25. April 2011

Eine kleine Lehrstunde in Südtirolerisch

 

Eine Reise auf den Uranus durch das Pustertal

 

Gianni, allora per me una pizza vegetaria, ma mettimi del rucola invece dei caroti – e da bere una birra, ben fredda come la settimana scorsa…

In einem kleinen Restaurant in der Brunecker Stadtgasse wundere ich mich, dass Gabi ihre Pizza auf Italienisch bestellt, denn der italienische Kellner spricht auch ausgezeichnet Deutsch.

Frag mich jetzt bitte nicht, als was ich mich fühle, hatte sie mich gefragt, um dann doch zu antworten: als Südtirolerin mit italienischem Reisepass. Und sie hatte hinzugefügt: Nicht Fisch, nicht Fleisch.

Bitter hört sich das dennoch nicht an. Gabi ist nämlich stolz auf ihre Zweisprachigkeit. Aus gutem Grund. Er heißt Francesco de André, und wenn der über die Liebe singt, rührt sie das zu Tränen. Denn die Sprache der Liebe ist zwar universell, doch am schönsten klingt sie mit italienischem Akzent. Aus  der politischen Not haben Gabi und ihre Altersgenossen  eine kulturelle Tugend gemacht.  Das haben sie der älteren Generation voraus, meinem Schwiegervater etwa, der am Frühstückstisch gern apodiktisch verkündet:

 Ein Tiroler bleibt ein Tiroler!  

Die Globalisierung hat freilich auch vor einem Bergbauernhof auf 1400 Seehöhe nicht Halt gemacht, darum prangt auf seinem T-Shirt  Andreas Hofers Abbild  vor dem Hintergrund der kubanischen Nationalflagge.

Ein Zitat des in Wien begrabenen Südtiroler Dichters Gerhard Kofler fällt mir ein, der  seine eigenen Gedichte in vorauseilendem Gehorsam gleich selbst ins Italienische übertrug, weil, wie er behauptete, wer nicht mindestens eine zweite Sprache spreche, seine eigene nicht kenne.

Mentalitäten ändern sich, ist Gabi überzeugt. Nicht sofort, nicht innerhalb einer Generation, aber schubweise, von einer zur nächsten. Doch auch das Gegenteil ist wahr. Historisch Gewachsenes behauptet sich oft erstaunlich hartnäckig gegen aktuellere Trends der Geschichte. Wo aber verläuft dann die Grenze? Jene zwischen germanischem und romanischem Einflussgebiet überschritten berühmte Reisende wie Montaigne und Goethe schon zu ihrer Zeit in Bozen. Doch wie wirkt sich die Macht der Trennung heute auf das Selbstverständnis der betroffenen Menschen aus, dieses eigenartige Verhängnis, das nicht hingenommen werden kann und doch hingenommen werden muss, diese kontingente Gewalt, Gewalt der Kontingenz, die ohne Kanten zwar, nicht mehr aus der Welt zu bringen ist?  Eine Frage, die in Südtirol vom ökonomischen Wohlstand der letzten Jahrzehnte mehr verdeckt als beantwortet wurde. Politisch ist das Thema seit dem Autonomiestatut ohnehin auf Eis gelegt. Aber weder sind dadurch die alten Gräber zum Süden hin alle zugeschüttet worden, noch sind der Norden und Osten gefühlsmäßig nähergerückt.

Was aber stiftet dann Identität,  welche Mächte jenseits von Politik und  wirtschaftlicher Prosperität sind noch daran beteiligt? Tradition, Tracht, Musik und Architektur? Oder noch basaler: eine Lasagnalinie oder Spaghettigrenze, die wie der Röstigraben in der Schweiz oder der Weißwurstäquator in Deutschland Südtirol durch eine unsichtbare, allenfalls olfaktorische Schneise von Trient trennte? Anderseits überwinden die Gaumenfreuden bekanntlich alle lukullischen Differenzen und haben schließlich auch auf der Speisekarte der „Pizzeria zum Goldenen Löwen“ in der Brunecker Stadtstraße eine friedliche Koexistenz von Pizza tonno und Tiroler Pressknödel herbeigeführt.

Bleibt als sicherstes Kriterium die Sprache. Nicht Fisch nicht Fleisch, hatte Gabi gesagt. Was mich daran irritierte? Nicht was sie sagte, sondern wie sie es sagte. In dem landesüblichen Dialekt nämlich. Dank seiner bewegt sie sich mit behänder Leichtigkeit - wie ein Fisch im Wasser, dachte ich - in ihrer Sprache. Derselben, die auch meine ist, aber die ich nie so sicher beherrschen werde wie sie.  Weil mir das Mittel dazu fehlt: der Dialekt. Muttersprache heißt auf Englisch mother tongue. Und das kommt dem am nächsten, was ich mir unter einer Mundart vorstelle: Eine Sprache, die man auf der Zunge hat wie der Vogel sein Geträller: die weiche, weibliche Zungenfertigkeit einer vaterlosen Zeit vor der Gesetzsprechung. Eine solche stand mir selbst nie zur Verfügung. Im fremdsprachigen Ausland zwischen antagonistischen Polen – einem alemannischen und einem wienerischen Elternteil – groß geworden, habe ich von meiner Sprache nur die spröde Hohlform geerbt: das Hochdeutsch. Die Grammatik der Väter. Die Schrift. Den toten Buchstaben. Seither laufe ich diesem Mangel hinterher. Schreibend versuche ich den Abstand zu verringern. (Ob es wohl eine Dialektdichtung von Rang geben kann, frage ich mich nebenbei, wenn alle Literatur von einem Verlust, einer Erfahrung der Leere, der Abwesenheit angetrieben ist?). Gabi schlägt mir eine einfachere Lösung vor:

Lern doch statt einer Sprache einfach einen Dialekt!

Es klingt wie die Anweisung an einen Blinden: Gebrauche deine Augen anstatt sehen zu wollen!

Ich nehme zur Kenntnis, dass es verschiedene Arten gibt, sich fremd zu fühlen. Gabi hat ihre Fremdheit und ich meine.

Immerhin hast du ein Zuhause, sage ich zu ihr.

Ihr Zuhause, das Pustertal,  führt durch Süd- und Osttirol, trennt oder vereint die beiden Länder, je nachdem, wie man es sehen möchte. In diesem malerischen Eck, in dieser Erdfalte hier ist sie geboren, und hier wird sie einmal ihre eigenen Kinder aufziehen. Und sie einweisen wie die Vögel in die Sprache ihres Habitats, die, wie sie mir auch erklärte, auf Südtiroler Seite melodischer, molliger, eben „ italienischer“ klinge als weiter oben im raueren Osten.

Ein Zuhause zwischen den Stühlen, gibt mir Gabi am Ende mit auf den Weg.

Ja, denke ich. Aber besser ein Platz zwischen den Stühlen als unterm Tisch. Dabei fällt mir das Wort eines anderen Südtirolers ein, eines Freundes aus Wien, der im österreichischen Exil zwar Zuflucht vor dem Südtiroler Unglück, aber nicht sein Glück fand, und der einmal auf meine Frage, an welchem Ort er am liebsten wohnen würde, antwortete:

Auf dem Uranus.

 

René Steininger
 
www.renesteininger.at