das World Trade Center gejagt. Während die Moderatorin allerhand über einen dramatischen Angriff auf die westliche Zivilisation referierte, war ich erstaunt über ihr perfekt erprobten Gesichtsausdruck und dachte nur daran, mir vielleicht auch eines der schweren OP-Betten solange über die Zehen zu rollen bis sie blau und geschwollen waren und ich mir morgen Mittag frei machen konnte. Torsten, der andere Zivi kam mit dieser Idee während der Frühstückspause an, ging jedoch auf Nummer sicher und rammte sich eine Spritze aus der Ambulanz in die Ferse. Nun war er den Rest der Woche krankgeschrieben und ich musste mich als einziger vom Vorarbeiter herumschickanieren lassen, einem Versager auf voller Linie, der den ganzen Tag den Ärzten am Rockzipfel hing und sich wichtig fühlte. Kaum sah er einen Kittel in der Rauchernische aufblitzen, kam er angekrochen um sich von mir ein Feuerzeug zu schnorren. Im nächsten Moment war er draußen, um sich nicht die Gelegenheit entgehen zu lassen, einem der Großen die Zigaretten anzünden zu können, die ihn nur müde anlächelten und sonst ignorierten. Ich hatte extra ein Feuerzeug einstecken, dass kaputt war und das ich ihm jedes zweite oder dritte Mal gab um ihm den großen Moment zu versauen. Die Jungs wussten alle Bescheid und schoben sich dann langsamer vorbei mit einem fetten Grinsen im Gesicht. Von fünf Schiebern, die wir insgesamt waren, hatten zwei die Grippe und der andere Zivi eine fatale Fußverletzung, also war diese Woche nur Giovanni und ich da und mussten das ganze Krankenhaus mit Betten versorgen, was eine Heidenarbeit war. Dazu kamen noch meine mittelschweren Depressionen, die teils mit dem schweinekalten Dreckswetter, teils mit einer seit Wochen anhaltenden Schlaflosigkeit zu tun hatte. Ich schmiss mir jede Nacht eine Schlaftablette ein, durch die ich wenigstens ein paar Stunden Ruhe fand und brauchte jeden Morgen 3-4 Tassen Kaffee und eine Ginsengtablette, um in die Gänge zu kommen. Doch ich kam langsam an meine körperlichen Grenzen und fühlte mich jeden Tag erschöpfter, was man mir auch ansah. Es schien, dass sogar einige Kollegen hinter meinem Rücken spekulierten, ob ich nicht ein massives Drogenproblem hätte. Na ja. Ich hatte jedenfalls andere Probleme als diese Türme, von denen die da sprachen.
Ich machte den Fernseher aus und kramte aus meinem Rucksack eine Packung Rosmarin-Badeöl heraus, die mir Sabine aus der Bettenzentrale mitgebracht hatte. Sie schwörte auf die erheiternde und anregende Wirkung, also ließ ich mir ein Bad ein. Auf der Packung stand, man solle 10-15 Tropfen ins Wasser geben, also schüttete ich die halbe Flasche hinein, was soll’s. Die Flasche Wein war indes fast leer, ich machte mir das letzte Glas voll und legte mich in das Gebräu.
Es war tatsächlich ein schönes Gefühl inmitten dieses duftenden Kessels und ich spürte regelrecht den ganzen Stress von mir abfallen. Ich schloss die Augen, schob den Kopf in den Nacken und entspannte mich wie schon lange nicht mehr.
Ich muss wohl eingenickt sein und von Cleopatra, dem kalten Krieg, kleinen besoffenen Affen im Dschungel oder sonst was geträumt haben, denn als das Telefon klingelte schrak ich so zusammen, dass ich fast das Glas Wein vom Klodeckel gehauen hätte. Ich fluchte laut. Dann hörte es auf zu klingeln. Mir war schwindelig, mein Herz raste und als ich versuchte aufzustehen, knickten mir fast die Beine weg. Beim zweiten Anlauf schaffte ich es schließlich aus der Wanne. Das Licht wirkte durch den Dampf, der das ganze Badezimmer einnahm seltsam unwirklich. Ich wischte mit dem Handrücken über den beschlagenen Spiegel um mich anzusehen. Ich sah schrecklich aus und merkte dass ich Schüttelfrost hatte. Verfluchte Scheiße, dachte ich mir, zog mein T-Shirt an, suchte mir den einzigen Bademantel den ich hatte und schleppte mich zu meinem Bett. Da lag ich nun, zitternd, gleichzeitig schwitzend und frierend und dem schrecklich lauten Pochen meines Herzens in den Ohren, dass ich davon ausging, es würde mir jeden Moment den Brustkorb zerreißen. Ich wälzte mich bestimmt eine halbe Stunde hin- und her und bekam langsam schweißtreibende Halbträume. Todesangst. Ich hatte mir noch nie große Gedanken gemacht, wie es mit mir enden sollte, aber so jedenfalls nicht.
