5. April 2011

Von einem, der auszog, das Schreiben zu lernen



Drew Weings Set to Sea ist ein kleines Buch über die große Reise eines (im wörtlichen Sinne) großen Mannes. Aus seiner Stammkneipe geworfen, wird der erfolglose, aber leidenschaftliche Autor von Seefahrerdichtung nachts am Pier bewusstlos geschlagen und in die Handelsmarine gepresst. Seine Klagen und Beteuerungen, er sei für das Leben auf See nicht geeignet, er sei vielmehr Poet, verfangen nicht. Als einfacher Matrose auf einem Teeklipper muss er nach Hongkong fahren, das Deck schrubben und trockenen Zwieback essen. Er kämpft gegen Piraten und Wale, verliert ein Auge und einen Freund, wird zum Maat befördert und bereist die ganze Welt. Was bleibt ist: "Work. Work. Work and woe." Nach vielen Jahren auf See kehrt der hünenhafte Poet zurück in seinen Heimathafen, lässt sich im namentlichen Sessel nieder, aus dem ihn der Wirt anfangs verscheucht hat, und wird nun, mehr gereift als gealtert, vom Sohn des Wirts, der die Spelunke übernommen hat, hofiert. Dort sitzt er, schreibt und genießt seinen Lebensabend. Doch zuvor erscheint noch sein Buch, eine Anthologie maritimer Gedichte, vielleicht die sehnsüchtigsten und tranigsten aller Dichtungen. "Nur nicht im Hafen liegen und schlafen, / Sei es im Glück, sei es bei Weh, / Leben ist nur auf offener See." Das wusste nicht erst Gorch Fock, oder glaubte es zu wissen.
Dem namenlosen Poeten in Weings Geschichte bringen seine Gedichte nicht bloß Anerkennung von Lesern und Kritikern, selbst ein Lehrstuhl für Literatur tragen sie ihm ein, den er, der unverbildete Seebär, selbstredend ausschlägt. Am Ende seines Weges sieht er einen Junge im Hafen sitzen und sein Buch lesen. Orangenbaumblätter liegen auf dem Weg. Es ist die alte Mär vom Dichter, der "dort draußen" Erfahrungen machen und Eindrücke sammeln muss, die dann nur noch in eine sich von selbst ergebende Form gegossen werden müssen. Das passt in das 19. Jahrhundert, in dem die Geschichte ihren Platz hat, und das passt zur Schifffahrtsromantik. Weing erzählt seine Version dieser Geschichte in charmanten Bildern mit sympathischen Figuren. Zumal der naive Poet – äußerlich ein Vetter des unglaublichen Hulk, im Herzen aber watteweich – wächst dem Leser unmittelbar ans Herz.
Es ist kein Zufall, dass der Junge auf dem Steg dem Seebären ähnelt: Ein potenzieller Nachfolger ist schon bestellt. Und so kann der Seebär im letzten Bild getrost in der gleichen Pose schlafen, in der er es auch im ersten Bild getan hat. Die Reisen seines Lebens führt in endlich zurück an den Anfang. Mit diesem Zirkelschluss wird etwas deutlich, das an vielen Stellen gezeigt, aber nicht expliziert wird: Literatur, in Bildern oder in Textform, entsteht keineswegs aus empirisch gewonnener Erfahrung, wie es die Geschichte oberflächlich glauben machen will, sondern auf durchaus zirkuläre Weise, durch das Anknüpfen an andere und das Wiederholen bereits erzählter Geschichten. Einmal ganz abgesehen davon, dass der Leser nicht erfährt, ob der Poet seinen Ausflug 'nur' geträumt hat, klingen verschiedene literarische Paten an: von Homer – ist doch der See-Poet ein Odysseus, der unfreiwillig auf eine Reise geht, Abenteuer bestehen muss und zuletzt glücklich heimkehrt – bis Hemingway, über Melville, Forester, Stevenson, ihre Illustratoren und Verfilmer. Den Mythos der Segelschifffahrt wie den Mythos der Literaturentstehung und die Geschichten ihrer jeweiligen Helden haben wir uns in Texten, Filmen, Theaterstücken und natürlich Comics unendlich oft erzählt – und werden dies auch weiterhin tun, mal jeden Mythos für sich, mal geschmeidig verbunden wie in Set to Sea.
Weings Büchlein erinnert in vielerlei Hinsicht an Frans Masereels expressionistischen Holzschnittroman Mein Stundenbuch (1928), das als Parallellektüre empfohlen sei. (Es ist aus zweiter oder dritter Hand günstig zu haben.) Zeichnerisch orientiert sich Weing aber an anderen. Zu Recht verweist der Klappentext auf Gustave Doré – William Hogarth liegt eigentlich näher – und E.C. Segar (Popeye) als Eckpunkte. Weings Zeichnungen erreichen vielleicht nicht ganz die Qualität des Franzosen – oder des Engländers –, dafür schafft er mühelos den Spagat zwischen sich im Spiel mit differenzierten Halbtönen ergehenden Schraffuren und der linienbetonten, schwarzweißen Klarheit der Comicästhetik Elzie Segars. Man darf sich von den seitenfüllenden Bildern nicht zum schnellen Weiterblättern verführen lassen, denn erst der genaue Blick zeigt, wie Weing beide Techniken mal kontrastiert, mal harmonisiert – und das macht wirklich Freude.

 

Christian A. Bachmann


Drew Weing: Set to Sea. Seattle: Fantagraphics Books 2010.


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