27. März 2011

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Als ich aufwache, scheint die Sonne zum Fenster herein. Eine Schwester macht das Bett neben mir. Gestern habe ich eine Flasche Shampoo getrunken.

Mein Hals tut weh, genauer gesagt, die Speiseröhre, wenn ich schlucke. Ich muss oft schlucken. Und der Speichel schmeckt merkwürdig. Sie haben mir einen Schlauch in den Magen eingeführt.

Die Schwester sieht gut aus in ihrem Kittel. Um etwas zu sagen, erkundige ich mich, wie ich hierher gekommen bin. Die Frage ist überflüssig, schließlich habe ich gestern Nacht selber angerufen. Ein Krankenwagen ist gekommen. Mit Blaulicht. Die Bahre, die die Sanitäter mit in meine Wohnung gebracht hatten, brauchte ich nicht. Ich bin mit ihnen herunter auf die Straße gegangen. Die Fahrt zum Krankenhaus verlief ruhig.

Die Schwester dreht sich um und sagt: „Sie haben eine Dummheit gemacht.“ Das ist Ansichtssache, doch ich habe keine Lust, mich mit ihr zu streiten. Sie schaut mich noch einen Moment an, danach wendet sie sich wieder dem anderen Bett zu, und während sie ein Kissen aufschüttelt, betrachte ich ihr Hinterteil. Mir gefallen Krankenschwestern. Fast immer. Ich habe schon einige gesehen.

Dann hat die Schwester ihre Arbeit beendet. Schon in der Tür sagt sie: “Der Arzt kommt in einer Viertelstunde.“

Keine Ahnung, was gestern wieder los war. Im Fernsehen gab es eine Sendung über Fische. Fische, die in sich in einem Korallenriff gegenseitig fressen. Irgendwann stand ich im Bad und schaute mein Gesicht an, so wie ich vorher die Fische angeschaut hatte. Und plötzlich war da diese Shampooflasche. Na ja.

Die Sonne steht hoch am Himmel. Ob sie mir etwas gegeben haben, damit ich schlafe? Ich stehe auf und stelle mich ans Fenster. Unten hält ein Taxi. Durch das geöffnete Schiebedach sehe ich, wie Geld den Besitzer wechselt. Der Fahrer nimmt einen Schein entgegen. Seine Arme sind nackt. Dort unten muss es ganz schön warm sein. Das wäre mal eine Überraschung, denke ich. Das wäre mal eine Überraschung, wenn jetzt so mir nichts dir nichts jemand durch das Loch im Dach geknallt käme.

Ich drücke den Fenstergriff nach unten. Das Fenster lässt sich tatsächlich öffnen. Ziemlich unvorsichtig, wenn man mich fragt. Unten steigt eine alte Frau aus. Der Fahrer hat die Hand bereits am Schaltknüppel. Ich sollte sofort springen, sonst ist er weg. Sonst lande ich einfach auf dem Pflaster. Oder im Blumenkübel. Hinter mir geht die Tür auf. Ein Mann, sicher mein Arzt, und die Schwester von eben kommen herein. Ich setze mich auf mein Bett. Der Arzt gibt mir die Hand. Ein fester Händedruck. Plötzlich fühle ich mich wie ein Schwachkopf in einem zu kurzen Nachthemd, der gestern Nacht eine Flasche Shampoo hinuntergestürzt hat. Der Geschmack war ungewohnt, sehr ungewohnt.

Der Arzt stellt sich vor. Er heißt Dr. Winkler. Seine Stimme passt zu seinem Händedruck, auch die grauen Schläfenhaare, die sauteure randlose Brille.

Dr. Winkler schaut auf ein Blatt Papier. „Was haben wir denn hier? Shampoo? Sagen Sie mal, Herr ...“

„Winkler“, sage ich.

„Winkler?“ Dr. Winkler stutzt für einen Moment. „Ein Namensvetter? Hier auf meinem Zettel steht etwas anderes.“

„Muss ein Irrtum sein.“

Ich weiß nicht, warum ich andauernd so etwas mache. Es kommt einfach über mich. Außerdem hört sich Winkler besser an als mein Name. Mein Name kotzt mich an.

Der Doktor wirft der Schwester einen wissenden Blick zu. Die Schwester zieht die Augenbrauen hoch.

„Also gut, Herr Winkler, was war denn gestern Abend los? Das Bier ausgegangen? Schlechte Laune gehabt?“

Ich zucke mit den Schultern. Was soll man darauf antworten? Ich hatte keine schlechte Laune. Ich habe mich gelangweilt, aber noch nicht so, dass ich schlechte Laune bekommen hätte. Ich langweile mich immer. Wenn Langeweile bei mir automatisch schlechte Laune produzieren würde, hätte ich mich schon lange umgebracht. Ich meine, dann hätte ich es noch öfter probiert.

„Ich trinke kein Bier.“

„Wirklich nicht? Sollten sie aber. Schmeckt besser als jedes Shampoo. Aber jetzt mal im Ernst, Herr Winkler, was sollte das? Shampoo trinkt man nicht, mit Shampoo wäscht man sich die Haare. Oder haben sie etwa Schuppen im Magen?“

Das soll ernst sein? An diesem Mediziner ist ein 1-A-Komiker verloren gegangen. Einer von diesen Typen, die alles mit Humor erledigen. Guten Tag, Frau XY, ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie. Zuerst die gute? Sie haben Krebs. Einer von der Sorte ist Dr. Winkler. Im Schwesternzimmer weiß man ein Lied davon zu singen. Von seinen Launen, aber auch von seinen Qualitäten bei privaten Begegnungen. Fachlich macht dem Mann sowieso niemand etwas vor. Im ganzen Haus nicht.

„Ich muss“, antworte ich, „gestern wohl etwas verwirrt gewesen sein. Ein Aussetzer. Kann ich mir selber nicht erklären.“

„Hmm“, macht Dr. Winkler und schaut mich prüfend an. Natürlich denkt er sich seinen Teil, doch anscheinend hat er keine Lust, die Schwester und mich an seinen  Erkenntnissen teilhaben zu lassen.

„Aber jetzt geht es uns schon wieder ganz gut, habe ich recht?“

Ich nicke.

Winkler beginnt auch zu nicken, nur langsamer.

„Eigentlich könnten wir Sie heute schon entlassen, aber ich finde, Sie sollten noch einen Tag bei uns bleiben. Erholen Sie sich ein bisschen, genießen Sie unsere exquisite Küche. Sie müssen doch hungrig sein, ich meine, nachdem man Ihnen die letzte Mahlzeit wieder abgepumpt hat.“

Er zwinkert mir zu und deutet auf die Schwester. „Unser weibliches Personal wird Ihnen jeden Wunsch von den Lippen ablesen. Na ja, vielleicht nicht wirklich jeden. So weit ich informiert bin, stehen Haarpflegemittel diese Woche nicht auf dem Speiseplan. Habe ich recht, Schwester Angelika?“

Schwester Angelika lächelt, Dr. Winkler gibt mir die Hand, und schon sind beide zur Tür hinaus.

Ich lege mich wieder hin. Die Sonne strahlt mit aller Kraft durch das Fenster. Draußen fliegt ein Vogel vorbei. Ich werde noch etwas schlafen.

 

 

Christoph Höhtker