28. März 2011

Korrekturen zu einer russischen Ikone

 

Eine Biografie zur Schriftstellergattin Sofja Andrejewna Tolstaja macht Schluss mit der Mär der egoistischen und geldgierigen Furie an der Seite Lew Tolstojs und entlarvt den Dichter als rücksichtslosen Egoisten.

 

„Er lag bewegungslos, mit bereits geschlossenen Augen auf dem Rücken. Ich sprach ihm leise, voller Zärtlichkeit ins Ohr, in der Hoffnung, er könne es noch hören, daß ich die ganze Zeit in Astapowo gewesen sei und ihn bis zum Schluß geliebt habe …“ Mit diesen Worten erinnert sich Sofja Andrejewna Tolstaja in ihrem Tagebuch am 29. Oktober 1910 (nach dem julianischen Kalender) an die letzte Begegnung mit ihrem Mann Lew Tolstoj, nachdem er von dem gemeinsamen Gut Jasnaja Poljana geflohen war. Acht Tage später stirbt Tolstoj.

Die Sanftmut dieser Worte will so gar nicht in das Bild der geldgierigen, egoistischen und hysterischen Frau passen, wie Tolstaja bisher in der Literaturgeschichte beschrieben wurde. Kein Wunder, denn dieses Bild ist grundlegend falsch! Zu dieser Erkenntnis gelangt, wer die hervorragende Biografie „Sofja Andrejewna Tolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstojs“ von Ursula Keller und Natalja Sharandak liest. Darin zeichnen die beiden Autorinnen anhand bislang unveröffentlichter, oft persönlicher Dokumente aus dem Familien- und Freundeskreis der Tolstojs das Bild einer hoch gebildeten und emanzipierten Frau, die ihr Leben der Familie und dem literarischen Erfolg Tolstojs gewidmet hat.

Im Zentrum stehen dabei die persönlichen Aufzeichnungen der beiden Tolstojs, die mithilfe ihrer Tagebücher eine seltsame Form der Kommunikation in ihrer Beziehung eingerichtet hatten. Schonungslos offen vertrauten sie den stummen Seiten ihrer Journale ihre Hoffnungen und Zweifel an, um sie anschließend den Partner lesen zu lassen. Vieles im Hause Tolstoj blieb ungesagt, aber kaum etwas unnotiert und ungelesen. Die unzähligen Notizbücher erzählen davon.

Die Tochter des kaiserlichen Hofarztes Andrej Jewstafjewitsch Behrs und seiner Frau Ljubow Alexandrowna wurde am 22. August 1844 als eines von acht Kindern in der Nähe von Moskau geboren. Sie wächst in der Tradition der russischen Intelligenzja auf, beschäftigt sich mit Kunst und Kultur, verkehrt schon als junge Dame in höheren Kreisen und legt nach einem erfolgreichen Schulabschluss an der Moskauer Universität ein Examen als Hauslehrerin ab. Da ein höheres Universitätsstudium nicht möglich ist, erhält sie zu Hause Privatunterricht, lernt u.a. Französisch. Sie verkehrt in universitären Kreisen, lebt eine emanzipierte Jugend, besucht Theatervorstellungen und Lesungen.

Lew Tolstoj kennt sie schon seit ihrer Kindheit, denn er ist ein Freund der Familie. Anfang der 1860er Jahre ist er der begehrte Kandidat für eine Hochzeit mit der ältesten Tochter des Hofarztes Lisa und zunächst scheint er auch nicht ganz abgeneigt zu sein. Im Sommer 1962 hält er sich zum wiederholten Male in Moskau im Kreise der Behrs auf und Sofja spürt erstmals tiefe Gefühle für den jungen „Comte“ in sich aufwallen. Sie gerät in einen Gewissenskonflikt, denn „Vater Behrs ist ungehalten, dass Tolstoj seiner Ältesten nicht endlich, wie es die Konventionen verlangen, den lange erwarteten Antrag macht.“ Sofja weiß, warum dies nicht geschieht, denn seit Tolstoj eine ihrer Erzählungen gelesen hat, ist seine Leidenschaft für die junge Frau entbrannt. In der Folge entwickelt sich zwischen den beiden eine zärtliche Romanze. Schließlich macht ihr der 16 Jahre ältere Tolstoj einen Heiratsantrag und sie willigt überglücklich ein. Doch vor der Ehelichung will Tolstoj noch reinen Tisch machen, der kindlich-unschuldigen Sofja noch seine lasterhafte Vergangenheit gestehen. Er vertraut ihr seine Tagebücher an, welche randvoll mit Berichten sexueller Obsessionen und Spielsucht sind. Höchst verstört und unsicher, wer die Person Lew Tolstoj wirklich ist, heiratet Sofja Andrejewna Behrs den Schriftsteller am 23. September 1862.

