24. Januar 2011

Gefangen in einem andauernden Jetzt

 

Das Festival des Thalia-Thaters, die Lessingtage, sind eröffnet.

 

Die in den letzten neun Monaten umgebaute und modernisierte Studiobühne in der Gaußstraße startet mit „Falling Man“, nach dem Roman von Don DeLillo über den Schockzustand Amerikas nach 9/11.

Der Titel evoziert bereits die Bilder, der an der Fassade der Bürotürme hinabstürzenden Menschen. Wie dramatisiert man nun also einen 300-Seiten-Roman für einen zweistündigen Theaterabend, und noch komplizierter, wie verwandelt man Bilder des kollektiven Gedächtnis in Szenen. So fragen sich auch die Schauspieler unter der Regie von Sandra Strunz zu Anfang des Stücks, wie das jetzt wohl aussähe, wenn es ein Film wäre, und sie sind sich sicher, man würde da schön mit Close-ups und bedeutungsvollen Schwenks arbeiten, mit dem ganzen Arsenal der filmischen Ablenkungsmanöver eben, aber jetzt auf der Bühne, gibt es da ein Äquivalent zum Close-up?

Dankenswerterweise verzichtet das Bühnenbild ganz auf naheliegende Codes, etwa die Streifen der Bürotürme, das Gerippe nach dem Einsturz oder was an abgedroschener Betroffenheitsdebilität noch möglich wäre, lediglich das Dach der Bühne, es bildet einen spitzen Winkel, der sich zum Publikum öffnet, mit sechs Ein- und Ausstiegen, Luken oder Fenstern, durch welche die Schauspieler hin- und herklettern, erinnert von fern an eine stürzende Häuserfront, die in der nächsten Sekunde alle auf der Bühne erschlagen wird. Als da wären, der Überlebende von 9/11, Keith, seine Ex-Frau, deren Mutter, ihr Liebhaber, die Affäre von Keith und vor allem Rumsey – er hat nicht überlebt und geistert nun umso beharrlicher im Leben von Keith herum, der seinen Freund sterbend im Büro zurücklassen musste, um staubbedeckt mit einer fremden Aktentasche unterm Arm durchs Treppenhaus ins Freie zu flüchten. Der Tote, Rumsey, so ein Kumpel-Typ, sehr gut gespielt von Daniel Lommatzsch, in dieser locker federnden Laufschuh- Sportsfreund-Blödigkeit, wie man sie in ihrer reinsten Form nur durch die Kombination von Gerätetraining und Bürojob herstellen kann, dieser Rumsey stört. Er irritiert Keith, der nicht vergessen kann, weil er sich nicht präzise erinnert, was er vergessen will, der sich wie alle anderen Personen des Stücks in jenem Geisteszustand befindet, den Naomi Klein in ihrem Buch „The Shock Doctrine“ beschreibt. Klein zufolge kann man einer Bevölkerung unter Schock die ungeheuerlichsten Beschlüsse vorlegen, ohne irgendeine Reaktion oder gar Gegenwehr erwarten zu müssen, denn mit ihnen ist nicht zu rechnen, sie sind verwirrt, verängstigt und hilfsbedürftig mit deutlichem Drall in den Irrsinn, ideale Voraussetzung um so etwas wie den Krieg gegen den Terror zu proklamieren. Die Traumatisierten im Stück spielen Poker, um sich vor einer totalen Vergesslichkeit, einem Identitätsverlust wie bei Alzheimer zu schützen, denn angeblich gibt es einen Zusammenhang zwischen Kartenspielen und der Konservierung kognitiver Fähigkeiten, aber sie müssen auch vergessen, um überhaupt weiterleben zu können. Sie ringen mit ihren Erinnerungen. Wem gehört die Deutungshoheit über ihre Erlebnisse, wer etabliert eine geeignete Sprache und wessen Geschichte wird damit erzählt. Der Liebhaber der Mutter, ehemaliges Mitglied einer terroristischen Vereinigung im Deutschland der 60er Jahre und damit Profi in Sachen gesellschaftlicher Hysterie versus privater Erinnerung, kann nicht helfen. Seine skeptischen Kommentare und historischen Relativierungsversuche bringen die Amerikaner nur gegen ihn auf. Sie sind gefangen in einem andauernden Jetzt, vergleichbar mit dem Falling Man, der in unseren Erinnerungen immer fällt und niemals am Boden aufschlägt, denn davon gibt es kein Bild.

 

Nora Sdun

 

Falling Man, Thalia in der Gaußstraße, Gaußstraße 190, 22765 Hamburg

 

www.thalia-theater.de/programm/repertoire/detailansicht/stueck/falling-man/