Es klingelte erneut. Ich rollte mich zum Nachttisch um zu sehen, ob das vielleicht nicht eine durch den Fieberwahn hervorgerufene Einbildung war. Aber da war das Telefon, durch meine Hand umkrampft wie ein letzter Anker zum Leben, vibrierend und meine Handfläche im Takt in rotes Licht tauchend. Ich stöhnte leise und nahm ab.
„Endlich, ich hab tausendmal angerufen. Ich brauch deine Hilfe.“
Es war Michael aus dem Krankenhaus. Er war Zivi wie ich, schob jedoch keine Betten sondern fuhr in einer Art Mini-Gabelstapler irgendwelches Zeug von Station zu Station, ich weiß beim besten Willen nicht mehr genau was. Vielleicht wars Essen, vielleicht aber auch Medikamente. Da er immer ein wenig drauf zu sein schien, tippe ich eher auf letzteres.
„Hey, bist du dran? Stör ich dich bei irgendwas? Mann, sag doch was.“
„Michael, mir geht’s nicht gut. Kannst nicht später noch mal anrufen?“
„Was isn los? Biste besoffen?“
„Nein, doch, auch...bei mir dreht sich alles...oh mann. Das Rosmarin macht mich fertig, das Zeug kommt direkt aus der Hölle.“
„Ja die Hölle, darum geht ES ja. Ich hab sie hier. Im Bad.“
Er wurde ganz leise, flüsterte beinahe.
„Ich versteh nicht...mein Hirn, echt, komm ich ruf dich später zurück.“
„Nein, du DARFST jetzt nicht auflegen, auf GAR KEINEN FALL!!“ Jetzt das noch, dachte ich mir. Ich setzte beide Beine auf den Boden und richtete mich auf.
Er stotterte zwischen den Wörtern und schien ganz neben der Spur zu sein.
„Hör zu, ich brauch deine Hilfe, sofort. Und leg nicht auf. Ich hab den Dämon hier, hab ihm im Badezimmer weggesperrt. Du musst kommen, ich...“
„Dämon? Du spinnst doch. Mir geht’s echt dreckig.“
„Ich lüg dich nicht an. Er ist hier, ich weiß nicht was ich machen soll. Bitte komm her. -- -- ----- VERDAMMT!“ Ich hörte etwas krachen im Hintergrund.
„Ok Ok, beruhig dich erst mal. Gib mir ein paar Minuten, ich muss erst mal klar werden. Wo bist du, bei dir zuhause?
„Ja ja, du weißt noch wo? Direkt die Straße beim Städtischen links. Danke, wirklich. Und beeil dich!“
„Du schuldest mir was. Und wehe es ist irgendne scheiße.“ Ich legte auf. Warum ließ ich mich immer zu so nem Mist überreden? Bin halt ein netter Kerl. Oder ein kompletter Vollidiot. Vielleicht war es aber gar keine so schlechte Idee, frische Luft zu schnappen und sich ein bisschen zu bewegen, bevor ich hier im Snoopy Pyjama verreckte. Ich blieb noch ungefähr zwei Minuten bewegungslos auf dem Bett sitzen, dann stand ich mit klapprigen Beinen auf, zog mich langsam an und verließ das Haus.
Die Gegend war genauso öde wie die Menschen die dort lebten. Ein grauer Betonblock stemmte sich gegen den nächsten, wie riesige Dominomonster, fragil wie das Leben, das die Menschen hier führten. Von manchen Balkonen hing blasse Wäsche oder vertrocknete Blumen aus dem IKEA. Es war mittlerweile halb elf und schon dunkel und da ich mich nicht in der Lage fühlte, Auto zu fahren, war ich knapp eine Stunde zu Fuß gelaufen, was zumindest den Schwindel vertrieben hatte. Dennoch fühlte ich mich hundemüde und noch nicht ganz klar im Kopf. Vielleicht fiel mir deshalb auch besonders auf, dass die Straßen wie ausgestorben waren. Ich überlegte, was hier auf einmal los wäre, wenn alle ihren Fernseher aus dem Fenster