Gemeinsam ziehen sie nach der Trauung auf das Gut der Tolstojs. „Jasnaja Poljana! Wer gab dir deinen schönen Namen?“ notiert Sofja angetan von der Schönheit der Natur nach ihrer Ankunft auf dem Land. Doch noch immer ist sie verstört von Tolstojs Vergangenheit. „Die ganze Vergangenheit meines Mannes ist so furchtbar für mich, dass ich mich wohl niemals mit ihr abfinden kann.“ Tatsächlich wird Tolstojs lasterhafte Vergangenheit zu den immer wiederkehrenden Verbitterungen gehören, die Sofja in den unglücklichen Momenten ihrer fast fünfzigjährigen Ehe mit Tolstoj einholen. Insbesondere wenn sie seine Werke Korrektur liest und ins Reine schreibt, zeigt sich die Tiefe ihrer Verletzung: „Ich las den Anfang eines seiner Werke, und überall, wo es um Liebe geht, um Frauen ist es mir abscheulich, schwer, ich würde am liebsten alles, alles verbrennen. Damit nichts mich an seine Vergangenheit erinnerte. Und es täte mir nicht leid um seine Werke …“

In Tolstojs Verfehlungen sieht sich Tolstaja in ihrer Würde als moderne, gebildete Frau verletzt. Dieser Würde steht Tolstojs Frauenbild nahezu konträr gegenüber. Emanzipation ist ihm verhasst, in der Geburt von Kindern und der Führung des Haushalts sieht Tolstoj die natürliche Bestimmung der Frau. Sofjas eheliche Pflichten bestehen darin, im willfährig zu sein, seine sexuellen Leidenschaften legt er Zeit seines Lebens nicht ab. In den ersten 26 Jahren der Ehe schwängert er seine Frau 16 Mal. Noch 1889 schreibt er in einem Brief an seinen Sekretär Tschertkow über seine sexuellen Begierden: „Ich kann vor allem dieses Problem nicht so rasch überwinden, denn ich bin ein widerlicher, geiler alter Mann.“

Das die zahlreichen Schwangerschaften und schweren Geburten Sofjas Gesundheit in Gefahr bringen interessiert den begierigen Dichter nicht. Bei einer Geburt stirbt sie fast, danach verliert sie drei Kinder durch Fehlgeburten, fünf weitere muss sie im Laufe ihres beschwerlichen Lebens zu Grabe tragen – Bürden, die sie oft allein tragen musste und sie immer wieder in tiefe Depressionen stürzten. Tolstoj legte ihr das als „weibische Schwäche“ aus. Als sie die Geburt des fünften Kindes nur knapp überlebt und danach weitere Schwangerschaften auf Anraten der Ärzte verhindern möchte, ist das für Tolstoj unannehmbar und er droht mit der Trennung. Ihren Ängsten vor einer erneuten Schwangerschaft lässt er keinen Raum.

Lang Zeit interessierte sich Tolstoj überhaupt nicht für die Leidenschaften und Talente seiner Frau: „Sein Verhalten mir gegenüber unterdrückte alle meine Begabungen, macht mich oft mutlos und ließ mich die Freude am Leben verlieren“, notiert Sofja. Erst als sie Tolstoj bei seiner literarischen Arbeit unterstützen und seine Aufzeichnungen nach den anstrengenden Tagen gefüllt mit Mutterpflichten nachts ins Reine schreiben kann, blüht sie wieder auf. Jahrzehntelang wird sie die einzige bleiben, die Tolstojs wild niedergeschriebene Romannotizen, Korrekturen und Änderungen zu ordnen weiß.

