20. April 2011

Avancen der Zeichnung

 

Als Künstler, der sich (fast) nur durch sich selbst autorisierte und nur wenige Auftragsarbeiten realisierte, zählt Max Klinger (1857-1920) sicherlich zu den modernen Künstlern. Als Maler ist er allerdings noch ganz traditionell: In seinem Aufsatz Malerei und Zeichnung heißt es: „Das Wesen der Malerei definiere ich so: Sie hat die farbige Körperwelt in harmonischer Weise zum Ausdruck zu bringen, selbst der Ausdruck der Heftigkeit und Leidenschaft hat sich dieser Harmonie unterzuordnen.“ Die Modernität des modernen Künstlers Klinger findet man nicht in der Malerei, sondern in der Zeichnung oder in dem, was Klinger selbst „Griffelkunst“ genannt hat. Die Zeichnung ist nicht wie früher Versuchsterrain oder Anlaufstation für die große Schwester Malerei, sondern durchaus autonomes Gebiet. Anders als die Malerei sei sie sogar offen für „geistige Zutat“.

 

Der jetzt in zweiter Auflage erschienene Ausstellungskatalog zu einer bereits 2007 gezeigten Schau zu Klingers grafischem Werk gibt erneut Gelegenheit, sich ein Bild davon zu machen. Von den vier vorgestellten grafischen Zyklen: Opus III: Eva und die Zukunft (1880), Opus V: Amor und Psyche (1880), Opus VI: Ein Handschuh (1881) und Opus X: Eine Liebe (1887) ist das Werk mit dem Titel Ein Handschuh sicher das bekannteste und wohl auch das beste. Gleichwohl gibt es auch in dem dritten Opus beeindruckende Bilder zu sehen, so etwa die Radierung „Dritte Zukunft“, in der der Tod mit einer Pflasterramme menschliche Köpfe traktiert. Sehr schön kann hier auch gezeigt werden, dass Klinger bestimmte Elemente serienübergreifend benutzt wie in diesem Bild eine Hand, die von rechts in das Bild hineinragt und auf die Serie Ein Handschuh verweist.

 

Eigentlich müsste Max Klinger die Ehre zukommen, immerhin der visuelle Erfinder des psychoanalytischen Konzepts des „Partialobjekts“ zu sein, denn wo wenn nicht hier könnte man die Extensionen dieses Begriffs studieren. Selbst dass diesem Zyklus keine eigenständige Geschichte mehr entspricht und der zeitliche Faktor kaum eine Rolle spielt, zeigt die Avanciertheit dieser Arbeit. Dinge wie Handschuhe sind nicht nur Kleidungsstücke, sondern lassen sich (wie das meiste andere auch) wunderbar aufladen. Sie sind dann Fetische und werden zu Agenten. Oder der Handschuh als Objekt wird abstrus „verschoben“ und dient nun als Handschuhvorhang wie in der Radierung Nr. 8 (von 10 insgesamt) mit dem Titel „Ruhe“. Die Radierung Nr. 7, „Ängste“, könnte problemlos von Max Ernst stammen, und überhaupt rückt Klinger mit dieser Serie wenn nicht zeitlich so doch thematisch eng an den Surrealismus heran. Manches Ziselierte wiederum (wie in Nr. 5, „Triumph“) weist zurück auf den Allegoriker Ph. O. Runge. Die Präraffaeliten wiederum feiern ihr frühes Comeback in Klingers Opus X, Eine Liebe (1887). Und der Fötus als Bildelement scheint nicht nur Edvard Munch fasziniert zu haben.

 

Geist hin oder her – Max Klingers Zeichnungen sind zu stark, als dass sie in nächster Zeit vergessen werden könnten.

 

Dieter Wenk (4-11)

 

Frank Zöllner (Hg.), Griffelkunst. Mythos, Traum und Liebe in Max Klingers Grafik, Leipzig 2011 (Plöttner Verlag)

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon