23. März 2011

Vierte Dimension

 

»Ich habe 80 Jahre gebraucht, um lesen zu lernen, und kann noch jetzt nicht sagen, dass ich am Ziel wäre.«

 

Es ist eines der beeindruckensten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Das Buch ist unlesbar, gespickt mit Verweisen und verstiegen. Und auch die Hoffnung, in Gesellschaft damit blenden zu können oder mit dem Lesen zu einem Schattenvolk von Lesern (Duchamp-Lesern?) zu gehören, hielt sich in Grenzen. Seit „Keiner weiß mehr“ von Rolf Dieter Brinkmann, James Joyes „Ulysses“, H. Henny Jahnns „ Fluss ohne Ufer“, „Faust“ I und II und dem Alten Testament hatte ich mir vorgenommen, keine Durchhalteliteratur mehr zu lesen – das war mit Mitte 20. Mitte 30, als ich „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ anfing, galt der Vorsatz immer noch, und ich begleitete Proust die folgenden 8 Monate. Nun gibt es Bücher, die sind wie Fußballspiele, die 90 Minuten langweilen, um durch ein Tor in der Verlängerung zu einem reichhaltigen Erlebnis zu werden. Das nenne ich die Güte der Erzählung, dass man erst am Ende weiß, wofür der Anfang gut war. Von einer Habilitationsschrift aber erwartete wohl keiner eine solche Güte. Hier sollte man zuallererst wissen, wozu diese gut ist. Also legte ich Ursula Panhans-Bühlers „Gegeben sei: die Gabe – Duchamps Flaschentrockner in der vierten Dimension“, Fundus Verlag. Nr. 176, weg. So wie ich zuvor Jean- Francois Lyotard, „Die TRANSformatoren“, Duchamp, „Edition Patricia Schwarz“, schon vor Jahren aus der Hand gelegt habe.

Manche Künstler erledigt man mit einem Satz, glaubt man sich selbst. Duchamp war für mich der Schachspieler. Ein Typ Mann, der versucht, alles mit einem einzigen strategischen (Werk-)Zug zu beherrschen. Dieser Zug war für mich seine Erfindung des ready made. Das Wunder, wie er es geschafft hat, dies im sozialen Raum zu verankern, sein Geheimnis. Ursula Panhans-Bühler belehrte mich eines Besseren.

Und das kam so. Für den Comic „Im Museum, Archive des Zerfalls“, von Sascha Hommer und Jan-Frederik Bandel, Reprodukt Verlag, schrieb sie das Nachwort. Es ist schon erstaunlich, wie viel Selbstbegeisterung dazu gehört, die Geschichte des Lesens zu erzählen. „Im Museum“ erzählt Geschichten der Xenologie, oft sind es die der eigenen Fremdheit in der heimischen Kultur. Das Museum ist hier der Ort der verlängerten Halbwertszeit, denn natürlicherweise ist der Zerfall alles das, was die Welt ist. So retten die Hauptprotagonisten, das Geschwisterpaar Gustav und Niffi, Malewitschs „Schwarzes Quadrat“, eine Ikone der Moderne, kurzfristig vor dem Nichts. Später bleibt ihnen nur noch die Fotografie der Ikone, die anschließend für immer verblasst. Hier könnte Ursula Panhans-Bühlers (ab jetzt UPB.) Verweis auf Duchamps Fotografien, ja, auf Fotografie im Allgemeinen als ready made anschließen, aber ich will der Geschichte nicht vorgreifen. So ein Nachwort, wie das von UPB bekommt man vielleicht nur einmal im Leben. UPB klärt mithilfe von Verweis- und Zitaten in so ergreifend hell- und weitsichtiger, fantasiebegabter und lustvoller Weise auf, dass man sich vom Text gern verführen lässt. Der Text führt aber auch noch einmal durch den Comic, indem er die Typo- und Morphologie der Figuren wiederholend interpretiert. So kann man den Text anhand der Bilder überprüfen. Was für eine Frau, dachte ich – verbat mir den sexistischen Ausruf als irreführend. Doch drückt er in seiner Falschheit wie kein anderer meine Ergriffenheit aus. Und diese Ergriffenheit sprang über.

„Die Welt wird alles, was gestern war – eine harmlos daherkommende Formel, die in voyeuristischen Projektionen jedoch nach einer fatalen Einlösung im ‚Ereignis‘ lechzt.“ Ist nur ein Satz, der weit über den Comic hinausschießt und den Geist unserer Zeit trifft.