werfen würden. Michael hatte eine kleine Wohnung in einem Hochhäuser, die er über seinen Lohn und einen Mietzuschuss als Zivildienstleistender finanzierte. Ich brauchte einige Zeit um das richtige Haus zu finden, da ich ihn nur einmal bis vor die Tür begleit hatte, als er mir noch ein Best-Of Album von The Doors mitgab. Von Michael wusste ich eigentlich nicht viel. Man hörte ihn oft mit seinen Kollegen lachen oder über Sport reden und wenn er dann mit seinen dunklen, langen Haaren im Gabelstapler vorbeifuhr, verzog er immer seinen D'artagnan-Bart, als würde er ganz tief in sich hineinfluchen und den Laden am liebsten in die Luft jagen. Er machte nicht den Eindruck, als würde er viel Wert auf seine Kollegen, Krankenschwestern, Ärzte, Patienten oder Putzfrauen geben, wodurch er mir gleich sympathisch war; ein netter Kontrast zu den angepassten Arschlöchern in meiner Truppe, ganz voran mein selbstverliebter Vorarbeiter. Da er oft auch die gleichen Ecken zum heimlichen Rauchen aufsuchte wie ich, kamen wir irgendwann ins Gespräch. Ich erzählte ihm, wie ich wieder meinen Vorarbeiter drangekriegt hatte und er lachte sich darüber halbtot. Über Privates redeten wir so gut wie gar nicht, was mir gerade recht kam.
Er versorgte die beiden Italiener, die bei mir arbeiteten, mit gutem Gras und hatte einen Sohn, den er aus irgendwelchen Gründen nicht sehen durfte, mehr wusste ich nicht. Da immer mindestens zwei von fünf Bettenschiebern krank waren oder blaumachten, waren wir chronisch unterbesetzt, so dass unserem Vorarbeiter irgendwann der Einfall kam, wir müssten ihn bei jeder Arbeitsunterbrechung anrufen. So riefen wir an, wenn wir Mittagspause machen wollten, scheißen oder uns die Schuhe binden mussten. Ich hasste es, wenn man ihn in seiner Ärzterunde erwischte und er einem besonders gönnerhaft die Erlaubnis erteilte. Es wurde echt lästig. Nach zwei Tagen rief ich nicht mehr an und nahm mir noch die Bild-Zeitung mit auf Toilette um sie nach dem Schiss eingängig zu studieren. Trotzdem verkürzten sich die Raucherpausen erheblich, ich konnte statt der 3 Zigaretten nur noch eine rauchen. Michael rauchte in der gleichen Zeit einfach drei hintereinander. Wir redeten oft über Rockmusik. The Doors war genau sein Ding. Ich gab zu, dass ich nicht allzu viel von ihnen kannte.
„The End, das kennste doch, oder? Die Musik rollt und bollert im Hintergrund wie ein Gewitter das heraufzieht. Oder wie Wellen im Meer, und Jims Stimme wie der Fels an dem sie sich reiben. Der Song ist unendlich, der könnte ewig weiterlaufen und du würdest es nicht merken. Außer jemand tritt die Anlage aus dem Regal. Jim war ein Poet, ein echter Dichter, das wird meist unterschätzt. This is the end, my only friend, the end. Weißt du was ich meine?“
„Wird größtenteils auch an dem ganzen Kram liegen, den er sich eingefahren hat.“
Er lachte. „Drogen, ja klar, die gehören dazu.“
„Ja.“
„Gibst mir noch mal Feuer, wir ham nicht viel Zeit.“
Ich machte an diesem Tag eine halbe Stunde früher Feierabend und ging mit ihm mit, weil er mir unbedingt sein Best Of Album mitgeben wollte. Meinen Vorarbeiter rief ich nicht an was mir am nächsten Tag einen guten Anschiss einbrachte. Allerdings kümmerte mich das wie immer wenig. Ich hatte mich gegen den Wehrdienst entschieden weil ich mich nicht von irgendwelchen Deppen durch den Dreck scheuchen lassen wollte, aber soviel besser war das hier auch nicht. Bei der Bundeswehr hatte man wenigstens eine Knarre mit der man jederzeit Amok laufen konnte, wenn es einem zuviel wurde. Na ja, ich schaltete jeden Morgen einfach mein Gehirn aus, schob mich sinnlose 30 Kilometer durch den Komplex und dachte an dies oder jenes, ohne mir einen abzubrechen. Das wussten auch meine Kollegen und mein Vorarbeiter aber trotzdem ärgerte es sie, dass ich nicht wenigstens so tat, als würde mir das alles unheimlich viel Spaß machen. Sollten sie mich doch auf ne Bohrinsel in die Nordsee versetzen.