Doch auch die Literatur kann letztendlich nur zeitweise über die Eintönigkeit des Alltags in der russischen Steppe hinwegtrösten. „Etwas ist zwischen uns getreten, ein Schatten der uns trennt …“, schreibt Sofja 1870 in ihr Tagebuch, ohne genau erkennen zu wollen, dass dieses Etwas ihre Sehnsucht nach Lebendigkeit ist. Es zieht sie zurück in die Stadt: „Ich will Fröhlichkeit, leere Plauderei, ich will elegante Kleider, will gefallen, will, daß man mir sagt, daß ich schön bin.“

Als ein Leben des Verzichts zeichnen Keller und Sharandak das Dasein der Tolstaja in ihrer erhellenden und bilderstürzenden Biografie. Die kulturellen Vorzüge der Stadt, die persönlichen literarischen Ambitionen, die eigene Gesundheit und die banalsten Bedürfnisse – all das stellt Tolstaja hinter die Ansprüche ihres asketisch lebenden Mannes zurück. Die Lasten der Familie und der Haushaltsführung trägt sie allein. Als am 30. Oktober 1875 das dritte Kind innerhalb von zwei Jahren stirbt, ist Sonja Tolstaja am Ende ihrer Kräfte. Lew Tolstoj bewegt das kaum, er ist von seinem Erfolg mit „Krieg und Frieden“ völlig eingenommen. Spätestens hier beginnen die auseinanderdriftenden Sichten auf das Leben in Jasnaja Poljana. Während die Schriftstellergattin das Paar in seiner Trauer gestört sieht – „Bei uns herrscht eine solche Trauer, und zugleich werden wir überall gefeiert“, kann man in Tolstajas Tagebuch in dieser Zeit lesen – beklagt Tolstoj ihren weinerlichen Zustand: „Es gibt nichts Schlimmeres für einen gesunden Mann, als die Krankheit seiner Ehefrau. Ich habe diesen Zustand im vergangenen Jahr durchlitten und leide noch immer daran.“ Kein Wort des Trostes, stattdessen Selbstmitleid. Immer wieder kommt es im Laufe der Ehe zu solchen Situationen, in denen der Dichter das Ertragen der aus seiner Sicht unverständlichen „Launen“ seiner Frau als das größere Leid ansieht.

Zugleich ist die Ehe in all den Jahren von einer absonderlichen Liebe geprägt, die mit größer werdendem Abstand wächst und in der Enge Jasnaja Polnajas auf ein Minimum zusammenschrumpft, zuweilen sogar in Abscheu umschlägt. Die Verbindung ist ein ständiges Auf und Ab. Der alles Negative zudeckende Kitt ist die gemeinsame literarische Tätigkeit. Bei den diesbezüglichen Ausführungen zeichnen Keller und Sharandak auf faszinierende Weise die komplexen Parallelen zwischen Werk und (Er-)Leben in der Familie Tolstoj und die sich daraus ergebenden existenziellen Streitigkeiten des Paares nach, wie zum Beispiel im Falle der Kreutzersonate („Sie [Die Kreutzersonate] hat mich vor den ganzen Augen der Welt gedemütigt und den letzten Rest von Liebe zwischen uns zunichte gemacht.“).

Für das Verhältnis der Tolstojs ist das literarische Vermächtnis des Dichters natürlich zentral. Nachdem Sofja jahrelang faktisch als seine Sekretärin tätig ist, bevollmächtigt Lew Tolstoj seine Frau, die Vermögensangelegenheiten und Drucklegung seiner Werke eigenverantwortlich zu führen. Sofja wird seine Werke erfolgreich verlegen, die Preise dabei jedoch anheben. Dies kollidiert mit Tolstojs Hinwendung zu den einfachen Arbeitern und Bauern und ihrem Lebensstil, denen er zwischenzeitlich das gesamte Familienerbe samt Werkrechte schenken will. Mit viel Aufwand und Geduld weiß Sofja das zu verhindern. Während sich Tolstoj mit system- und gesellschaftskritischen Texten für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzt und zum Messias der russischen Unterschicht aufsteigt, avanciert Sofja in Verantwortung für die riesige Familie zur erfolgreichen Geschäftsfrau. Immer wieder gerät das Paar darüber in Streit.

