29. November 2003

Der Mensch in der Bestie

 

Episodenfilme bringen nicht unbedingt verschiedene Perspektiven ins Spiel, man zeigt zum Beispiel Taxifahren in verschiedenen Ländern und Städten. Das ist nicht mehr so ganz moderner Kubismus. Als Betrachter bleibt man meist unbelästigt. Jeder Abenteuerfilm ist da adrenalinbelastender. Weil eine Schranke überwunden wird, ganz automatisch, ganz einfach dadurch, dass man zuschaut. Plötzlich ist man selbst der Verfolgte, im Dschungel oder in der Stadt. Gerade noch hat man so schön von außen oder von dem, was man dafür hielt, auf die Stadt oder auf die Insel schauen können, und mit einem Schlag läuft man schon selber, weil es da etwas gibt, was der Protagonist nicht kennt und vor dem er Angst hat. Mit etwas zurückgewonnener Distanz merkt, man, dass man gerade Sehen gesehen hat, man sah mit den Augen des Verfolgers oder des Tieres, und mittels dieser schließlich doch noch glimpflichen Belastungsstruktur des Zuschauers kann man sich weiterhangeln zu der Erkenntnis, dass auch der frühere, scheinbar kontemplative Blick ein bereits vorbereiterer war, ein geleiteter, einer, der plötzlich gar nicht mehr so streng von eben der Schranke getrennt ist, von der eben noch die Rede war. Man hat es also nicht nur mit einem bestimmten Film zu tun, sondern auch mit einem Genre, das man kennt, weiterhin mit einer Beschäftigungspolitik, deren Objekt man selbst als Betrachter dieses Films ist, auch wenn vielleicht gerade der Film, den man sieht, so tut, als ob man tatsächlich auf einer Art neutralem Betrachtungsfeld sich befindet, das einem bestimmte Schlussfolgerungen zu treffen erlaubt. Das landet dann etwa als Botschaft des Films im Kopf des Betrachters, vorausgesetzt, der Film ist noch nicht so furchtbar alt und kann mit noch gängigen Interpretationsschemata konkurrieren. Oder es macht Spaß, ihn zu zerpflücken, indem man nachweist, dass der Film mehrere gegenläufige Bilder zum Beispiel von Mensch und Tier ins Spiel bringt, die nicht auf ein und derselben Ebene liegen.

Die Botschaft hier ist: mehr Respekt gegenüber Mensch und Tier, und das wird versucht über eine glasklare Trennung von Mensch und Tier im Sinne von Vernunft und Instinkt, die der Film selbst nicht aufrechterhalten kann. Er zeigt das Tier vermenschlicht, den Menschen als Bestie und er inszeniert eine vom Menschen geschaffene Zwischenzone, in der alles möglich ist, sowohl die Beachtung des menschlichen Gesetzes als auch der Rückfall in das rein Tierische. Aber genau das ist ja schon die Situation des Menschen selbst, der keine biologisch mutierte Zwischenzone benötigt, um diese doppelte Orientierung vorzuzeigen. Zwecks Moralisierung geht es darum, von der mittleren Zone aus den Anspruch des Menschen als Gesetzesbefolger als ebenso prekär vorzustellen wie es die Situation der Höhlenbewohner ist mit ihrem Anführer, der immer mal wieder das Gedächtnis trainieren muss, um die Instinkte in die Grenzen zu verweisen. Und wenn schon die mittlere Zone als Gewissensanrufer auftreten kann gegenüber dem Menschen, der sich als Legislator aufspielt, dann muss er anfangen, vor seinem eigenen Haus zu kehren. Er selbst hat also getötet, jetzt ist der Bann gebrochen, die Bestie ist animiert, sie dringt in die Zivilisation ein, in das Haus, wo aber auch die ursprüngliche Bestie als Löwe und Tiger haust, und dieses Loslassen und Befreien geht voll nach hinten los, die Bestien schlagen die Semiebestien, und ein Glück und eine Drehbuchvorschrift ist es, dass die Gutmenschen innerhalb der Menschen, die auch noch Mensch bleiben, während sie schon längst Tier sein sollten und anstelle von Gedächtnisvorführungen nur noch den Rachen aufsperren müssten, um die jetzt ihresgleichen in Form von Ratten zu fressen, diese also doch noch Mensch gebliebenen, weil sie die Liebe haben und geben können, retten sich durch den Dschungel ohne Fehl und bestehen auch noch den finalen Spannungstest, bevor dann am Ende auch noch das rettende größere Schiff auftaucht, die Zivilisation, der Fortschritt, von dem man natürlich jetzt immer noch nicht so richtig weiß, wo er anfängt und wo er aufhört. Der Mensch ist halt immer auch in der Klasse seiner eigenen Versuchsreihen, und das nicht erst seit der Genforschung. Und wer das prinzipiell böse findet wie der Erfinder der Erbsünde, der darf noch nicht mal den ersten Stein werfen. Werfen darf nur der relative Bösewicht, und das sind heute mehr oder weniger alle.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Ben Johnson, Die Insel des Dr. Moreau, USA 1976</typohead>