Da stand ich nun vor der Haustür und suchte nach der richtigen Klingel während in meinem Kopf der Alkohol immer noch Achterbahn mit dem Rosmarin fuhr. Ein Dämon also. Ich klingelte bei Keilmann und wartete. Nichts passierte. Ich klingelte noch einmal und hielt den Knopf diesmal länger gedrückt. Nada. Ich ging ein paar Schritte zurück und sah die Hauswand hoch. In zwei Fenstern brannte noch Licht.
„Michael, mach auf!!!“ Ich horchte. So ein Dreckskerl, höchstwahrscheinlich ist er längst eingepennt. Das ärgerte mich ungemein.
„Du mieser Hundepimmel, mach sofort die Tür auf oder ich setz dir den größten Scheißhaufen davor, den du je gesehen hast!“
Das Fenster im zweiten Stock wurde aufgerissen und eine ältere, korpulente Frau beugte sich heraus. Sie trug lediglich einen BH.
„Oh Verzeihung, ich dachte…“ Bevor ich den Satz zu Ende bringen konnte, fuchtelte sie mit dem Arm und irgendetwas Hartes knallte mir mit voller Wucht an den Kopf.
„So eine Unverschämtheit! Hör auf hier herumzubrüllen oder ich komm runter und reiß dir verdammten Huresohn den Arsch auf. Ich hab die Schnauze voll von euch. Wenn ich noch einen von euch mit meiner Katze erwische, schicke ich euch die Bullen an den Hals, dann reißen DIE euch den Arsch auf, ihr kranken Schweine.“ Sie zog das Fenster zu und war weg.
Ich hatte nicht den blassesten Schimmer wovon sie redete, aber ich hielt es für besser, nicht weiter herumzuschreien, meinem Arsch zuliebe. Neben meinem linken Fuß lag das Ding, das sie nach mir geworfen hatte, ein schwarzer Aschenbecher aus Plastik. Irgendjemand hatte anscheinend auch genug von der Szene, denn zu meiner völligen Überraschung summte auf einmal das Türschloss. Ich steckte den Aschenbecher ein und sah zu, dass ich hineinkam.
Mit Mietwohnungen hatte ich immer meine Probleme. Jeder den ich kannte wohnte in letzten oder vorletzten Stock, weil das die Wohnungen waren, die sonst niemand wollte. Was vor allem bei Umzügen ne ziemlich scheiß Sache war. Auch diesmal hatte ich kein Glück. Als ich schließlich ganz oben angekommen war und immer noch nicht den richtigen Namen an der Tür gefunden hatte, steckte ich mir erst mal eine Zigarette an. Ohne Vorwarnung sprang die Tür auf und Michael steckte den Kopf hinaus. Er sah nervös aus und suchte mit seinen Blicken das Treppenhaus ab. Sein Gesicht war blass und mit Kratzern übersät.
„Da bist du endlich. Wo warst du so lange?“ Er meinte das todernst.
„Hier hab dir was mitgebracht.“ Ich streckte ihm den Aschenbecher entgegen.
„Hast du bei Frau Flensch geklingelt? Oh man, ich hab auch schon ein paar von den Dingern...“
„Komm schon lass mich rein.“
„Oh ja, klar, natürlich. Aber sei leise.“
Ich ging ihm hinterher. Er führte mich durch einen Gang in sein Wohnzimmer. Es sah schrecklich aus. Wie die typische Kifferwohnung, nur 10 mal so schlimm. Das einzige Licht kam von einer rötlichen Leuchstoffröhre über der Couch, auf der allerlei Zeitschriften, leere Teller mit Essensresten, Tabakbeuteln und alles mögliche andere Zeug verstreut lagen. Das gleiche Bild auf dem Boden. Im Zimmer hing neben Marihuana ein undefinierbarer unangenehmer Geruch, wie man ihn von Pennern in der Straßenbahn kannte, nach Schweiß, Dreck und seit Tagen nicht gewechselter Unterwäsche. Die Wände waren vollgeklebt mit Postern von irgendwelchen Death-Metal Bands mit nackten, blutüberströmten Blondinen mit großen Titten, die in der Jesuspose an Kreuzen hingen oder sich eben diese einführten. Und The Doors natürlich. Ich schaffte mir Platz auf der Couch und setzte mich. Auf dem Glastisch stand tatsächlich exakt der gleiche Aschenbecher wie meiner, in dem ein Joint vor sich hindampfte. Ich nahm ihn heraus und inhalierte tief. Er war so stark dass ich husten musste. Sofort wurde mir wieder schwindelig, also legte ich ihn zurück. Er setzte sich auf einen Korbstuhl gegenüber und zog die Mundwinkel nach oben. Seine Augen lachten nicht.