 

Diese Selbstbegeisterung war mein Anfangskapital für den Einstieg in UPBs Habilitationsschrift. Und das Kapital vermehrte sich. Im Fahrwasser der Begeisterung begann meine Geschichte des Miss- und Verstehens. Als Duchamps auf dem dreibeinigen Hocker rotierendes Rad noch als vierdimensionales Modell beschrieben wurde, glaubte ich, etwas verstanden zu haben. Als die vierte Dimension aber nicht als Zeit deklarierte wurde, musste ich von vorn zu lesen beginnen. Denn die vierte Dimension war bei ihr das „haptische Auge“. Dieses aber ist kein technischer Begriff, sondern eine Idee von Paradies oder dem Schwimmen im Muttermeer. Von dem es nur ein kleiner Schritt zu Michel Houellebecqs Idee von der gleichmäßig über den ganzen Körper verteilten Meissnerschen Tastkörperchen ist. Es ist die Idee, dass die Dinge, wie beim Ertasten eines Gegenstandes, auch von der dem Blick abgewandten Seite gesehen werden können, vereinfacht gesagt. So wie sie vor unserem geistigen Auge erscheinen – ganz einheitlich. Dabei ist die erste Dimension der Punkt, aus dem sich die Linie ergibt, die Fläche als zweite und der Raum als dritte Dimension ergeben. Problem: Der Punkt hat mathematisch verstanden keine Ausdehnung, er ist ein geistiges Konstrukt. Das Wunder: Trotzdem lassen sich, beruhend auf dieser Konstruktion z. B. Gebäude bauen. Das gilt ebenso für die Zahl Null, die auch nur ein Konstrukt ist. UPB beschreibt anhand von Duchamps Modellen diese Konstruktionen von Wirklichkeit als Modelle von Wirklichkeit. Wirklichkeit als Dispositive, auf die wir uns geeinigt haben und mit dem sich gut leben lässt. Von hier aus geht es zu den Wertigkeiten. So wie der Geldschein nicht der Wert seines Aussehens ist, so ist das ready made nicht der Wert seiner Erscheinung. Wäre Geld ein allgemeiner, sagen wir oberflächlicher Wert, würden wir mit einen zerknitterten Menschen, hier kommen die Metamorphosen ins Spiel, genauso bezahlen können wie mit einem fabrikneuen Schein. Wir betrachten aber den zerknitterten, also alten Menschen nicht eben so oberflächlich wie einen zerknitterten Geldschein. Die Frage ist, wie sich Wertekonstruktionen konstituieren. So heißt es doch auch, dass alle Dinge verzauberte Menschen sind. In diesem märchenhaften Zusammenhang der Metamorphosen schwingt Karl Marx und seine Betrachtung der Verwandlung von Arbeitskraft in Geld in Kapital mit. Heißt: Ovids Metamorphosen und Marx’ Kapital sind parallel zu lesen. UPBs Habilitationsschrift war in Bezug zu diesen Gedankenketten ein echter Link, ein fehlendes Stück, zwischen bildender Kunst, Politik, Philosophie und Literatur. Das Lesen dieser Schrift provozierte ein erhabenes Gefühl, als wären die inneren Proportionen plötzlichen ins rechte Maß gerückt. Neben der Beschreibung Duchamp’scher Dimensionsmodelle beschreibt UPB deren Übergänge, Schnitte, Scharniere, Spiegelungen und seine Sprachspiele und schafft Bezüge zu dessen Biografie.

Die Erregung, etwas verstanden zu haben und sei es nur in Form einer Nacherzählung, sprang auf Lyotards „Die TRANSformatoren“ über. Es gibt wenige Texte über Künstler und ihre Werke, die ich als endgültig bezeichne. Dazu gehört Roland Barthes Text über Cy Twombly, John Bergers über Pablo Picasso und eben Lyotards über Duchamp. Für Lyotard ist Duchamp ein moderner Sophist, und das sollte erst einmal genügen, ihn mit einem Satz zu erledigen. Tatsächlich aber unternehmen beide, UPB und Lyotard, den Versuch, einer Person und seinen Modellen nahe zu kommen. Dabei verweist UPB stärker als Lyotard auf Duchamps Biografie. Wozu auch dessen Sexualität gehört, mit der Duchamp selbst bekanntlich gespielt hat. Auch hier geht es wieder um Metamorphosen, also Verwandlungen und deren Übergänge. Die irgendwo zwischen Daniel Paul Schrebers „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ und Kafkas „Verwandlung“ angesiedelt werden können. Und damit sind wir wieder beim Comic, und Canettis: Immer wenn man ein Tier genau betrachtet, hat man das Gefühl, ein Mensch sitzt drin und macht sich über einen lustig. Denn wie könnten wir uns denn sonst mit den Tier-Comic-Fabelwesen identifizieren usw. Noch allgemeiner widerspricht die Idee, dass alle Dinge verzauberte Menschen sind, der kapitalistischen Idee, dass alles nur einen Wert hat. Aber das ist ein anderes Kapitel. Ebenso wie die von UPB hochgeschätzten Arbeiten von Marcel Broodthaers. Und so soll der Text mit der Lust an der Aufklärung enden, denn: „Das Jetzt bildet das Scharnier zwischen noch nicht und schon nicht mehr. Das gilt ebenso für jedes erotische, künstlerische oder politische Ereignis. Und es gibt keinen Grund zur Mystik.“

 

1 Johann Wolfgang Goethe, Briefe und Gespräche, Beutler, Zürich

2 Jean -Francoice Lyotrad, TRANSformatoren Duchamp, Edition Patrica Schwarz

 

Christoph Bannat

 

Anlass: Ursula Panhans-Bühler arbeitet jetzt mit dem Hamburger Ausstellungsraum Frise zusammen. FRISE-Programm 2011 in Zusammenarbeit mit Ursula Panhans-Bühler:

RAPID RABBIT – Beschleunigte Bildwelten.

 

Frise

Arnoldstraße 26

22765 Hamburg

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