21. Februar 2011

Wo Bielefeld immer noch erste Liga ist

 

Wenn wir der Meinung sind, ein Buch sei konstruiert, dann geben wir damit zu verstehen, dass es uns vermutlich nicht gefallen hat und dass sein Bauplan, seine Machart zu stark im Vordergrund stehen; implizit behaupten wir damit, dass es Bücher gibt, sogar in der Mehrzahl, die eben nicht konstruiert sind. Macht man sich diese letzte Behauptung explizit, erkennt man, dass man zwei verschiedene Begriffe von Konstruktion gebraucht, denn natürlich sind auch die nicht-konstruierten Bücher irgendwie gemacht, nur dass uns das eben nicht mehr auffällt, weil wir schon lange daran gewöhnt sind.

 

Ein prominentes, zugleich ziemlich verheerendes Beispiel für diese Vermengung ist der Terminus der Geschlechterkonstruktion, der so etwas Basteliges mit sich führt und suggeriert, dass man durch Umlegen eines Hebels mal schnell die Seite wechseln könne. Hinterhältig ist in jedem Fall, dass der Begriff der Konstruktion, wie verdeckt auch immer, sein Gegenteil mit sich führt. Das hat auch Niklas Luhmann im Laufe der Jahre immer wieder zu spüren bekommen, dass es da einen blinden Fleck gibt, aus dem die Leute herausschauen und nicht sehen, was Luhmann sieht.

 

Wenn zum Beispiel eine Fernsehkamera für einen Tagesschaubericht einen Hochhausturm aufnimmt, dann würde Luhmann nicht behaupten, dass aufgrund der massenmedialen Übermittlung (die er als Konstruktion versteht) man nicht sicher sein könne, ob es sich in der Wirklichkeit nicht viel eher um zwei Türme gedreht habe. Das ist nach Luhmann geschenkt, was Manipulationen freilich nicht ausschließt. Die Kamera konstruiert also nicht einen Turm, wo „eigentlich“ zwei stehen (was ja auch gar nicht der Fall ist), sondern sie gibt dem Turm einen Zeit in Anspruch nehmenden Sendeplatz, der für anderes nicht mehr zur Verfügung steht. Wenn also Konstruktion Sand in die Augen streut, dann weniger durch Verfälschung (dieser eine Turm ist tatsächlich ein Turm, was die meisten Fernsehzuschauer allerdings nicht nachprüfen können; beim Nachweis einer Täuschung sind sie auf andere Kameras angewiesen, bei denen natürlich auch wieder gefragt werden kann, ob nicht auch sie… usw.) als durch Selektion, Fokussierung, Auslassen. Anders gesagt: Man kann sich die Welt nicht in einem Augenblick vor die Birne knallen lassen. Man wäre ja auch selbst Teil dieses Knalls.

 

Dieses kleine Buch, drei „letzte Gespräche mit Niklas Luhmann“ und eines über ihn, ist eine ausgezeichnete Einführung für Leser, die weder Systemtheorie noch Luhmann kennen. Aber auch Luhmann-Kenner werden hier möglicherweise noch etwas über den 1998 verstorbenen Soziologen erfahren, was sie bislang in seinen Büchern nicht lesen konnten, weil biografische Intimität seine Sache nicht war. Natürlich vermag auch Wolfgang Hagen nicht, die bislang vielleicht ja nur verborgene Talk-Show-Natur des Mannes aus Bielefeld herauszukitzeln, aber immerhin erfährt der Leser, dass es einen biografischen Zusammenhang gab zwischen der Kriegs- und Nachkriegszeit und Luhmanns Entscheidung, Jura zu studieren als einer „Möglichkeit, Ordnung zu schaffen in dem Chaos, in dem man lebte, und diese vielen Verstöße gegen an sich geltendes Recht in der Gefangenschaft“.

 

Aber auch das, was man Luhmanns Unterkühltheit nennen könnte, ließe sich auf frühe Erfahrungen zurückführen. In dem sehr schönen Gespräch mit Alexander Kluge heißt es gleich zu Beginn: „Wenn man sieht, wie jemand, der neben einem läuft, eine Granate ins Gesicht bekommt, und wie er vorher und wie er nachher aussieht, da hat man dann das Gefühl: Worüber jammern die Leute heute eigentlich…“ Das ist ja überhaupt das Verrückte an Niklas Luhmann, dem man immer vorgeworfen hat, vor lauter Theorie die Realität aus dem Blick verloren zu haben, dass er vor dieser Realität, allen voran den Leuten mit ihren je eigenen Erfahrungen, viel zu großen Respekt hatte, als darüber bloß extrapolierbare Meinungen zu verbreiten. Denn das Individuum ist letztlich ganz alleine mit sich, mit seinen unübertragbaren Gefühlen, Empfindungen, die es buchstäblich nicht aus sich herauslassen kann. Konstruktion ist Schicksal. Und warum hatte Herr Luhmann keinen Fernseher? Letzte seiner Paradoxien – er war ihm schlicht zu altmodisch.

 

Dieser Band, der zuerst 2004 (zweite Auflage 2005) erschienen ist, ist nun als Band 8 der Kadmos-Reihe „Ableger“ zum kleinen Preis von 10 € erhältlich.

 

Dieter Wenk

 

Wolfgang Hagen (Hg.), Warum haben Sie keinen Fernseher, Herr Luhmann? Letzte Gespräche mit Niklas Luhmann (Dirk Baecker, Norbert Bolz, Wolfgang Hagen, Alexander Kluge), Berlin 2011 (Kadmos)