„Ich hab auch schon ein paar Mal falsch geklingelt, als ich besoffen heimkam. Die Flensch hat mal in einer Kneipe zwei Straßen weiter gearbeitet. Als sie gefeuert wurde, hat sie noch weiß-Gott-wieviel von diesen Aschenbechern mitgehen lassen. Ihre ganze Wohnung muss voll mit denen sein.“
„Die ist total irre. Die hätte mich locker killen können damit. Dann hat sie noch irgendwas Wirres von ihrer Katze erzählt.“
„Oh, war das ihre…? Ich hol uns was zu trinken.“
Er stand auf, fing an einige Sachen vom Tisch zu räumen, kippte dabei fast ein Bier um, kriegte es allerdings noch rechtzeitig zu fassen und stellte es auf eine Ablage neben dem Fernseher. Er wirkte betrunken, jedoch auf eine merkwürdige Art hektisch und unkontrolliert in seinen Bewegungen. Er ging zum Schrank und kramte eine Flasche hervor. Es machte mich etwas nervös ihm zuzuschauen, also nahm ich mir eine der Zeitschriften von dem Stapel neben mir, irgendein Musikmagazin. Ein loses Blatt lag zwischen den Seiten, eine Bleistiftzeichnung von einer großen Blume, die um ein Maschinengewehr gewickelt war. Michael strich sich durch die Haare, zog seine Hosen ein Stück hoch, kratzte sich am Bauch und setzte sich wieder hin. Er hielt mir die Flasche hin, ein halbleerer Jack Daniels. Ich winkte ab. Der Rosmarin war wieder voll da.
„Was ist jetzt mit diesem Dämon?“ fragte ich ihn.
„Nimm erstmal nen kräftigen Schluck! Auf!“
„Na ja, dann halt her damit.“
Er sah mir beim Trinken zu, schnappte sich die Flasche und zog ab. Für einen kurzen Moment wirkte er ganz abwesend, dann stand er auf und ging zum Fenster.
„Komm mal her, ich will dir was zeigen.“
Ich stand auf und ging zu ihm rüber. Der Rollladen war fast ganz heruntergelassen und das einzige was man sah, waren ein paar armselige Bäume und die Parkbank in einem kleinen Park auf der anderen Straßenseite, die von einer einsamen Straßenlampe beleuchtet wurden. Es hatte sich ein leichter Bodennebel gebildet, der die ganze Szene wie ein Gemälde von London im 17. Jahrhunderts wirken ließ. Kein Mensch war zu sehen, alles war ruhig und bedeutsam, fast ein wenig unheimlich.
„Hast du gestern Zeitung gelesen? Diese zwei Typen, die den Penner erstochen haben.“ fragte er.
„Hab davon gehört.“
„Da in dem Park ist es passiert.“ Er sah mich an. In dem schummrigen Licht der Zimmers konnte ich sehen, dass seine Augen feucht waren.
„Ich habs gesehen. Live. Ich saß auf der Couch, als ich Schreie hörte. Bin sofort ans Fenster und da waren diese zwei Kids und zerrten an dem alten Mann herum, der noch halb in seine Zeitungen eingewickelt auf der Bank lag. Keine Ahnung was die von ihm wollten, vielleicht sogar noch beklauen, obwohl man doch sah, dass das ein armer Penner war. Oder sie haben sich einfach ein Opfer gesucht, das sie aus Langeweile fertig machen konnten. Die Menschen sind so krank. Der Alte wehrte sich wie ein Verrückter und als er dem vorderen nen Schlag ins Gesicht verpasste, blitzte auf einmal ein Messer auf. Der Typ muss drei oder viermal zugestochen haben, bis der Alte neben der Bank zusammensackte.“
„Ach du Scheiße! Und dann?“ Mir wurde auf einmal ganz schlecht.
„Na ja, die haben die Panik gekriegt, haben sich angeschrien und alles. Dann sind sie weggerannt. Haben ihn einfach da liegengelassen...“.
„Und was hast du gemacht, zum Teufel!?“
Er nahm einen hastigen, tiefen Schluck aus der Flasche und sah aus dem Fenster.