Hinzu kommt, dass Tolstoj immer schlechter über seine Ehe und die Frauen als solche schreibt. Sein Spätwerk ist nur am Rande literarisch, stattdessen wendet er sich zunehmend sozialen und religiösen Fragen zu, wobei er auch immer wieder auf einen angeblich schlechten Einfluss der Frau auf die Seelische Reinheit des Mannes zu sprechen kommt. Um ihn herum bildet sich eine Gemeinde asketisch-radikaler Tolstojaner, die immer stärker in das Leben der Familie auf dem Gut eindringen. Für Sofja und die gemeinsamen Kinder bleibt kaum noch Zeit, und wenn, verbringen sie diese mit Streit – über den Lebensstil sowie Tolstojs Ansprüche an die Familie angesichts seines sozialen Gewissens.

Diese Streitigkeiten nehmen in der letzten Dekade der Ehe extrem zu, kulminieren schließlich im offenen Konflikt zwischen Tolstaja und den Jüngern des Schriftstellers rund um seinen Sekretär Tschertkow, der Sofja Tolstaja die Rechte an Tolstojs Werken abspenstig machen und das Familienerbe an die Armen Russlands verteilen will (nachzulesen in dem hervorragend verdichteten Perspektivenroman „Tolstojs letztes Jahr“ von Jay Payrini). Der Dichter selbst hält sich aus diesem Konflikt heraus, ergreift keineswegs Partei für seine Frau, die fast 50 Jahre seine Launen und Egoismen ertragen hat. Im Gegenteil, er hintergeht sie sogar und lässt sie bei Tschertkow ins offene Messer laufen.

Am Ende flieht Tolstoj in einer Nacht- und Nebelaktion vor der Frau, die ihm 13 Kinder geboren hat, die Entstehung seiner wichtigsten Werke mit vorangetrieben und sein bankrottes Gut zu einer florierenden Kolchose ausgebaut hat. Er kommt bis Astapowo, wo er am 7. November im ortseigenen Bahnhofshäuschen an einer Lungenentzündung stirbt – Sofja muss vor der Tür warten, darf während seiner letzten Atemzüge nicht bei ihm sein. Schockiert nimmt sie die Nachricht seines Ablebens entgegen: „In mir war alles Leben erstarrt“, kommentierte sie den Moment des Verlusts.

Diese neue Biografie zu Leben und Leid der Sofja Andrejewna Tolstaja ist ein Meilenstein in der Tolstoj-Forschung, denn sie wirft ein völlig neues Licht auf Rolle und Selbstverständnis der Schriftstellergattin – und damit auf den Dichterfürsten Lew Tolstoj und sein Werk. Diese Biografie stellt keineswegs den plumpen Versuch dar, die Tolstaja auf Kosten von Russlands berühmtestem Schriftsteller reinzuwaschen. Ganz im Gegenteil, werden doch auch hier aus verschiedenen Blickwinkeln die Verfehlungen und Schwächen der Dichtergattin ungeschönt aus verschiedenen Perspektiven präsentiert. Damit ermöglichen Keller und Sharandak erstmalig einen umfänglichen und differenzierten Einblick in das (Seelen-)Leben der Sofja Tolstaja, die alle vorstellbaren Höhen und Tiefen durchlebte und diese zum Großteil mit sich allein ausmachen musste. Das Ergebnis ist ein neuer Blick auf das Ehe- und Schriftstellerpaar Lew und Sofja Tolstoj, der nun nicht nur nach einer Überarbeitung aller den Dichter bejubelnden und/oder seine Frau verteufelnden Tolstoj-Biografien verlangt, sondern auch die Hinnahme dessen, dass die Ikone des russischen Dichterfürsten eben nur ein idealisiertes Bild eines nicht selten egozentrischen Schriftstellers Lew Tolstoj ist.

 

Thomas Hummitzsch

 

Ursula Keller, Natalja Sharandak: Sofja Andrejewna Tolstaja. Ein Leben an der Seite Tolstojs. Insel Verlag. Leipzig 2010. 362 S. 12,- Euro. ISBN: 3458353453.

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon