28. April 2011

Der Tatort unter den Comics

 

„Warte, warte nur ein Weilchen,
bald kommt Haarmann auch zu dir,
mit dem kleinen Hackebeilchen,
macht er Schabefleisch aus dir.
Aus den Augen macht er Sülze,
aus dem Hintern macht er Speck,
aus den Därmen macht er Würste
und den Rest, den schmeißt er weg.“

 

Lustig klingt er, der gesungene Abzählreim, mit dem der deutsche Jazzmusiker Hawe Schneider 1961 wochenlang in den Charts Erfolge feierte. Die Geschichte jedoch, die hinter diesen Zeilen steckt, ist zutiefst schauerlich. Es ist die des „Werwolfs“ von Hannover, Fritz Haarmann, der zwischen 1918 und 1924 in Hannover mindestens 21 [!] Knaben im Alter von 10 bis 22 Jahren umgebracht hat. Schrecklich, grausam, unmenschlich möchte man schon jetzt sagen, doch damit nicht genug. Seine Opfer hat er durch einen wollüstigen Biss in den Hals getötet, sie anschließend zerstückelt und in die Leine geworfen. Eine Bestie, würden Ermittler heute einen solchen Täter schimpfen.

Diese Ermittler stehen in dem Szenario von Peer Meter und Isabel Kreitz anfangs auch in der Leine. Bis zu den Knien im Schlamm fischen sie unzählige Knochen aus dem trüben Gewässer. Was es genau für Knochen sind, lassen die düsteren Zeichnungen von Isabel Kreitz offen, aber dass es sich um Menschenknochen handelt, wird schon im ersten Bild deutlich. An dessen unterem Bildrand ragt ein Schädel aus dem Matsch, den einer der Polizisten angewidert ins Auge fasst, während sich im Hintergrund sein Kollege übergibt. Bewohner schauen aus den angrenzenden Häusern, Blicke voller Wut und Angst. Und während zahlreiche Polizisten das Flussbett der Leine nach weiteren Knochen durchsieben, bedrängt Fritz Haarmann einige Häuser weiter seinen Kompagnon Hans Grans in unzweifelhafter Manier. Diese ebenso unmittelbare wie unheimliche Nähe von Tod und Lust, die Meter und Kreitz auf den ersten Seiten ihres Kriminalcomics schaffen, zeigt ihr gesellschaftliches Tiefenverständnis am Fall Haarmann, das ihrem düsteren Werk zugrunde liegt.

In sieben Etappen erzählen Kreitz und Meter die Geschichte, mit der Hannover in die Analen der Kriminalgeschichte eingezogen ist. Dabei gelingt es ihnen nicht nur, den Fall als solchen umfänglich darzustellen, sondern sie nutzen die Mittel der Text-Bild-Sprache, um das herrschende Unwissen von Polizei und Bevölkerung zu Haarmanns Aktivitäten auch beim Leser – wider der Kenntnis des Ausgangs – aufrechtzuerhalten. Es bleibt immer nur beim Verdacht, lange Zeit gibt es keine konkreten Hinweise der Autoren für den Leser, dass das, was er die ganze Zeit ahnt, auch der Wirklichkeit entspricht. Text und Bild stehen nicht einfach nur nebeneinander stehen und bestätigen sich, sondern die Semantik ihres Widerparts wird entweder auf ein Maximum erweitert oder auf ein Minimum reduzieret. Die atmosphärischen Bilder von Isabel Kreitz und Meters klare Texte besitzen nur eine Funktion: Sie heben vermeintliche Sicherheiten auf oder ermöglichen erst das spekulative Kino im Kopf des Lesers – und versetzen ihn damit in eine Stimmung aus „Das kann unmöglich sein“ und „Das muss doch jetzt jemand merken“. Dem Rezensenten scheint kein Medium für die Kreation solcher Effekte besser geeignet als der Comic.

Peer Meter und Isabel Kreitz verstehen ihr Handwerk und sind leidenschaftliche Rechercheure. Für die Schöpfung eines Augen öffnenden Kriminalcomics sind sie prädestiniert. Meter hatte bereits gemeinsam mit der Zeichnerin Barbara Yelin eine Kriminalgeschichte in Comicform adaptiert – die der Bremer Giftmischerin Gesche Gottfried in der viel beachteten grafischen Erzählung Gift (erschienen bei Reprodukt). Kreitz legte zuletzt mit Die Sache mit Sorge eine packende Erzählung über den legendenumwobenen Agenten Richard Sorge vor und gewann damit den Sondermann-Preis der Frankfurter Buchmesse. Für ihre Werke Die Entdeckung der Currywurst (eine Adaption der Novelle von Uwe Timm) und Der 35. Mai (eine Adaption der Erzählung von Erich Kästner) erhielt sie den Deutschen Comicpreis und den Max-und-Moritz-Preis (alle Werke erschienen bei Carlsen).

Den zahlreichen literarischen und filmischen Adaptionen dieser schaurigen Erzählung, von Theodor Lessings Sachbuch Haarmann – Die Geschichte eines Werwolfs über Fritz Langs Film M – Eine Stadt sucht einen Mörder bis hin zu Romuald Karmakars Der Totmacher (mit Götz George), haben Kreitz und Meter eine erste Comic-Übertragung hinzugefügt, die sich mit diesen Meisterwerken zweifellos messen kann.

Doch was fasziniert uns Leser an solchen Schauergeschichten? Es scheint die Tatsache, dass solche Verbrechen in der Mitte unserer Gesellschaften stattfinden. Diese Erkenntnis hinterlässt auch die tiefsten Spuren im kriminalsoziologischen Stammbaum. Eine große Rolle in dieser Haarmann-Erzählung spielt daher auch die gesellschaftliche Akzeptanz Haarmanns, sein Doppelleben als Helfer in Krisenzeiten und skrupelloser Triebtäter. Denn während er Knaben in seine Wohnung entführte, um sie dort zu missbrauchen und zu zerstückeln, arbeitete er für die Hannoversche Polizei als Spitzel und belieferte seine Nachbarschaft mit günstigem Fleisch. Woher dieses stammte, wurde nie aufgeklärt. Kreitz und Meter lösen diese Frage ebenfalls nicht, auch wenn ihr Szenario die schreckliche Version des Menschenfleischhändlers nahe legt, der die Naivität seiner Kunden zu nutzen wusste.

Haarmann selbst äußerte sich in dem spektakulären Prozess dazu weder bestätigend noch verneinend. Auf Verdachtsmomente, die es durchaus gab, ging die Hannoversche Polizei nicht ein – schließlich war Haarmann einer von ihnen. All diese Seitenwege der Geschichte werden in dem Comic weder über die Maßen ausgeschlachtet noch unter den Tisch gekehrt, sondern sie erhalten ihren Platz in dem Gesellschaftspuzzle, das den Fall Haarmann in seinen schrecklichen Ausmaßen erst möglich gemacht hat. „Haarmann“ ist somit in Anlage und Text-Bild-Realisierung nichts Geringeres als eine kriminalpsychologische Studie in Text und Bild. In seiner tiefgründigen Analyse entpuppt sich „Haarmann“ als der Tatort unter den Crime-Comics.

 

Thomas Hummitzsch

 

Peer Meter (Szenario + Text) & Isabel Kreitz (Zeichnung): Haarmann. Carlsen-Verlag. Hamburg 2010. 192 Seiten. 19,90 Euro. ISBN: 3551791074.

 

Homepage Peer Meter: www.peermeter.de

 

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