„Nichts. Ich war einfach nur dagestanden. Ich hab nichts gemacht.“
„Aber…“.
„Ich muss mich setzen.“ Er schwankte zum Tisch zurück. Ich konnte nicht glauben was er da sagte, setzte mich wieder auf die Couch und starrte ihn an. Man sah dass er mit Tränen zu kämpfen hatte.
„Ich war so stoned, komplett fertig, und das war alles so unwirklich. Wie ein Kind, so hilflos. Dann sagte ich mir‚ ruf die Polizei an oder nen Krankenwagen’, aber die wären ja dann bestimmt in die Wohnung und hätten mich eingechached, bei dem ganzen Kram, den ich hier rumliegen habe. Irgendwann kamen die dann auch, ich hab die Sirenen gehört, aber dann wars zu spät. Ich war nur dagesessen, wie versteinert und hab an die Wand gestarrt. Er könnte noch am Leben sein. Ich hätte ihm helfen können oder wenigstens schreien, aber ich habe nichts getan. Das werde ich nie mehr los. Und alles nur wegen....“.
„Weswegen?“
„Ich hatte damals schon mal ne ziemlich böse Zeit, in der ich Sachen gemacht hab,…na ja…, und vor ner Woche ist es wieder passiert…ich bin nicht immer so stark..“
„Von was redest du?“
„Ach nichts, vergiss es.“
Er reichte mir die Flasche rüber und kratzte sich nervös im Gesicht. Dann wurde er ganz ruhig, verdrehte die Augen, als ob er kurz eingeschlafen wäre, zuckte wieder zusammen und fing an, sich eine weitere Tüte zu drehen. Während er mir das alles erzählt hatte, blickte er mir kein einziges Mal in die Augen. Ich wusste nicht was ich sagen sollte, also trank ich. So langsam spürte ich den Alkohol im Kopf und in der Blase.
Nach einigen Minuten vollkommenen Schweigens stand ich auf und fragte ihn wo das Bad sei.
„NEIN!! Du kannst da nicht rein! Hier, nimm das…“
Er zog unter dem Tisch eine Blumenvase hervor, die dem Gestank nach schon voller Urin war.
„Man, du musst dir helfen lassen. Das ist gestern echt scheiße gelaufen, aber guck dich mal an. Du drehst komplett durch. Und dann noch diese Dämonengeschichte. Ich bin da, man, und es ist alles ok. Wir schaffen das zusammen. Aber reiß dich zusammen.“
„Der Dämon ist real, glaub mir doch. Nach der ganzen Geschichte gestern bin ich ins Bad und da war er plötzlich. Keine Ahnung wie er dort reinkam, aber ich hab ihn sofort weggesperrt. Er ist hinter mir her, nur mir. Deshalb kann nur ich mit ihm fertig werden. Aber ich bin zu schwach. Ich laufe schon den ganzen Tag in der Wohnung hin und her und bin kurz davor durchzudrehen. Trink mit mir, erzähl mir irgendwas, vielleicht was Lustiges oder was dir sonst so einfällt. Ich brauche dich hier, bis ich den Mut habe, da reinzugehen!“
„Alter…“ Er machte mir Angst. Es gibt Menschen, die in gewissen Situationen einfach den Faden verlieren und verrückt werden. Mir wurde einmal von einem Mädchen erzählt, das mit ihren Freundinnen eines Nachts Gläserrücken spielte, weil sie es in irgendeinem Gruselfilm gesehen hatten und sich nun selbst einen Spaß mit den Geistern machen wollte. Sie steigerten sich immer weiter hinein und als sie schließlich genug gebechert hatten, bewegte sich das Glas unter ihren zittrigen Fingern tatsächlich. Voller Schreck warfen sie das Glas an die Wand. Während die anderen Girls relativ schnell wieder runterkamen, weiterfeierten und schließlich laut lachend nach Hause wankten, hatte es bei dem Mädchen längst irgendwo Klick gemacht. Mitten in der Nacht wachte sie auf und es war dunkel und totenstill. Direkt über ihrem Bett sah sie, noch im Halbschlaf, einen winzigen roten Punkt. Als sie ihn mehrere Sekunden lang anstarrte, fing er an zu pulsieren und wurde immer größer, bis er schließlich die Größe eines Fußballes hatte. Mit einem Mal stülpte sich eine unförmige Masse heraus. Das Mädchen erkannte einen Kopf und dann noch einen Oberkörper, der sich rasend schnell aus dem Loch hinaus auf sie zubewegte. Sie schrie voller Verzweiflung, bis die Eltern ins Zimmer gestürmt kamen und das Licht anmachten. Sie versuchte ihnen zu erklären, dass ihr der Teufel erschienen sei, doch diese schnauzten sie nur an, sie solle sich beruhigen und wieder hinlegen. Kaum waren sie weg, war der Punkt wieder da, regungslos und wie ein Mahnmal über ihr schwebend. Angeblich sieht sie ihn seitdem jede Nacht, fest in der Überzeugung, dass sie irgendwann geholt wird. Die Geschichte war bisher der Renner an jedem Lagerfeuer.

