2. Dezember 2003

Verwirrende Lektüre im Oberstübchen

In gewisser Weise war die postmoderne Literatur der 80er Jahre eine konsequente Weiterentwicklung der Literatur der Neuen Subjektivität oder Neuen Innerlichkeit. Beide waren auf den Bauchnabel fixiert, nur war es im einen Fall der körperliche, im anderen der des Textes. Sie sind beide ziemlich aus der Mode gekommen. Was nicht am Bauchnabel liegt, wohl aber an der Art und Weise des Umgangs mit ihm. Keine Korkenzieher-Verbohrtheiten, keine Spiegelfechtereien mehr. Die Literatur ist transparent geworden und steht sich nicht mehr selbst im Weg.

Und dann gibt es doch immer wieder diese Stolpersteine. „Revolution und Heimarbeit“ ist einer von diesen. Ist das überhaupt ein Roman oder nicht viel mehr ein Essay über Gott und die Welt, wobei Gott eine kuriose Wiederauferstehung erlebt und die Welt eher abhanden gekommen ist? Was hält dieses Buch zusammen? Ist es der Plot (nö), der Erzähler (der erscheint nur in der indirekten Rede, allerdings in sehr direkter Auseinandersetzung mit sich selbst, was ihn ein bisschen alt aussehen lässt, alt wie die Postmoderne), ist es die Auflösung (das wär’s vielleicht, aber die Auflösung als Lösung löst sich auf in der Auflösung als Zerfall)… Das Schönste an diesem Buch ist der Einband, und nur der hält den Roman zusammen. Ein kleines Fest der Primärfarben. Im Inneren geht es eher um das Scheitern eines Projekts. Das wird weniger erzählt, als dass es jedem einzelnen Leser wieder vorgeführt wird. Der Leser ist der Dumme, weil er nicht aufgepasst hat. Und genau diese voreingestellte Konstruktion des Lesers macht dem jeweiligen Leser ein bisschen Schwierigkeiten. Denn die Enthüllungen des letzten Kapitels, die sich keiner vorausgegangenen Analyse verdanken, gleichen eher den Entzerrungen der Anamorphose, die von einem privilegierten Blickpunkt aus zu sehen geben, über das man bis dahin nur den Kopf schütteln konnte.

Aber auch das scheint nur so, denn der Leser hat es eben nicht mit dem Geständnis eines habhaft zu machenden Erzählers zu tun, sondern von vorne bis hinten mit Masken, die auf verschiedenen Plateaus angebracht sind, auf denen man immer nur hin und her gehen kann. Immer mal wieder deutet sich ein zentrales Arrangement an oder vielleicht ein Spektrum, aber die verschiedenen Kapitel des Buchs, die von den Interventionen des indirekten Erzählers von einander abgesetzt sind, gleichen eher Parallelgeschichten mit jeweils wechselndem Erzähler, Ton, Bezug, und fast könnte man diesen Roman als Erzählband beschreiben, wenn die Erzählungen einen Anfang und ein Ende hätten, aber so liest der Leser diese Geschichten eben erst mal nicht als Parallelgeschichten, sondern als erzählerische Beiträge einer sich am Ende vielleicht doch noch komplettierenden Geschichte.

Frank Witzel fordert seinem Leser einiges ab an Geduld, vor allem aber an Vorwissen, denn das Entscheidende des Buchs ist nicht die Handlung, sondern das Spiel mit allen möglichen Ordnungen – des Erzählens, des Sprechens, der Übertragung –, und vielleicht ist nicht das Schlechteste, was man über dieses Buch sagen kann, dass es wunderbare Passagen gibt, einzelne Stellen, die auch so für sich stehen können, wie zum Beispiel Betrachtungen über den Zusammenhang von Revolutionspraxis und Comics, über die kürzlich gestorbene Leni Riefenstahl, über Faschismus und Kapital oder über die etwas enervierende Omnipräsenz gewisser Synchronsprecher, die auch im wirklichen Leben so aussehen wie ihr Original. Ein sehr seltsames Buch, der sich vielleicht einstellende Lesegewinn wird sich vermutlich nicht kapitalisieren lassen.

 

Dieter Wenk

 

Frank Witzel, Revolution und Heimarbeit. Roman, Hamburg 2003) Nautilus, 255 Seiten