„Bleib hier bei mir.“, bat er mich noch mal.

„Klar doch. Pass auf, lass uns noch ein bisschen was trinken und dann leg dich mal hin. Du siehst scheiße aus.“

„Nein, ich will nicht schlafen. Aber wir sollten saufen, da hast du Recht.“

Die ganze Geschichte ging mir an die Nieren. Da saß ich also mit nem Typ, der langsam den Verstand verlor und ich hatte keine Ahnung was ich dagegen machen sollte. Vielleicht hätte eine ordentliche Backpfeife geholfen, aber ich beschloss dann doch noch nen Schluck von der Pulle zu nehmen und ihn auf andere Gedanken zu bringen. Ich pisste ihm zuliebe sogar in die Scheiß Vase. Wir tranken die Flasche Jacky leer, dann fand er noch einen Rotwein, den wir auch kippten und rauchten dabei bestimmt 3 oder 4 Joints. Ich sprach ihn auf die Zeichnung an, die ich gefunden hatte. Er lachte.

„Das hat mein Sohn für mich gemalt, als ich ihn mal bei meiner Exfreundin besucht habe. Also die Knarre. Ist aber schon lange her. Der Kleine steht total auf Actionfilme, kennt die in- und auswendig. Du sagst zu ihm „Schwarzenegger“ und er stellt sich hin, streckt die Brust raus und grunzt „Hasta la vista“. Da lachste dich kaputt. Erst neun Jahre alt, der kleine Scheißer. Als seine Mutter das Bild gesehen hat, war sie richtig sauer und meinte er soll mir was Schönes malen. Also kam die Blume dazu. Ich will mir das noch einrahmen und aufhängen. Er hat überhaupt keine Ahnung, wie genial das überhaupt ist.“

„Kinder sind die wahren Künstler.“ Sagte ich und merkte gleich, wie bescheuert sich das anhörte. Ihm fiel das nicht auf.

„Da ist was dran. So unschuldig, aber gerade deswegen so menschlich. Umso älter du wirst, umso mehr wirst du…“

Er fand das Wort nicht.

„Verdorben?“

„Genau! Verdorben…“ Er zog an dem Joint, blickte an die Decke und wurde still.

Ich war hundemüde. Ich nahm ihm den Joint ab und rutschte noch ein bisschen tiefer auf der Couch. Wir schwiegen eine ganze Weile. Das ganze Zimmer war mittlerweile vollkommen von rötlichen Rauchwolken durchzogen. Mein Kopf dröhnte und ich fühlte mich benommen, als mir plötzlich etwas an der Wand in den Blick fiel. Es war eine der zahlreichen Holzschnitzereien, mit denen das ganze Zimmer vollgestellt war, eine Art indische Maske mit der Fratze irgendeines Totengottes. Für einen kurzen Moment dachte ich, ich hätte eine Bewegung darin gesehen, wie als ob sie mir mit den Augen zugezwinkert hätte. Mir gefror das Blut in den Adern. Was wenn das Mädchen mit dem roten Punkt doch Recht hatte? Ich sah zu Michael hinüber, der allerdings auch nur noch apathisch auf den Tisch starrte. Dann drehte ich mich wieder zu der Maske hin. Sie hing einfach nur da, regungslos, ein Stück Holz. Die Joints, der Alkohol und meine blühende Fantasie. Ich schmunzelte über mich selbst, dann schloss ich die Augen und merkte wie ich wegsackte. Von ganz weit weg hörte ich Michael noch sagen: „Irgendwie hab ich das Gefühl, als hätten die zwei gestern auch mich abgestochen, weißt du was ich meine?“, aber es klang so, als ob er mit sich selbst redete.

Irgendein Geräusch riss mich aus dem Schlaf. Ich schreckte kurz auf, drehte mich aber dann auf die andere Seite und versuchte wieder einzuschlafen, doch nach mehreren Minuten ohne Erfolg beschloss ich, aufzustehen. Ich sah mich um. Alles war wie zuvor, das spärliche Licht, der rauchgeschwängerte Raum, die Flaschen, der Dreck. Nur der Stuhl, auf dem Michael gesessen hatte, war leer. Draußen war es immer noch Nacht. Ich suchte mit meinen Blicken den Boden ab. Doch Michael war einfach nicht mehr da. Auf einmal bekam ich eine böse Vorahnung und ging den Hausflur entlang, Richtung Badezimmer. Die Tür stand halboffen und ich konnte Licht darin sehen. Ich ging näher und machte die Tür ganz auf. Es war grauenhaft. An der gegenüberliegenden hing ein großer Spiegel über dem Waschbecken, in unzählige Splitter zerschlagen. Der ganze Boden war voller Bruchstücke. Direkt davor lehnte Michael an der Badewanne, die rechte Hand blutüberströmt und seinen linken Arm am Bizeps abgebunden. Die Nadel steckte noch im Ellenbogen. Er hatte den Mund halboffen, als wollte er irgendetwas sagen, aber seine Augen waren leer und blickten starr auf die Klobürste. Ich sank auf die Knie und übergab mich, bevor ich überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte. Dann robbte ich zu ihm hinüber und legte ihm meinen Mittel- und Zeigefinger an den Hals. Kein Puls. Ich kotzte noch einmal und sank neben ihm auf den Boden, Tränen schossen mir in die Augen. Bestimmt zehn Minuten saß ich einfach so da, dann sprang ich auf, packte meine Sachen und rannte aus der Wohnung. An der Straßenecke fand ich eine Telefonzelle. Ich stürzte hinein und wählte den Notruf.

Der Weg zu mir nach Hause führte an unserem Klinikum vorbei. Es wurde langsam hell und die ersten Menschen strömten bereits hinein. Auch mein Dienst würde in ungefähr einer halben Stunde anfangen, doch ich hatte nicht vor, da jetzt reinzugehen. Also rannte ich schnell am Eingang vorbei und passte auf, dass mich niemand sah. Ein paar Straßen weiter merkte ich, dass ich kurz vorm Umkippen war, doch ich machte erst langsamer, als ich schon fast vor meiner Wohnungstür war. Ich ging hinein, verschloss die Tür hinter mir und setzte mich auf mein Bett. Eine letzte Zigarette hatte ich noch. Ich steckte sie an, inhalierte tief, ließ den Rauch einige Sekunden in der Lunge, und stieß ihn wieder aus. Auf dem Tisch lag das Best-Of Album, das Michael mir geliehen hatte. Ich nahm die CD heraus, legte sie in die Anlage und wählte das vierte Lied und hörte es mir ganz an. Als der Song fertig war, ließ ich ihn gleich noch mal laufen und drückte diesmal Repeat. Dann legte ich mich ins Bett und schlief.

 

Kai Kraus – getthek@googlemail.com